Anrede,
„Et rüsch noh Kristallnaach“ sang die Kölner Rockgruppe BAP 1982 in einem engagierten Lied gegen Rechts. Ein auffälliger Anstieg rechter Gewalttaten und das Auftauchen neuer rechter Gruppierungen sorgte damals, Anfang der 80-er Jahre, für eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtradikalismus. Zu einer Zeit also, als es noch nicht möglich war, rechtsextreme und ausländerfeindliche Umtriebe als rein ostdeutsches Phänomen darzustellen und so zu tun, als seien in der alten Bundesrepublik derartige Vorfälle unbekannt.
Das Lied traf den Nerv der Zeit. Es wirkte wie eine Warnung und rüttelte mehr Menschen auf, als es jeder gutgemeinte Appell vermocht hätte. Die so überaus populären, weil glaubwürdigen Interpreten bemühten keine schiefen Geschichtsvergleiche, sondern prangerten scharfsichtig die damals als alarmierend empfundene Situation an.
Heute, 21 Jahre später, ist der berühmte BAP-Song längst ein Oldie. Die besorgniserregende Situationsbeschreibung von damals hat jedoch leider nichts an Aktualität eingebüßt. Ein Blick in den Bericht des Verfassungsschutzes oder auf die aktuellen Angaben der Innenbehörden der Länder zeigt, dass sich die Zahl der rechtsradikalen Straftaten nicht verringert, sondern nochmals erhöht hat. Im Vergleich zu den 80-er Jahren hat nicht zuletzt auch das Internet dazu beigetragen, die rechte Szene noch besser zu vernetzen und so die Verbreitung radikaler Parolen zu erleichtern.
„Et rüsch noh Kristallnaach“ – die Textzeile kam mir spontan in den Sinn, als ich an die Attentatspläne dachte, die diese Grundsteinlegung in einem anderen, düsteren Licht erscheinen lassen. Das für heute geplante Attentat konnte dank des entschlossenen Einsatzes der Sicherheitsbehörden vereitelt werden. Und doch tragen die Hintermänner des schändlichen Vorhabens einen Sieg davon: Viele Bürger dieses Landes, auch Nicht-Juden, wurden in Angst versetzt. Die Furcht, ein vergleichbarer Anschlag könnte gelingen, sorgt seitdem für Verunsicherung. Das allein ist schlimm. Hinzu kommt, dass auf dieses für die Stadt München und die hiesige jüdische Gemeinde so erfreuliche Ereignis, den bevorstehenden Baubeginn für das Jüdische Zentrum Jakobsplatz, ein Schatten gefallen ist. Der lange Schatten der Vergangenheit, der uns alle und unser Land immer wieder einholt und wohl nie ganz weichen wird.
„Et rüsch noh Kristallnaach“ – was das nicht nur im übertragenen Sinne heißt, wissen heute nur noch ganz wenige Menschen: Der Brandgeruch von in Flammen stehenden Häusern, das Geräusch klirrender Fensterscheiben, hasserfüllte Pöbeleien, verzweifelte Schreie misshandelter Juden
– diese Sinneseindrücke sind all jenen Deutschen ins Gedächtnis eingemeißelt, die am 9. November 1938 auf brutale Weise und vom Staat gesteuert damit konfrontiert wurden, wegen ihrer Religionszugehörigkeit in ihrer Heimat nicht mehr erwünscht zu sein. Nach Jahren der Demütigung und Diskriminierung folgte auf das Pogrom die offene Verfolgung, die überging in das systematische, besinnungslose Morden von sechs Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Die Mehrheit der Nachbarn und Bürger, die durch den Zufall der Geburt damals nicht betroffen waren, versuchte nach Kriegsende den Geruch der Pogromnacht so gut es ging zu verdrängen.
Anrede,
das geplante Attentat in München wird von Teilen der Sicherheitsbehörden als singuläres Ereignis bewertet. Ein braunes Terrornetzwerk scheint nicht oder noch nicht zu existieren, so der Bundesminister des Innern. Eine Einschätzung, der wir alle gerne Glauben schenken möchten. Aus meiner Sicht stellt der Attentatsplan zwar zweifellos eine neue Qualität rechtsextremer Gewalt dar, doch darf dieses Ereignis nicht den Blick verstellen auf die sich fast täglich ereignenden rechtsextremen Straftaten. Ob die Schändung jüdischer Friedhöfe, tätliche Angriffe auf Ausländer, Diskriminierung von Homosexuellen oder die Verbreitung rechtsradikaler Schriften und Symbole auf deutschen Schulhöfen – Vorfälle dieser Art sind so alltäglich geworden, dass sie häufig nicht einmal mehr von den Zeitungen vermeldet werden. Diese Gleichgültigkeit erleichtert es rechtsextremen, antisemitischen Brandstiftern wie dem Bundestagsabgeordneten Hohmann, ihre Überzeugungen zu verbreiten. Umso wichtiger war es, dass die dreisten Äußerungen dieses Unbelehrbaren umgehend und einhellig von Vertretern aller Parteien aufs Schärfste verurteilt wurden. Nicht nur für die Angehörigen von Minderheiten ist die Tatsache unerträglich, dass im Deutschen Bundestag jemand Sitz und Stimme hat, der rechtsextremes Gedankengut verbreitet.
Gleichermaßen besorgniserregend ist eine andere Beobachtung: So richtig es ist, bei der wissenschaftlich betriebenen Ursachenforschung in Sachen Rechtsradikalismus die Herkunft und das Umfeld der Täter mit zu berücksichtigen, so auffällig ist es, dass diese Analysen von Teilen der Öffentlichkeit vielfach zu den Ursachen und damit Rechtfertigung rechter Gewalttaten umformuliert werden. Die eigene Unzufriedenheit über die schwierige wirtschaftliche Situation macht sich Luft, indem rassistisch oder antisemitisch motivierte Verbrechen zu Verzweiflungstaten umgedeutet werden. Rechte Gewalt gilt in solchen Kreisen fast schon als Kavaliersdelikt: Vielleicht etwas zu brutal, aber doch irgendwie nachvollziehbar und ein Stück weit berechtigt. Völlig übersehen und verdrängt wird, dass die Täterinnen und Täter keinerlei solidarisches oder gar soziales Empfinden antreibt. Im Gegenteil: Behinderte, Obdachlose und Benachteiligte werden ebenso angegriffen wie Ausländer oder Juden. Wir alle müssen uns fragen lassen: In welchem Zustand befindet sich unsere Gesellschaft, wenn soziale Not und vermeintliche Perspektivlosigkeit fast unwidersprochen als Rechtfertigung für Rassismus und Gewalt gegen Minderheiten akzeptiert wird?
Rechtsextremismus, das zeigen diese Beispiele, darf nicht auf ein Jugendphänomen reduziert werden. Kein Alter ist vor rechtem Denken gefeit. Welchen Alters sind schließlich die Vorbilder, die es zulassen, dass die eigenen Kinder glatzköpfig und braunen Schwachsinn pöbelnd herumziehen und ganze Ortschaften in Angst und Schrecken versetzen? Was werden diese Kinder an ihre Kinder weitergeben? Nur wenn es gelingt, diese unheilvolle Kette zu durchbrechen, werden wir dem rechten Ungeist Herr werden können.
Damit solche Durchbrüche gelingen können, braucht es professionelle, kontinuierliche Zuwendung und finanzielle Unterstützung für Jugendarbeit, Bildung und junge Familien, wie auch Alleinerziehende. Es mangelt hierzulande bekanntlich nicht an fähigen Erziehern, Pädagogen und Sozialarbeitern, die im Bereich der Extremismusbekämpfung viel lobenswerte Arbeit leisten. Ebenso wenig fehlen Ideen für weitere Initiativen und Projekte gegen Rechts. Was fehlt, sind praktische Koordination und Geld. Die von der Bundesregierung im Jahr 2001 aufgelegten Programme gegen Rechts sind bedroht, wenn die Länder sich nicht doch noch zur Kofinanzierung bereit erklären. Die Auswirkungen von finanziellen Kürzungen wären für die mühsam aufgebaute Projektlandschaft fatal. Allen Entscheidungsträgern, die sich mit der Bewilligung der dringend nötigen Mittel schwer tun, sei eine Reise nach Hoyerswerda empfohlen. Was sich dort seit den schrecklichen rassistischen Übergriffen 1991 mit Hilfe engagierter Sozialarbeit entwickelt hat, ist vorbildhaft.
Anrede,
in vielen deutschen Städten sind jüdische Gemeinden dank der Zuwanderung aus Osteuropa zu neuem Leben erblüht. Ob in Dresden, Rostock, Chemnitz, Krefeld, Düsseldorf oder Wuppertal, um nur einige Beispiele zu nennen, überall konnten Synagogen oder neue Gemeindezentren eingeweiht werden. In München wird heute der Grundstein gelegt. Diese Neubauten wären an sich nicht nötig gewesen. Eine Restaurierung der wunderbaren alten Bauten hätte genügt. Sie hätten die Städte mit ihrer Schönheit bereichert - wären sie nicht vor 65 Jahren von brutalen, ideologisch verblendeten Horden in Brand gesetzt worden.
65 Jahre - aus der Sicht der Jugend eine Ewigkeit, für uns Ältere lediglich eine große Zeitspanne. Sätze wie „Ich könnte die Situation noch malen“ oder „Mir ist, als wäre es gestern gewesen“ kommen auch über Achtzigjährigen noch leicht über die Lippen. Für andere bedeutet diese großartige Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses eine Qual. Für die Überlebenden des Holocaust wird die leidvolle Vergangenheit bis an ihr Lebensende präsent sein. Wer also über die angeblich so langsamen Fortschritte im deutsch-jüdischen Verhältnis lamentiert, der sollte sich dieses so unterschiedliche Zeitempfinden bewusst machen.
Die Neubauten jüdischer Gemeinden, wie wir sie hoffentlich bald auch in München werden einweihen können, sind für mich deshalb positive und hoffnungsvolle Symbole dieses schrittweisen Annäherungsprozesses, der natürlicherweise seine Zeit braucht. Die Bauten symbolisieren das Erreichte, das Vertrauen der in Deutschland lebenden Juden in die Demokratie und nicht zuletzt das Bewusstsein, angekommen zu sein, sich Zuhause zu fühlen.
Anrede,
der 9. November gilt aus vielerlei Gründen als schicksalhaftes Datum der deutschen Geschichte: 1918 die Entstehung der Weimarer Republik, 1923 hier in München der Hitler-Putsch, 1989 der Fall der Berliner Mauer und natürlich das Pogrom von 1938. Es ist mir ein Anliegen, am heutigen Tag auch auf die Öffnung der Berliner Mauer vor 14 Jahren besonders hinzuweisen. Als Deutscher weiß ich sowohl um das Leid, das diese Grenze verursacht hat, als auch um die Sinnlosigkeit dieser in Stein gegossenen Unmenschlichkeit. Mein Judentum verbindet mich in ganz besonderer Weise mit Israel, wo seit einigen Monaten ebenfalls eine Schutzmauer entsteht und die nicht enden wollende Gewalt die im Sommer schon so greifbar nahe scheinende Chance für einen gerechten Frieden endgültig zu zerstören droht.
Die Beliebigkeit, mit der das Datum des Mauerfalls am 9. November 1989 auf das jüdische bezogen wird, indem man die Sicherungs- und Schutzmaßnahmen in Israel mit der Berliner Mauer schlechterdings gleichsetzt, übersieht jedoch, dass es in Israel um einen lebensexistentiellen Schutz jüdischer Menschen vor einem uferlosen Vernichtungswillen palästinensischer Terroristen geht.
So schließe ich denn nicht nur mit den besten Wünschen für das hier entstehende Jüdische Zentrum Jakobsplatz, sondern zugleich mit der Hoffnung, ja dem dringenden Appell, dass die Erinnerung an den 9. November 1938 die unbedingte Solidarität mit den Existenzrechten jüdischer Menschen in Israel einschließt.
Grundsteinlegung für das Jüdische Zentrum Jakobsplatz in München
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