"Wir brauchen 100-prozentigen Einsatz gegen Antisemiten"



Grußwort von Dr. Josef Schuster bei der Tagung „Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen“ des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, 14.6.2017, Berlin

Foto: Thomas Lohnes

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielt, dann sitzen knapp 80 Millionen Bundestrainer vor dem Fernseher. Wenn der israelische Ministerpräsident ein Treffen mit dem deutschen Außenminister absagt, sind es knapp 80 Millionen Nahost-Experten.

Von diesen Nahost-Experten wird man als Jude in Deutschland gerne gefragt: Was ist denn da bei euch bloß los? Warum hat denn Netanjahu Gabriel nicht treffen wollen? Vertragt ihr keine Kritik?

Und damit, werte Zuhörerschaft, sind wir mitten im Thema. Ist das Antisemitismus? Wer kann diese Frage noch mit Sicherheit beantworten?

Seit sich zu dem klassischen und sekundären Antisemitismus die Israel-Feindlichkeit als dritte Form gesellt hat, verschwimmen oft die Grenzen. Antisemitische Äußerungen fallen häufiger, Juden fühlen sich häufiger diskriminiert.

Ich bin daher – und es ist mir wichtig, das gleich zu Anfang zu betonen – den Mitgliedern des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus sehr dankbar für die hervorragende Analyse, die sie vorgelegt haben. Im Namen des Zentralrats der Juden in Deutschland und damit im Namen der jüdischen Gemeinschaft möchte ich Ihnen neben unserem Dank auch unsere Anerkennung aussprechen.

Einen so umfassenden, zugleich in die Tiefe gehenden Blick auf Antisemitismus in unserer Gesellschaft hat es lange nicht gegeben. Dabei haben Sie auch der Perspektive von Juden selbst breiten Raum gegeben. Das ist in unserer Community auf positives Echo gestoßen. Es bereichert den Bericht auch, darf ich in aller Bescheidenheit hinzufügen. Denn Betroffene erleben Antisemitismus natürlich anders als Menschen, die nur darüber in der Zeitung lesen.

Ich freue mich auch, dass mit dieser Tagung Gelegenheit gegeben wird, mit Fachleuten über den Bericht zu diskutieren, intensiver als dies in der allgemeinen Presse möglich ist. Daher danke ich Ihnen für die Einladung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

in der Wissenschaft ist es üblich, den Forschungsgegenstand zunächst einzugrenzen. Der Unabhängige Expertenkreis hat sich daher intensiv mit der Definition von Antisemitismus befasst. Auf Laien mag dies befremdlich wirken, weil sie davon ausgehen, dass ein breiter Konsens darüber herrscht, was Antisemitismus ist. Wer auf Facebook schreibt: „Juden sind verschlagen und raffgierig“, der benutzt ganz uralte antisemitische Stereotype. Solche Aussagen sind bei uns gesellschaftlich geächtet. Das gilt nach wie vor.

Schon deutlich kleiner wird allerdings der gesellschaftliche Konsens, wenn jemand zum Beispiel sagt: „Was die Juden mit den Palästinensern machen, ist das Gleiche wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben.“ Solche Aussagen rufen zwar häufig noch ein Stirnrunzeln hervor, geächtet sind sie nicht.

Im Bericht des Expertenkreises wird der Definition von Antisemitismus ein ganzes Kapitel gewidmet. Denn es geht darum, auch die Grauzonen zu erfassen. Häufig ist es so, dass manche Menschen ihre Kritik an der israelischen Regierungspolitik auf ganz Israel projizieren und in Wahrheit Juden generell meinen.

Vielleicht geschieht es mitunter sogar unbewusst, dass sie diese Kritik mit tradierten antisemitischen Klischees verknüpfen. Inzwischen wirkt diese sogenannte Israel-Kritik wie schleichendes Gift. Was früher ein Tabu war, wird heute ausgesprochen.

Diese Tendenz breitet sich insgesamt in unserem Land aus. Das gilt ganz massiv für das Internet. Diese Haltung, „Man wird doch noch sagen dürfen“, ist inzwischen aber auch bis in die Mitte unserer Gesellschaft weit verbreitet.

Hier möchte ich Dolf Sternberger zitieren, der einmal gesagt hat: „Die Barbarei der Sprache ist die Barbarei des Geistes.“ Unsere Sprache entlarvt unsere Denkweise. Zugleich setzt sich in unseren Köpfen fest, was wir immer wieder hören. Daher ist es perfide, wie die AfD versucht, Vokabeln wie „völkisch“ wieder salonfähig zu machen. Das Ziel ist offensichtlich: Wer wieder eine deutsche Volksgemeinschaft im Blick hat, grenzt Einwanderer oder religiöse Minderheiten daraus aus.

In der Befragung der Juden selbst, die der Expertenkreis durchführen ließ, treten diese Phänomene deutlich zum Vorschein. Viele Juden haben in dieser Umfrage berichtet, dass sie ständig verantwortlich gemacht werden für die israelische Politik oder gleich als Vertreter Israels gesehen werden. Sie werden nicht als Deutsche wahrgenommen. Es findet eine soziale Exklusion statt.

Und das, meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, haben wir Juden alles schon einmal erlebt. In unseren Familien spielen die Geschichten von Ausgrenzung, Flucht und Verfolgung bis zur Ermordung nach wie vor eine große Rolle. Unsere Sensoren für diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Ihr“ sind daher sehr ausgeprägt. Die schwindende Solidarität in Deutschland mit Israel, die übersteigerte Kritik am jüdischen Staat und die zunehmende Enttabuisierung im sozialen Diskurs führen zu einem wachsenden Antisemitismus.

Es ist daher überfällig, dass sich die Politik mit diesem Phänomen auseinandersetzt. Der Unabhängige Expertenkreis hat hier ein großes Defizit benannt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland tritt daher dafür ein, die Working Definition of Antisemitism des EUMC auch in Deutschland zu implementieren. So theoretisch eine solche Debatte auf den ersten Blick scheinen mag – wir können Antisemitismus nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir uns einig sind, was Antisemitismus ist. Das zeigt uns Großbritannien. Das Land hat die Working Definition formell angenommen. Seitdem lässt sich dort eine höhere Sensibilität in der Erfassung antisemitischer Straftaten feststellen.

Wir appellieren daher an die Bundesregierung, ihre Bemühungen des vergangenen Jahres fortzusetzen und die Annahme der Definition in der OSZE zu erwirken sowie sie in Deutschland umzusetzen. Der Bundestag sollte noch in dieser Legislaturperiode eine Entschließung mit einem entsprechenden Inhalt fassen. Damit wäre ein wichtiger erster Schritt getan.

Ihm sollte jedoch, meine sehr geehrten Damen und Herren, ein zweiter Schritt folgen. Unserer Ansicht nach darf er sogar sofort erfolgen, noch vor dem erstgenannten: Wir brauchen in Deutschland einen Antisemitismus-Beauftragten! Noch vor der Bundestagswahl sollte dieses Amt im Bundeskanzleramt eingerichtet werden.

Denn bislang fehlt es an einer Stelle, an der über Wahlperioden hinweg und nachhaltig die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland beobachtet wird. Daher fehlen auch längerfristige Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus. Ein Beauftragter könnte auch jenseits von Vorfällen, die mediale Aufregung erzeugen, an dem Thema arbeiten. Ebenso wäre ein Antisemitismus-Beauftragter ein wichtiger Ansprechpartner für Organisationen und Verbände.

Vor allem aber – und hier treffen sich sicherlich die Interessen der jüdischen Gemeinschaft mit den Interessen des Unabhängigen Expertenkreises – könnte ein Antisemitismus-Beauftragter an der Umsetzung der Empfehlungen arbeiten. Wissenschaftler und andere Experten, wie sie jetzt im Expertenkreis erfolgreich zusammengearbeitet haben, sollten ihm dabei beratend zur Seite stehen.

Denn wenn etwas nicht passieren darf, dann ist es, das Thema Antisemitismus mit dem neuen Bericht als erledigt zu betrachten und zu den Akten zu legen. Leider ist es nicht so, dass Antisemitismus wie eine Akte verstaubt und in Vergessenheit gerät. Er erledigt sich nicht von selbst. Wir müssen aktiv für eine Gesellschaft arbeiten, in der es weder Antisemitismus noch Rassismus gibt, in der Minderheiten geschützt und respektiert sind, und in der die Verbrechen und die Opfer der Schoah nicht vergessen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die meisten von Ihnen haben beruflich mit dieser Thematik zu tun. Sicherlich gibt es in Ihrem Berufsleben auch manchmal Momente, in denen Sie zweifeln oder zu verzweifeln drohen. In denen Sie sich fragen, ob Ihr ganzes Bemühen eigentlich einen Sinn hat.

Immer wieder gibt es Ereignisse, nach denen wir uns zurückgeworfen fühlen. Wo es schwer ist, nicht zu resignieren. Doch Ihnen sei versichert: Ihre Arbeit ist so wertvoll! Ohne Menschen wie Sie, die auf wissenschaftlicher Ebene oder pädagogisch oder als Sozialarbeiter für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen Ausgrenzung kämpfen, sähe es in unserem Land ganz anders aus.

Und dass wir Juden mehrheitlich sagen können, dass wir gerne in Deutschland leben und uns hier sicher fühlen, das liegt nicht nur an der Polizei und der hohen Politik. Das liegt auch an Menschen wie Ihnen. Lassen Sie uns deshalb an einem Strang ziehen!

Zeigen wir gemeinsam, warum wir keine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad brauchen, sondern einen 100-prozentigen Einsatz gegen Antisemiten, Rassisten und Ausgrenzer! Sollen die lieber eine 180-Grad-Wende raus aus unseren Parlamenten machen.

Wir sind es unserer Demokratie und unseren Kindern schuldig, für eine Republik ohne Islamfeindlichkeit, ohne Rassismus und ohne Antisemitismus zu kämpfen!

Ich danke Ihnen!

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