"Wir Juden müssen einen kühlen Kopf bewahren"



Foto: Thomas Lohnes

In den ersten Tagen nach dem verheerenden Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und der Geiselnahme mit vier Toten im koscheren Supermarkt in Paris standen alle unter Schock. Und es ist nur allzu verständlich, dass sich gerade Juden in Frankreich erneut und verstärkt fragten, ob sie noch eine Perspektive in ihrem Land haben.

Sehr häufig wird auch uns, der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in diesen Tagen diese Frage gestellt: Können Juden hier noch sicher leben? Oder folgen sie dem Angebot, welches verstärkt aus Israel zu hören ist, dorthin auszuwandern?

Eines ist mir jetzt besonders wichtig: nicht in Panik zu verfallen, nicht überstürzt zu handeln. Denn dann hätten die Terroristen schon ihr erstes Ziel erreicht. Es gilt – was wahrlich nicht leichtfällt nach diesem schrecklichen Jahresauftakt – einen kühlen Kopf zu bewahren.

Die Lage der jüdischen Gemeinden ist in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich und nicht unbedingt miteinander vergleichbar. In Ungarn etwa sind Juden einem starken einheimischen Antisemitismus ausgesetzt. In Frankreich gab es in den vergangenen Jahren vor allem Anschläge und judenfeindliche Übergriffe von muslimischer Seite. In Deutschland wird die Bedrohung durch Rechtsextreme ebenso ernst genommen wie durch Islamisten.

Entsprechend hoch sind die Sicherheitsvorkehrungen. In Deutschland sind jüdische Einrichtungen gut geschützt. Wir vertrauen den Sicherheitsbehörden und arbeiten eng mit ihnen zusammen. In Frankreich wurden die Sicherheitsmaßnahmen erst jetzt erhöht. Es ist bitter, dass dies notwendig ist. Aber es ist richtig.

Noch wichtiger aber ist für alle jüdischen Gemeinschaften in Europa der Rückhalt in der Gesellschaft. Juden dürfen nicht nur willkommene Gäste sein, sondern müssen als fester Bestandteil der Gesellschaft gelten. Deshalb darf es niemandem gleichgültig sein, wenn Juden vermehrt auswandern.

Juden sind Seismographen einer Gesellschaft. Wenn sie sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, müssen die Alarmglocken läuten – bei der nicht-jüdischen Gesellschaft! Für alle Juden in der Welt ist immer noch Israel der sichere Hafen. Auch wenn dort die Sicherheitslage ebenfalls schwierig ist. Obwohl dort die Menschen zum Teil täglich Raketenbeschuss durch die Hamas ausgesetzt sind, bleibt Israel als einziger jüdischer Staat der Welt unsere Lebensversicherung.

Die Aussage von Netanjahu, dass Israel die Heimat aller, auch der französischen Juden sei – und nur das hat er gesagt – ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Netanjahu wollte den französischen Juden Mut zusprechen und sie daran erinnern, dass sie Israel immer als Ausweg haben. Israel als Heimat für alle Juden weltweit anzubieten, gehört zur Staatsräson Israels. Daher wünsche ich mir mitunter mehr Verständnis dafür, dass Israel seine Bürger schützt, notfalls mit militärischen Mitteln.

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist sicherlich verunsichert durch die jüngsten Ereignisse. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass bei uns jetzt nicht die Koffer gepackt werden. Auch nicht innerlich. Wir wollen hier weiterhin jüdisches Leben gestalten. Es gibt zwar viele gute Gründe, nach Israel zu gehen. Flucht vor dem Terror und mangelnde Sicherheit dürfen aber nicht die Ursachen sein. Denn dann spielen wir den Terroristen in die Hände.

Unsere Botschaft sollte sein: Wir lassen uns nicht vergraulen, von wem auch immer. Um der Bedrohung standzuhalten, um diese Situation auszuhalten, brauchen wir aber Schutz, politische und gesellschaftliche Solidarität. Das fordern wir ein, gerade jetzt. Das sind wir den Opfern vom jüdischen Supermarkt in Paris schuldig.

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