"Zuwanderung bereichert und weitet den Blick"



Foto: ZR

Vortrag des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, zum Thema „Jüdisches Leben in Deutschland heute“, Katholische Akademie Bayern, München, 28.6.2016

Anrede,

ich freue mich sehr, heute hier in der Katholischen Akademie zu Gast zu sein und danke herzlich für diese Einladung! Sehr gerne werde ich versuchen, Ihnen einen kompakten Überblick über das heutige jüdische Leben in Deutschland zu geben. Ich bin schon jetzt gespannt auf Ihre Fragen – denn selbst in einem so ausführlichen Vortrag wie heute Abend kann ich nicht alle Themen abdecken, die das jüdische Leben betreffen.

Vielleicht mögen Sie sich einmal selbst fragen, welche Bilder Sie im Kopf haben, wenn vom modernen jüdischen Leben in Deutschland die Rede ist. Was wird in den Medien transportiert? Natürlich Fotos prominenter Vertreter wie seit Ende 2014 meine Wenigkeit oder gerade hier in München natürlich von Frau Knobloch.

Und welche Bilder fallen einem dann an? Wenn ich mich das fragen würde, würde ich, ehrlich gesagt, ziemlich schnell an Bilder aus Israel denken. Denn gerade im Fernsehen treffe ich viel häufiger auf Berichte aus Israel als auf Berichte über das hiesige jüdische Leben. Deshalb assoziieren wahrscheinlich gar nicht wenige Bürger in diesem Land beim Thema Judentum das Bild eines ultraorthodoxen Juden mit Schläfenlocken und Gebetsschal.

Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: Die Kenntnisse über das jüdische Leben in Deutschland sind ziemlich gering.

Das meine ich nicht als Vorwurf. Wenn ich ein Foto über modernes muslimisches Leben in Deutschland auswählen müsste, käme ich auch ins Schwitzen. Bei der evangelischen und katholischen Kirche fiele es mir etwas leichter. Aber ich bin schließlich in Würzburg aufgewachsen. Und das kirchliche Leben hat immer auch in mein jüdisches Leben hineingespielt. Und geschadet hat es mir nicht!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

jüdisches Leben heute – wie könnte man es denn treffender bebildern? Vielleicht mit einem Foto von einer Thora, die allerdings mit kyrillischen Buchstaben bedruckt ist, wie Sie es auf diesem Bild sehen.

Erstens entspricht dieses Foto ganz wunderbar dem Klischee vom Volk des Buches. Es gibt viele Klischees über Juden. Dieses lassen wir uns gerne gefallen. Man braucht häufig nur zu erwähnen, man sei jüdisch, schon denken die Menschen, man sei belesen und werde jetzt jüdische Philosophen zitieren.

Das Foto bildet aber auch die Realität ab. Solche mehrsprachigen Ausgaben von Gebetbüchern, die neben Hebräisch auch eine russsische Übersetzung enthalten, finden Sie tatsächlich in unseren Synagogen. Sie spiegeln sehr gut die Veränderungen in unseren 105 Gemeinden in den vergangenen 25 Jahren wider.

Die jüdischen Gemeinden standen ja seit 1990 vor der Aufgabe, in großer Zahl neue Mitglieder integrieren zu müssen, Mitglieder, die vom Judentum wenig wussten. Von den heute knapp 100.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinden haben rund 90 Prozent ihre Wurzeln in der Ex-Sowjetunion.

Es galt zunächst, den Zuwanderern bei Behördengängen und der Suche nach Arbeit und Wohnung zu helfen, aber vor allem galt es, sie wieder mit ihrer Religion vertraut zu machen. Denn an deren Ausübung wurden sie in der Sowjetunion weitgehend gehindert, so dass gerade in der jüngeren Generation kaum noch Kenntnisse der Traditionen vorhanden waren. Über die Jahre hat sich damit hier in den Gemeinden still und leise eine jüdische Willkommenskultur etabliert, lange, bevor wir diesen Begriff zu Recht auf Deutschland anwenden konnten.

Zu diesen Veränderungen in unseren Gemeinden passt auch dieses Fotos vom jüdischen Teil des Friedhofs in Düsseldorf. Sahen Sie früher auf jüdischen Friedhöfen häufig nur karge Gräber mit meist hebräischen Schriftzeichen und ein paar Steinen auf dem Grabstein, so finden Sie heute Marmor und Blumen. Auch hier haben die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion eine eigene Tradition mitgebracht. Manchmal streiten wir über solche Dinge. Manchmal lachen wir auch gemeinsam und staunen über unsere Unterschiede.

Die Integration der Zuwanderer war und ist eine große Herausforderung für die jüdische Community. Sie ist zugleich eine Bereicherung. Das gilt sogar für das Thema Schoa. Die Zahl der Schoa-Überlebenden wird natürlicherweise immer kleiner. Das Thema bleibt aber auch in der zweiten und dritten Generation präsent, und zwar jetzt aus unterschiedlichen Perspektiven. Durch unsere Zuwanderer ist zu der Opferperspektive die Sicht der Befreier hinzugekommen. Während die alt-eingesessenen Juden auf Daten wie den 9. November blicken, haben die zugewanderten Juden viel stärker den 9. Mai als Tag des Sieges im Focus.

Es ist ein sehr fruchtbarer Austausch, der dadurch zustande gekommen ist. Die Frage, wie eine moderne Gedenkkultur aussehen kann, stellt sich auch in unserer jüdischen Community. Deshalb kann ich nur wiederholen: Zuwanderung bereichert und weitet den Blick. Manchmal muss um den Konsens zwischen Alt und Neu gerungen werden, aber es lohnt sich.

Das sehen wir vor allem an der zweiten Generation der seit 1990 eingewanderten Juden. Deshalb habe ich Ihnen ein Foto der Jewrovision mitgebracht. Die Jewrovision – das Wort bildet sich in Anlehnung an die Eurovision mit dem englischen Wort für Jude – Jew – die Jewrovision also ist der größte Tanz- und Gesangswettbewerb für jüdische Jugendliche in Europa, jährlich ausgerichtet vom Zentralrat der Juden.

Bei diesem Wettbewerb, der immer mit einer religiösen Jugendfreizeit verbunden ist, erleben Sie bei den rund 1.000 Teilnehmern Jahr für Jahr etwas Wunderbares: ein neues jüdisches Selbstbewusstsein. Ähnlich wie in den achtziger Jahren verstehen sich die jüngeren Juden auch heute wieder als deutsche Juden und betrachten Deutschland als ihr Zuhause. Dies ist umso bemerkenswerter, als der weitaus größte Teil der jungen jüdischen Generation Eltern hat, die nicht in Deutschland geboren sind, sondern in der früheren Sowjetunion.

Die Kinder dieser Zuwanderer sind vollständig integriert: Sie sprechen fließend und akzentfrei Deutsch, sie besuchen in der Regel ein Gymnasium, machen Abitur und studieren - und betrachten eben Deutschland als ihre Heimat. Diese Integration hat eine Generation gedauert. Das ist unsere Erfahrung, die wir auch in der aktuellen politischen Situation gerne in Erinnerung bringen. Aber dazu komme ich später noch.

Nun ist es allerdings in unseren jüdischen Gemeinden nicht anders als in Kirchengemeinden: Auch bei uns gibt es eine ungünstige Altersstruktur. Knapp die Hälfte unserer Mitglieder sind über 60 Jahre alt. Und auch wir kämpfen seit ein paar Jahren mit sinkenden Mitgliederzahlen. Hier in Bayern zählen wir derzeit 18.260 Mitglieder in unseren Gemeinden. Vor sechs Jahren waren es noch rund 100 mehr.

Daher versucht der Zentralrat der Juden mit verschiedenen Programmen für jüdische Studenten und für Young Professionals gerade jene Menschen in den Gemeinden zu halten, die sozusagen leicht verloren gehen: Wer mit dem Start ins Berufsleben und Familiengründung beschäftigt ist, nimmt sich meistens nur noch wenig Zeit für so etwas wie Gemeindeleben. Diese Erfahrung machen ja alle Verbände und Vereine, die mit Ehrenamtlern arbeiten. Und diese Prioritätensetzung ist in der Lebensphase nur allzu verständlich, und war bei mir selbst übrigens nicht anders.

Uns muss es aber gelingen, dass diese Abwesenheit in den Gemeinden wenigstens nur eine vorübergehende bleibt. Darum bemühen wir uns mit immer wieder neuen Projekten. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel zur Jewrovision auch ehemalige Teilnehmer eingeladen und ihnen ein eigenes Programm geboten.

Bei unserer interreligiösen Zusammenarbeit geht es selten um diese Themen wie Nachwuchsgewinnung oder schwindende Mitgliederzahlen. Aber vielleicht können wir hier alle mehr voneinander lernen, als uns bewusst ist.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

in meiner kleinen Dia-Show wird es jetzt Zeit für das Foto eines Rabbiners, um unser unser jüdisches Leben in Deutschland zu bebildern. Das Judentum in Deutschland ist wie auf der ganzen Welt kein monolithischer Block. Es gibt von traditionell, über konservativ bis zu liberal sehr unterschiedliche Strömungen. Daher haben wir in Deutschland eine Orthodoxe Rabbinerkonferenz und eine liberale Allgemeine Rabbinerkonferenz, in der auch Rabbinerinnen Mitglied sind.

Eine sehr erfreuliche Entwicklung haben wir in der Rekrutierung von Rabbinern. Mussten in den vergangenen Jahrzehnten Rabbiner immer aus dem Ausland geholt werden, so ordinieren wir seit 2006 wieder in Deutschland ausgebildete Rabbiner und Rabbinerinnen. Daher können wir immer mehr Gemeinden mit einem eigenen Rabbiner ausstatten, was nicht nur für die Seelsorge, sondern auch für den Zusammenhalt der Gemeinde sehr wichtig ist.

Zugleich symbolisiert dieses Foto: Im Zentrum des jüdischen Lebens steht die Religion, steht unser Glaube. So gerne sicher auch viele von Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, in ein Klezmer-Konzert gehen oder mit Ihren Kindern ein Purim-Spiel in einer Synagoge besuchen, so gerne Sie über einen Wizo-Basar mit leckeren israelischen Speisen flanieren, als dies ist letztlich nur das Drumherum. Wir sind, wie ich immer sage, jüdische oder wie es in Bayern heißt, Israelitische Kultusgemeinden, keine Kultur-Gemeinden.

Mir ist dies besonders wichtig zu betonen in einer Zeit, in der die Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft um ihren Stellenwert ringen müssen. In der manches, was jahrzehntelang selbstverständlich war, in Frage steht.

Denn dass das Judentum trotz aller Anfeindungen, aller Verfolgung, aller Pogrome und trotz des größten Verbrechens, der Schoa, überlebt hat, das lag und liegt bis heute an diesem Kern: der Religion. Die zehn Gebote, die uns am Berg Sinai übergeben wurden, die Thora, in der unsere Religion niedergelegt ist – dieses Wissen und diese Werte wurden über Generationen weitergegeben und haben uns Orientierung verliehen. Ohne unsere Gebete und Segenssprüche wären familiäre Feiern wie am Schabbat oder zu Pessach nur eine leere Hülle. Ohne den religiösen Kern hätte die Tradition niemals über Jahrtausende Bestand gehabt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

was wir bisher bebildert haben, ist das sehr schöne jüdische Leben in seiner ganzen Vielfalt in Deutschland. Ich könnte Fotos von neu eröffneten Synagogen oder Mikwen hinzufügen. Vom jüdischen Zentrum Jakobsplatz oder von jüdischen Kulturfestivals. Doch wir müssen auch andere Bilder zur Kenntnis nehmen. Zum Beispiel dieses hier: ein Blumenmeer vor der Synagoge in Kopenhagen, auf die im Februar 2015 ein islamistischer Anschlag verübt wurde. Dabei kam der Wachmann ums Leben.

Ich hätte auch ein Foto von Toten im Jüdischen Museum in Brüssel auswählen können oder ein Bild von einem riesigen Polizeiaufgebot vor dem Koscher-Supermarkt in Paris. Nun könnten Sie einwenden, dass dies keine Ereignisse in Deutschland waren. Das stimmt. Wir alle hatten in Deutschland bisher Glück, dass offenbar einige Attentate verhindert werden konnten.

Wir können unser jüdisches Leben in Deutschland aber nicht losgelöst von Europa betrachtet. Und in Europa ist modernes jüdisches Leben auch begleitet von Gefahren. Was wir in jüngster Zeit in Europa erleben mussten, hat uns alle erschüttert. Was uns, in der jüdischen Gemeinschaft, aber noch stärker auffällt als der übrigen Bevölkerung: Sehr oft wählen die Terroristen bewusst jüdische Einrichtungen als Ziel aus. Diese fanatischen Islamisten sind eben auch fanatische Judenhasser. Es nutzt nichts, vor dieser Tatsache die Augen zu verschließen.

Und deshalb lässt sich feststellen: Wir Juden fühlen uns in Deutschland sicher. Das Sicherheitsgefühl war aber schon größer.

Das hat mehrere Gründe, ein wesentlicher ist die Bedrohung durch Islamisten.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich Eltern fragen, wie sie ihre Kinder sicher zur jüdischen Schule bringen und ob diese Schule ausreichend bewacht ist. In allen unseren Gemeinden sind die Sicherheitsvorkehrungen ein erheblicher Kostenfaktor. Das ist leider die traurige Realität im Jahr 2016.

Das Sicherheitsgefühl erhöht sich nicht gerade, wenn bekannt wird, dass offenbar doch mit den Flüchtlingen Terrorverdächtige nach Deutschland eingeschleust wurden. Dennoch wäre es aus meiner Sicht die völlig falsche Konsequenz, Europa wegen dieser Gefahren zu verlassen. Unter den französischen Juden ist die Auswanderungswelle nach Israel größer geworden. Aber, übersehen wir nicht: Die ganz große Mehrheit der französischen Juden bleibt in Frankreich! Es kann immer gute Gründe für Juden geben, nach Israel auszuwandern. Der Terror sollte keiner sein!

Denn dann würden die Terroristen genau das erreichen, was sie möchten. Ebenso, wie sich die gesamte Gesellschaft nicht abschrecken lassen darf, ihr ganz normales, freiheitliches Leben weiterzuführen, dürfen auch wir Juden uns nicht von der Bedrohung einschüchtern lassen!

Es gibt in unseren Gemeinden hier in Deutschland zwar eine Verunsicherung und beim ein oder anderen auch Ängste. Aber der weitaus größte Teil der hiesigen Juden denkt nicht an Auswanderung. Die Debatte darüber, ob wir auf Dauer sicher in Deutschland leben können, die ist allerdings wieder da. Das hat jedoch neben der terroristischen Bedrohung auch sehr viel mit den Flüchtlingen zu tun.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich komme jetzt zu dem Teil, mit dem ich mich bei Ihnen vielleicht unbeliebt mache. Mit dem ich Wasser in den Wein kippe. Ich halte es jedoch für notwendig für unser Land, mit schonungslosem, glasklaren Blick auf die aktuelle Lage zu blicken. Rosarot hilft hier nicht weiter.

Die Flüchtlinge, die in so großer Zahl seit dem vergangenen Jahr bei uns Zuflucht suchen, kommen ganz überwiegend aus Staaten, die mit Israel tief verfeindet sind. Dort stehen die Protokolle der Weisen von Zion neben anderen antisemitischen Machwerken in den Buchhandlungen. In Atlanten fehlt Israel auf der Landkarte. Antisemitische Fernsehserien sind in diesen Ländern normal. Wer mit einem solchen Feindbild groß geworden ist, legt es nicht einfach beim Grenzübertritt ab.

Deshalb gibt es in den jüdischen Gemeinden Sorgen. Denn schon jetzt existiert ein recht ausgeprägter Antisemitismus unter jungen Muslimen in Deutschland. Das haben wir 2014 bei den anti-israelischen Demonstrationen deutlich und in erschreckendem Ausmaß gespürt. Wird sich dieser Antisemitismus jetzt noch verstärken? Werden wir bei einer Demo in drei Jahren nicht 2.000, sondern 20.000 Menschen auf der Straße haben, die brüllen: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“? Wenn wir das nicht möchten, liegt viel Arbeit vor uns.

Es bedeutet, dass wir die Flüchtlinge nicht nur generell mit unseren Grundrechten wie etwa der Religionsfreiheit vertraut machen müssen. Grundrechte, die sie aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. Wir müssen sie auch emotional erreichen. Sie müssen verinnerlichen, dass die Menschenwürde universell gilt, auch für Juden. Sie müssen einsehen, dass ihnen Schauermärchen erzählt wurden. Sie müssen sich eingestehen, in Teilen mit einem falschen Weltbild durchs Leben gegangen zu sein.

Das ist sehr schwer. Das wäre für jeden Menschen schwer. Für Menschen, die gerade ihre Heimat, vielleicht Familienangehörige und ihren Besitz verloren haben, die traumatisiert sind und sich in einer neuen Kultur zurechtfinden müssen, ist es noch schwerer.

Deshalb erfordert es sehr viel Knowhow, sehr viel Einfühlungsvermögen und vor allem sehr viel Zeit, bis wir diese emotionale Integration erreichen können. Wenn wir sie überhaupt erreichen können. Und wie ich bereits erwähnte: Nach unserer Erfahrung dauert dies eine Generation.

Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag 2015 vor dem Deutschen Bundestag sehr treffend beschrieben, was wir den neu hinzugekommenen Bürgern vermitteln müssen. Er sagte, ich darf zitieren:

„Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus (ist) zu einem festen Bestandteil unseres Selbstverständnisses geworden. Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zählen, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes. (…)

Der Holocaust als Menschheitsverbrechen – diesen Weg der Annäherung haben auch Eingewanderte, selbst wenn sie sich nicht oder noch nicht als Deutsche fühlen. Dieser Weg ist nicht immer leicht, auch nicht selbstverständlich. Manche Einwanderer erlitten in ihren Herkunftsländern selbst Verfolgung. Manche kommen aus Ländern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel verbreitet sind. Wo derartige Haltungen bei Einwanderern nachwirken und die Wahrnehmung aktueller Ereignisse bestimmen, haben wir ihnen beharrlich die historische Wahrheit zu vermitteln und sie auf die Werte dieser Gesellschaft zu verpflichten.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vielleicht sind auch unter Ihnen einige, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert haben oder weiterhin engagiert sind. Gerade in den beiden christlichen Kirchen gibt es viel Elan für die Flüchtlingshilfe und eine wahrhaft christliche Willkommenskultur. Verstehen Sie mich deshalb bitte nicht falsch: Ich möchte Ihnen mit meinen kritischen Anmerkungen zu den Flüchtingen weder Ihren Elan nehmen, noch sehe ich Ihr Engagement skeptisch. Ganz im Gegenteil.

Ich bin den Kirchen sehr dankbar für ihren Einsatz. Das ganze Land sollte dankbar sein, denn viele Flüchtlingsunterkünfte funktionieren überhaupt nur, weil kirchliche Sozial- und Wohlfahrtsverbände die Träger sind und die ehrenamtliche Hilfe organisiert haben.

Die Deutsche Bischofskonferenz hat Anfang dieses Jahres sehr durchdachte und kluge Leitsätze für das kirchliche Engagement für Flüchtlinge verabschiedet. Darin werden die Sorgen der jüdischen Gemeinschaft aufgegriffen, und es wird ein Lösungsansatz aufgezeigt. Ich darf zitieren:

„Auch unter den Muslimen und Juden unseres Landes wecken die aktuellen Fluchtbewegungen ein großes Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, den Weg des interreligiösen und interkulturellen Dialogs mit Nachdruck fortzusetzen und gemeinsame Projekte zur Unterstützung von Flüchtlingen zu initiieren. Eine derartige Zusammenarbeit kann unter anderem auch für den gegenseitigen Respekt zwischen christlichen und muslimischen Flüchtlingen und die Überwindung antisemitischer Ressentiments, vor denen die jüdischen Gemeinden zurecht warnen, förderlich sein.“

Diese Einschätzung, meine sehr geehrten Damen und Herren, teile ich: Direkte Begegnung zwischen den Religionen kann sehr viel bewirken und dazu beitragen, Vorurteile abzubauen. Mit Ihrem ehrenamtlichen Engagement für die Flüchtlinge, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, haben Sie für die Integration und Wertevermittlung einen ganz wichtigen ersten Schritt geleistet.

In der Tat sind auch jüdische Gemeinden und Organisationen in der Flüchtlingshilfe aktiv. Wenn wir uns also noch einmal überlegen wollen, wie man jüdisches Leben in Deutschland bebildern könnte, können wir auch dieses Foto vom Mitzvah Day im vergangenen November auswählen.

Der Mitzvah Day ist ein vom Zentralrat der Juden initiierter Tag des Ehrenamts, mit zahlreichen Projekten in den jüdischen Gemeinden, zum Teil übrigens mit christlichen Partnern. Im vergangenen Jahr stand dieser Tag ganz im Zeichen der Flüchtlingshilfe.

Und so haben auch Mitarbeiter des Zentralrats einen ganzen Tag lang für Flüchtlinge in einer Berliner Turnhalle Programm gemacht. Ich habe ein wenig geholfen, Luftballons aufzublasen und habe Hummus verteilt. Diese Kichererben-Speise wird ja in Israel genauso gern gegessen wie in Syrien. Denn es gibt ja nicht nur Trennendes. Es gibt ja auch Dinge, die uns verbinden.

Und die Erfahrung von Flucht, von Exil, von geschlossenen Grenzen oder schlicht von einem Neuanfang in einem fremden Land – diese Erfahrungen sind in jeder jüdischen Familie präsent. Noch stärker als unser Unbehagen über womöglich importierten Antisemitismus ist daher unser Verständnis für die Not dieser Menschen. Es sind einfach zwei Herzen, die da in unserer Brust schlagen.

Als Zentralrat der Juden in Deutschland sind wir auf vielen Ebenen politisch aktiv, um sowohl für die Notwendigkeit der Wertevermittlung als auch für eine tolerante Gesellschaft zu werben. Hier in Bayern haben wir seit 2005 das Bündnis für Toleranz. Auf Bundesebene haben wir Anfang dieses Jahres mit ganz ähnlichen Trägern die „Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat - gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt“ mitgegründet. Aus Berliner Sicht stellte sich das für einige Akteure als Weltneuheit dar. Ich war dann doch so frei, darauf hinzuweisen, dass wir in Bayern bereits ein solches Bündnis haben, das sehr gute Arbeit leistet und von dem wir durchaus lernen können. Solche zivilgesellschaftlichen Bündnisse sind heute wichtiger denn je!

Wir brauchen Bürger, die sich aktiv für eine respektvolle und solidarische Gesellschaft einsetzen. Deshalb unterstützt der Zentralrat solche Bündnisse auf Bundesebene. Deshalb haben wir erst vor wenigen Wochen den Verein „Gesicht Zeigen!“ mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet. Denn der Verein „Gesicht Zeigen!“, der vom früheren Zentralratspräsidenten Paul Spiegel mitbegründet wurde, macht seit Jahren großartige Projekte gegen Rechtsextremismus, vor allem mit jungen Leuten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe eben gesagt, die Arbeit solcher Toleranz-Bündnisse sei heute wichtiger denn je. Gerade erst hat eine neue Studie die fortschreitende Polarisierung unserer Gesellschaft aufgezeigt. Vor allem gegen Muslime, Ausländer und Sinti und Roma wird Abneigung geschürt. Wir könnten übrigens Juden hinzufügen. Antisemitismus und vor allem Antizionismus wurden für die Studie nicht gesondert untersucht, die Autoren habe aber selbst eingeräumt, dass weiterhin von 20 bis 30 Prozent Antisemiten auszugehen sei.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich von jeher auch für andere Minderheiten und für Toleranz eingesetzt. Neben der „Allianz für Weltoffenheit“ sind wir daher in diesem Jahr auch dem „Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas“ beigetreten.

Denn die Atmosphäre in unserer Gesellschaft vergiftet sich zunehmen. Das ist eine Entwicklung, die uns alle beunruhigt, die in der jüdischen Gemeinschaft aber auch dazu beiträgt, sich Gedanken darüber zu machen, welche Zukunft wir in diesem Land haben.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen geht wie mir: Eigentlich ärgert es mich, wieviel Aufmerksamkeit die AfD bekommt. Beim Katholikentag mussten wir erleben, dass fast häufiger über die Frage diskutiert wurde, ob der Ausschluss der AfD richtig war, als über die anstehenden Themen selbst, um es etwas zugespitzt zu formulieren.

Doch wir kommen um das Thema nicht herum. Angesichts der Zustimmung, die die AfD erhält, angesichts solcher Bewegungen wie Pegida müssen wir von einem Rechtsruck der Gesellschaft sprechen. Die neuen rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien haben einen erheblichen Anteil an der erwähnten Polarisierung. Sie schaden massiv der politischen Kultur in diesem Land. Intolerante Ansichten über Muslime und über Ausländer sowie Antisemitismus, gekleidet in eine Kritik an Israel, finden sich inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft.

Dagegen müssen wir angehen – in Toleranz-Bündnissen und Vereinen, aber auch jeder Einzelne von uns in seinem Alltag. Denn worum geht es? Das hat Paul Spiegel im Jahr 2000 unter dem Eindruck zahlreicher ausländerfeindlicher Gewalttaten und unter dem Eindruck des Anschlags auf die Synagoge in Düsseldorf so formuliert:

„Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht innehalten. Denn es geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land.“

Diese Sätze haben an Aktualität nichts verloren! Sie könnten auch in diesem Jahr gefallen sein!

Es geht nicht allein um Juden und Muslime oder um Flüchtlinge – es geht um unser Land. Es geht um die Frage, wie wir die Errungenschaften unserer westlichen Demokratie und Wertegemeinschaft schützen und im 21. Jahrhundert erhalten.

Im vergangenen Jahr gab es mehr als 1.000 Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte. Das war eine Verfünffachung gegenüber dem Jahr zuvor. Nur ein Bruchteil der rechtsextremen und ausländerfeindlichen Taten wird aufgeklärt. Wir sind zudem mit einer immer größeren Gewaltbereitschaft unter den Rechtsradikalen und einer besseren Vernetzung konfrontiert. Noch immer läuft der Prozess gegen Beate Zschäpe. Noch immer befassen sich Untersuchungsausschüsse mit dem NSU, um die kriminellen Strukturen dieser rechten Terrorgruppe aufzudecken. Und erst vor kurzem sind im sächsischen Freital offenbar Rechtsterroristen festgenommen worden.

Und wir sind heute mit technischen Möglichkeiten konfrontiert, die es sehr leicht machen, Menschen aufzuhetzen oder in kürzester Zeit zu Protest-Aufmärschen zusammenzurufen. Die Hacker-Angriffe auf Universitäten, bei denen plötzlich antisemitische Pamphlete aus den Druckern kamen, haben uns gezeigt, wie perfide heutzutage die Methoden der Rechtsextremen sind.

In diesem Mosaik stellt im Übrigen die NPD einen Stein von nicht zu unterschätzender Größe dar. Die Partei lenkt häufig ausländerfeindliche Aufmärsche und Proteste. Ihre Staatsgelder fließen in Neo-Nazi-Kanäle. Der Zentralrat der Juden hofft daher sehr, dass sich das Bundesverfassungsgericht für ein Verbot dieser rechtsextremistischen Partei aussprechen wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

viele dieser Entwicklungen konnte Paul Spiegel noch gar nicht erahnen. Aber er wusste: Wenn wir den Kampf gegen Hass und Gewalt nicht aufnehmen, haben wir schon verloren.

Ich bin sehr froh, dass wir hier einen großen Konsens mit den Kirchen haben. Erst vor wenigen Wochen haben wir ein weiteres Bündnis ins Leben gerufen, ein interreligiöses Projekt, das genau diesen intoleranten Tendenzen entgegenwirken soll.

Unter dem Titel „Weißt du, wer ich bin?“ unterstützen die beiden Kirchen, der Zentralrat der Juden und vier muslimische Verbände lokale interreligiöse Flüchtlingsinitiativen. Diese Initiativen können vom Bundesinnenministerium mit bis zu 15.000 Euro gefördert werden.

Genau solche Projekte brauchen wir in hohem Maße in Deutschland. Denn je besser wir einander kennen, desto weniger halten sich Vorurteile. Und je größer unser Wissen über andere Religionen ist, desto schwerer haben es Rechtspopulisten, Ressentiments zu schüren.

Und machen wir uns nichts vor: Die AfD hat zwar vor allem den Islam im Visier. Doch ich gehe fest davon aus, dass sich ihre Ablehnung auch gegen eine andere Minderheit richten kann, wenn es der Partei opportun erscheint. In ihrem neuen Grundsatzprogramm hat die AfD ein Verbot des Schächtens beschlossen. Damit trifft sie uns Juden ebenso wie die Muslime.

Wir alle sind aber auch aufgefordert, im Alltag gegen Diskriminierung einzuschreiten. Jeder von uns kann sich selbstkritisch fragen: Mache ich den Mund auf, wenn auf einer Familienfeier Schwulen- oder Judenwitze erzählt werden? Schreite ich ein oder informiere die Polizei, wenn ein Schwarzer bedroht wird? Was denke ich als erstes, wenn ich eine Gruppe von Sinti und Roma sehe?

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

alle Wege führen nach Rom, und viele Wege führen zu einer toleranten Gesellschaft. Ein in meinen Augen sehr wichtiger Weg ist die Bildung. Dabei liegen mir aus meiner Sicht als Zentralrats-Präsident zwei Themen besonders am Herzen:

Es muss unser Ziel sein, die religiöse bzw. interreligiöse Bildung in Deutschland zu erhöhen. Halten wir uns einfach beispielhaft vor Augen, dass in einem durch und durch christlich geprägten Land wie Deutschland in Umfragen nur noch die Hälfte der Menschen sagen kann, was die Bedeutung von Karfreitag ist.

Und um auf unseren Gedanken der richtigen Bebilderung zurückzukommen. Welche Bilder finden sich denn in Schulbüchern, wenn das Kapitel Judentum an der Reihe ist? Auch dort sind es wie in den Medien sehr häufig Fotos von ultraorthodoxen Juden an der Klagemauer in Jerusalem.

Selbstverständlich gibt es diese Juden. In Deutschland trifft man sie allerdings nicht. Und diese Fotos verfestigen letztlich ein Klischee. Warum sind nicht einfach jüdische Kinder und Jugendliche zu sehen, wie auf diesem Bild?

Der Zentralrat der Juden erarbeitet gerade mit der Kultusministerkonferenz eine Erklärung, um die Vermittlung der jüdischen Geschichte, Kultur und Religion in der ganzen Vielfalt in den Schulen zu verbessern. Darin werden wir auch die Begegnung mit Juden empfehlen.

Denn, wie ich eingangs schon feststellte, das Wissen über das moderne jüdische Leben in Deutschland ist gering.

Darüber hinaus liegt mir am Herzen, was ich schon seit längerem öffentlich fordere: Gedenkstättenbesuche von Schülern. An den authentischen Orten können junge Menschen auch heute noch die Dimension der NS-Verbrechen viel besser erfassen als aus dem Schulbuch. Empathie mit den Opfern und Verantwortungsbewusstsein entstehen nicht anhand nackter Zahlen. Eine individuelle Auseinandersetzung mit der Nazizeit gelingt besser an den Orten, an denen die Verbrechen geschahen.

Der Historiker Wolfgang Benz hat vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ festgestellt: „Der verordnete Besuch einer Gedenkstätte heilt nicht soziale Schäden, immunisiert junge Menschen nicht gegen rechtsextremistische Ideologie, ist nicht das Patentrezept gegen Ausländerhass und Rassenwahn.“

Jetzt werden Sie überrascht sein, aber da stimme ich Wolfgang Benz sogar zu. Ein Gedenkstättenbesuch kann nur ein Baustein sein und muss natürlich vor- und nachbereitet werden. Allerdings räumt auch Wolfgang Benz ein: „Der Lernort KZ kann jedoch einen Beitrag zur Integration neuer Bürger im Einwanderungsland leisten.“

Ich bin daher sehr froh, dass die bayerische Landesregierung einen Modellversuch mit Mittelschulen für verpflichtende Gedenkstättenbesuche gestartet hat. Dabei hat sich gezeigt, dass eine beachtliche Anzahl von Mittelschulen bereits regelmäßig mit ihren Schülern nach Dachau oder Flossenbürg fährt. Und dass die Schüler eine große Offenheit und großes Interesse mitbringen! Ich hoffe, dass schlussendlich auch für die Mittelschulen ein verpflichtender KZ-Gedenkstättenbesuch das Ergebnis des Modellversuchs sein wird.

Zugleich müssen unsere Gedenkstätten natürlich auch ausreichend finanziell ausgestattet werden. Der Obersalzberg ist gewiss auch ein wichtiger historischer Ort. Auch dort lässt sich viel über den Charakter des Nationalsozialismus erklären. Aber in Dachau und Flossenbürg ist die Perspektive eine andere – und mit Verlaub: Sie liegt mir mehr am Herzen! Und das sage ich nicht nur, weil mein Vater in Dachau inhaftiert war, sondern im Namen der Überlebenden der Konzentrationslager.

Die vom bayerischen SPD-Abgeordneten Martin Güll geübte, heftige Kritik an der Konzeption der Ausstellung in der Gedenkstätte Dachau teile ich übrigens ausdrücklich nicht! Was in Dachau an pädagogischer Arbeit geleistet wird, ist vorbildlich. Und das hat auch mit der Ausstellung zu tun. Das bedeutet ja nicht, dass am Konzept nie etwas geändert werden sollte. Aber eine Totalrevision zu fordern, ist übertrieben.

Jenseits der Gedenkstätten sind wir gefordert, eine Gedenkkultur zu entwickeln, die auch 70 Jahre nach Kriegsende noch die Menschen erreicht, und die zu einer Einwanderungsgesellschaft passt. Das ist eine große Herausforderung, was wir auch daran merken, wie lange schon das Thema in den Feuilletons immer wieder auftaucht.

Ich bin gar nicht pessimistisch, dass sich die Erinnerung an die Shoa nicht auch in einer Migrationsgesellschaft vermitten lässt. Unter den Migranten sind viele Menschen, die selbst Diskriminierung und Rassismus erlebt haben oder immer noch erleben. Es sind Menschen darunter, deren Familien aus ihrer Heimat fliehen mussten, Menschen, die in Diktaturen, in Flüchtlingslagern oder Armut gelebt haben. Warum sollten diese Menschen weniger in der Lage sein, Empathie für die Opfer der Shoa aufzubringen? Oder warum sollten sie weniger interessiert sein an der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Wir brauchen für diese Vermittlung gut ausgebildete Lehrer. Zumindest in Bayern, wo ich es am besten mitbekomme, haben wir die auch. Wir dürfen die Lehrer mit dieser Aufgabe aber nicht alleine lassen. Gedenkstätten können eine wertvolle Hilfestellung bieten.

Eine moderne Form der Erinnerung, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, sind für mich auch die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig. Mir ist klar, dass dieses Thema in München ein heißes Eisen ist. Vielleicht kann der ein oder andere unter Ihnen das Thema auch nicht mehr hören. Ich möchte dennoch ein paar Gedanken zum Thema Stolpersteine formulieren.

Der Münchner Stadtrat hat sich für eine andere Form des Gedenkens entschieden. Das kann ich gut akzeptieren. Die Stolpersteine haben keinen Alleinvertretungsanspruch. Und ich bin sehr gespannt, wie schließlich das neue Konzept in München aussehen wird. Der Stadt wünsche ich vor allem, dass sie bei dem Thema bald zur Ruhe kommt und im Konsens eine würdige Form des Gedenkens findet.

Ich möchte Ihnen aber auch erläutern, warum ich die Stolpersteine befürworte. Die Stolpersteine überraschen uns mitten im Alltag. Ich nehme mir manchmal die Zeit, in Würzburg am Kaufhof die Passanten zu beobachten. Nicht wenige bleiben abrupt stehen, wenn sie die kleinen Messingsteine entdecken, die dort zur Erinnerung an die früheren jüdischen Kaufhausbesitzer Ruschkewitz liegen. So werden die Bürger mit der Geschichte konfrontiert, ohne dafür aktiv einen Erinnerungsort oder ein Museum aufsuchen zu müssen.

Zugleich wird für jedermann sichtbar: Die Juden, die im Nationalsozialismus entrechtet, verfolgt und ermordet wurden, lebten ganz normal mitten in der Stadt. Sie verschwanden, und die wenigsten haben sich dafür interessiert, wohin. Die Stolpersteine regen zum Nachdenken und Nachfragen an. Sie werfen sehr direkt die Frage auf, wie die Verfolgung so vieler unschuldiger Menschen möglich war, obwohl sie nicht im Geheimen geschah. Warum griff niemand ein? Und wie würde ich heute reagieren? Das sind Fragen, die gerade junge Menschen stellen – über die sie buchstäblich stolpern.

Zum Kunstprojekt Stolpersteine gehört auch die Recherche, die der Verlegung eines Steins vorausgeht. Gunter Demnig macht es den Menschen zum Glück nicht bequem und erledigt das für sie. Wer einen Stolperstein verlegen lassen möchte, muss selbst nachforschen: Wer wohnte in meinem Haus? Wohin wurden die Menschen verschleppt? Wie wurden sie ermordet? Gibt es noch Angehörige? Durch diese Recherchen findet eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit statt, wie sie intensiver kaum vorstellbar ist.

Ich habe Verständnis dafür, dass nicht jeder sich mit den Stolpersteinen anfreunden kann. Für mich überwiegen die positiven Seiten aber die Bedenken.

Und wo wir gerade beim Thema Gedenken sind: Ich plädiere ich auch dafür, feste Gedenktage beizubehalten. Kritiker sprechen von starren Ritualen, die heute niemanden mehr erreichen. Diese Einschätzung teile ich nicht. Feststehende Gedenktage disziplinieren uns, in der sich scheinbar immer schneller drehenden Welt innezuhalten und den Blick zurückzuwerfen. Auch das ist wichtig und sinnvoll.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das schwierige historische Erbe anzunehmen, das ist inzwischen auch in der katholischen und evangelischen Kirche Konsens. Beide Institutionen haben sich intensiv mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus beschäftigt.

Im vergangenen Jahr konnten wir auf 50 Jahre „Nostra Aetate“ zurückblicken. Ich habe bei einer Veranstaltung zu diesem Jubiläum im „Haus am Dom“ in Frankfurt die Konzilserklärung als „Meilenstein“ im christlich-jüdischen Verhältnis bezeichnet.

In dieser Einschätzung fühlte ich mich bestätigt, als der Vatikan im Dezember vergangenen Jahres eine Erklärung zu „Nostra Aetate“ veröffentlichte und darin erneut die Abkehr von der Judenmission bekräftigte. Ebenso wurde betont, dass aus sich einst skeptisch gegenüberstehenden Gemeinschaften „verlässliche Partner und sogar gute Freunde geworden“ seien.

Das ist zutreffend, und für diese Entwicklung dürfen wir dankbar sein.

In meiner Rede zu „Nostra Aetate“ im vergangenen Jahr war ich jedoch so frei, auch kritische Punkte anzusprechen. Denn gänzlich unbelastet ist unser Verhältnis zur katholischen Kirche noch nicht. Da wäre zum einen die Karfreitagsfürbitte für den lateinischen Ritus zu nennen. Nach wie vor warten wir auf die Revision der Wiedereinführung der alten Formulierungen.

Daneben beobachten wir etwas angespannt die Annäherungsversuche an die Pius-Bruderschaft. Ich hoffe sehr, dass Papst Franziskus die volle Anerkennung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Maßstab macht für eine Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche. Die erneute Exkommunikation von Richard Williamson wäre zudem die angemessene Antwort auf seine Holocaust-Leugnung. In dieser Frage gibt es keine Kompromisse!

Im kommenden Jahr feiert die evangelische Kirche das große Reformationsjubiläum. Nicht nur, aber auch aus diesem Anlass sind wir mit der EKD ebenfalls in intensiven Gesprächen. Denn eine eindeutige Abkehr von jeder Art der Judenmission ist eben noch nicht in allen evangelischen Gruppierungen zu finden. Hier erwarten wir ein klares Signal der EKD, die sich im Übrigen sehr vorbildlich mit den judenfeindlichen Schriften von Martin Luther auseinandergesetzt hat und dieses Thema beim Reformationsjubiläum auch nicht aussparen will.

Doch da ich hier ja in der Katholischen Akademie in Bayern spreche, möchte ich noch auf ein weiteres Jubiläum im nächsten Jahr aufmerksam machen. Sehen Sie es mir, dem Würzburger, nach:

Im kommenden Jahr begeht Würzburg den 400. Todestag von Julius Echter. Eine kritische Auseinandersetzung mit der sehr ambivalenten Persönlichkeit des einstigen Fürstbischofes hat bereits begonnen. Julius Echter war Universitäts- und Spitalstifter, aber auch ein strenger Verfechter der Hexen- und der Judenverfolgung. Sein Spital errichtete er auf dem jüdischen Friedhof. Bei allem Stolz auf das Juliusspital und natürlich dem dazugehörigen Weingut, dürfen diese Seiten nicht ausgeblendet werden. Das gilt auch für die geplante Diözesan-Ausstellung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dass heutzutage ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft eingeladen wird, zu 50 Jahre „Nostra Aetate“ oder in einer katholischen Akademie zu sprechen, und dass auch niemand erwartet, dann nur Lobeshymnen zu hören, das steht für mich symbolisch für das gute Verhältnis zwischen Judentum und katholischer Kirche.

Wir sprechen nicht übereinander, sondern miteinander.

Und es gibt immer häufiger Situationen, in denen wir uns in einem Boot fühlen. Etwa wenn es um Fragen geht, die eine zunehmend religionslose Gesellschaft oder den Werteverfall betreffen. Und als 2012 plötzlich durch das Urteil des Kölner Landgerichts die Beschneidung in Frage stand, stand die katholische Kirche, ebenso wie übrigens die evangelische Kirche, solidarisch an unserer Seite.

Papst Johannes Paul II. hat das Judentum einmal als den älteren Bruder des Christentums bezeichnet. Das ist nicht nur theologisch sehr treffend. Es beschreibt auch gut unser heutiges Verhältnis: Natürlich kann es in einzelnen Fragen mal, wenn ich es so salopp ausdrücken darf, Zoff geben. Dann rumpelt es mal. Dann kriegen sich die beiden Brüder auch schon mal in die Haare. Aber, und das ist der entscheidende Unterschied zu den Jahrhunderten zuvor: Sie ringen in gegenseitigem Respekt und nicht wie Kain und Abel. Sie haben das Ziel, sich gegenseitig am Leben zu lassen.

Ziemlich häufig werde ich inzwischen gefragt, ob der jüdisch-christliche Dialog noch zeitgemäß sei, oder ob er nicht zu einem Trialog mit dem Islam erweitert werden müsste.Es ist sicherlich eine gute Absicht, die hinter dieser Frage steckt. Ich sage aber klipp und klar: Am jüdisch-christlichen Dialog sollten wir unbedingt festhalten. Die Judenfeindschaft, die die Kirchen über Jahrhunderte gepflegt haben, lässt sich nicht innerhalb weniger Jahrzehnte beiseite wischen. Noch gibt es offene Fragen und auch nicht verheilte Wunden. Es ist so wichtig, dass wir das Fundament, auf dem wir stehen, noch weiter festigen.

Und glauben Sie mir, Rabbiner und christliche Theologen sind viel zu diskussionsfreudig, um nicht noch für Jahrzehnte ausreichend Stoff für den Dialog zu haben!

Also, zusammengefasst: Der Dialog sollte bleiben, aber kann natürlich um einen Trialog ergänzt werden. Das geschieht ja auch schon. Die beiden Kirchen und wir Juden sind im Austausch mit muslimischen Verbänden. Die Tatsache, dass es nicht einen großen muslimischen Verband gibt, der die deutliche Mehrheit der Muslime in Deutschland vertritt, macht das Gespräch etwas schwieriger, aber verhindert es nicht. Und je mehr islamisch-theologische Lehrstühle wir in Deutschland haben und je mehr es muslimischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen gibt, desto häufiger ergeben sich ohnehin Begegnungen. Desto notwendiger wird allerdings auch der Austausch.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

es klingt vielleicht merkwürdig, aber zum jüdischen Leben in Deutschland gehört auch Israel. Und wenn ich mir die Bedeutung anschaue, die Israel für uns Juden hat, hätte ich eigentlich schon viel früher darauf zu sprechen kommen müssen.

Wollen wir das jüdische Leben in Deutschland also bebildern, können wir auch dieses Foto des Israelischen Botschafters Yakov Hadas-Handelsman mit mir und Außenminister Frank-Walter Steinmeier verwenden.

Israel hat in Deutschland insgesamt einen besonderen Stellenwert. Das gilt natürlich vor allem für die Politik. Doch auch wenn wir uns die Debatten in unserem Land anschauen, lässt sich feststellen: Es gibt wohl kaum ein anderes Land dieser Größe – Israel ist etwa so groß wie Hessen - dass so viel Aufmerksamkeit und so viel Kritik erntet wie Israel. So erhält auch der Zentralrat sehr häufig Medienanfragen zu Israel, und gelegentlich müssen wir darauf hinweisen, dass wir nicht die Konsularabteilung der Israelischen Botschaft sind.

Israel zu kritisieren, ist in weiten Teilen der Bevölkerung fast so etwas wie ein Gesellschaftssport geworden. Daher will ich hier ganz deutlich unterstreichen: Für alle Juden weltweit ist Israel der sichere Hafen. Israel ist unsere Rückversicherung. Daher werden wir dem jüdischen Staat niemals neutral gegenüberstehen. Die Existenz Israels ist für uns nicht eine Frage der Staatsräson, sondern der Lebensräson. Hätte es 1933 bis 1945 den jüdischen Staat gegeben, wäre es nicht zu dem gekommen, zu dem es gekommen ist.

Diese Bedeutung Israels für uns Juden wird außerhalb der jüdischen Community häufig nicht in vollem Ausmaß wahrgenommen. Und leider schwindet der Rückhalt, den Israel in Deutschland hat. Anlässlich des Jubiläums 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, das im vergangenen Jahr gefeiert wurde, hatte die Bertelsmann Stiftung eine Umfrage gemacht. Dabei kam heraus:

48 Prozent der Deutschen haben eine ablehnende Haltung zu Israel. Jeder zweite Deutsche lehnt eine politische Unterstützung Israels im Nahostkonflikt ab. 62 Prozent gaben an, eine schlechte Meinung über die israelische Regierung zu haben. Und nur 40 Prozent waren der Meinung, dass Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk trägt.

Es war vor 50 Jahren alles andere als selbstverständlich, dass Israel bereit war, die Hand zur Versöhnung auszustrecken und mit der Bundesrepublik diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Solche Umfragewerte stimmen mich daher sehr nachdenklich.

Es geht ja nicht darum, dass man Israel nicht kritisieren dürfte. Jeder ist frei darin, die Politik der israelischen Regierung zu bewerten. Wir erwarten allerdings, dass an Israel die gleichen Maßstäbe und keine strengeren angelegt werden als an andere Staaten. Wieso konnte sich der Begriff „Israel-Kritik“ einbürgern? Es gibt aber nicht die Ausdrücke „Irak-Kritik“ oder „Nordkorea-Kritik“ – Staaten, bei denen solche Begriffe eindeutig mehr Berechtigung hätten. Wieso bilden sich Gruppen, die israelische Waren besonders etikettieren oder gar boykottieren wollen? Wieso werden keine Waren aus Diktaturen boykottiert?

Leider hat dieser Umgang mit Israel oft nichts mehr mit einer sachlichen Kritik zu tun. Nein, es ist der alte Antisemitismus in neuem Gewand, dem wir begegnen.

Doch wie sagte einst Golda Meir, die frühere Ministerpräsidentin Israels? „Pessimismus ist ein Luxus, den ein Jude sich nicht leisten kann.“

Es gibt ja auch noch eine andere Seite der Medaille. Viele Bürger in Deutschland engagieren sich für Israel. Und aus dem anfangs zarten Pflänzchen der diplomatischen Beziehungen ist eine wahre Erfolgsgeschichte geworden:

Es gibt mehr als 100 Partnerschaften zwischen deutschen und israelischen Städten. Seit Bestehen der Beziehungen haben insgesamt 700.000 israelische und deutsche Jugendliche an Austauschprogrammen teilgenommen. 2015 besuchten rund 200.000 Deutsche Israel, davon 60 Prozent nicht zum ersten Mal.

Auch hier gilt: Wenn wir einander begegnen, wächst das gegenseitige Verständnis. Wer einmal in Israel war und einen Sirenenalarm miterlebt hat, wer die Sicherheitskontrollen an Einkaufszentren mitgemacht hat und wer plötzlich selbst ein unsicheres Gefühl an der Bushaltestelle verspürt, weil dort eine herrenlose Tasche steht, der wird sich künftig mit vorschnellen Urteilen über die israelische Politik vermutlich ein wenig zurückhalten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dieser Vortrag war überschrieben mit dem Titel: „Jüdisches Leben in Deutschland heute“. Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein paar Eindrücke vermitteln. Ich habe Ihnen auch von unseren Sorgen berichtet und von Bedrohungen des jüdischen Lebens. Trotz allem überwiegt bei mir aber die Zuversicht. Und ich hoffe, dass haben Sie gespürt.

Daher möchte ich schließen mit einem meiner persönlichen Leitsprüche. Er stammt von David Ben-Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten von Israel: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

(Ich danke Ihnen! )

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