„Was uns prägt – was uns eint“



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Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, zum Tag der Konrad-Adenauer-Stiftung, 8.6.2016, Berlin.

Anrede,

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein und gemeinsam mit Ihnen auf eine Gedankenreise zu unseren Werten gehen zu dürfen. Und mit Ihnen darüber zu sprechen, was uns eint und was uns prägt oder geprägt hat. Es ist sicherlich keine einfache Reise, die lediglich eine Destination zum Ziel hat, sondern vielmehr eine Rundreise mit vielen Stationen und Perspektiven.

Ich bin kein Theologe – dies sei vorangestellt – daher muss ich einigen von Ihnen bereits im Vorfeld die Vorfreude nehmen, aus rein religiöser Sicht hier zu Ihnen zu sprechen. Ich glaube aber auch nicht, dass es allein unseren Geistlichen, Politikern oder Kulturhistorikern zustehen sollte, die ultimative Antwort auf die Frage, was uns prägt und uns eint, zu finden. Die Antwort ist vielmehr ein dynamisches Konstrukt, welches sich anpasst und anpassen muss, um ein in der Tat vereinendes Miteinander zu schaffen und damit die Stärkung des sozialen Zusammenhalts, sowie die Wahrung des inneren Friedens zu garantieren.

In Anbetracht der aktuellen Lage und dem im vergangenen Jahr erfahrenen Flüchtlingsstrom stellt sich berechtigterweise die Frage, wie wir es, angesichts der Zusammenkunft unterschiedlicher Kulturen und Religionen, schaffen können, bindende Werte zu festigen und sie zu vermitteln. Hier bei uns in Deutschland. Aber auch Europa muss sich über den Zustand und Bestand der gemeinsamen Werte einig sein, um das bisher Erreichte, nämlich das vereinte Europa zu stabilisieren und es vor dem Zerbröckeln zu bewahren.

Wie sehen aber diese Werte aus und sind sie überhaupt noch zeitgemäß? Wir beobachten Tendenzen in Gesellschaft und Politik, die versuchen, religiöse Werte zu delegitimieren, Gebote zu relativieren und sie abzuschaffen, unter dem Vorwand, dass sie veraltet seien.

Das haben wir vor einigen Jahren in der Beschneidungsdebatte erlebt. Diese elementare und identitätsstiftende Vorschrift, ohne die das Judentum – im besagten Fall aber auch der Islam – nicht mehr das Gleiche wären, sollten verbannt und als archaisch und schädlich stigmatisiert werden. Wir haben jedoch kein Mandat darüber, solche substantiellen Gebote zu ändern.

Wohl aber haben wir ein Mandat darüber, an der Gestaltung unserer Gesellschaftsordnung zu arbeiten und zwar zum Wohle aller. Dazu gehört eben auch die Sicherung des Grundrechts auf freie Religionsausübung.

Viele Werte, die wir heute so hoch halten und unseren neuen Mitbürgern vermitteln wollen, basieren übrigens auf dem Judentum und dem jüdisch-christlichen Erbe, auf das ich im Nachhinein noch zu sprechen kommen werde.

Als Oberbegriff für das, was unsere Werte ausmacht und was es uns erst ermöglicht sie auszuleben, nenne ich die „Demokratie“. Ein großes, starkes Wort, welches in aller Munde, bedauerlicherweise jedoch nicht in aller Herzen ist, wie wir an aktuellen politischen Entwicklungen sehen. Was die Demokratie im Kern ausmacht, nämlich die Herrschaft des Staatsvolks durch auserwählte Repräsentanten, geht einher mit der Verantwortung eines jeden für sich selbst, aber eben auch für andere.

Demokratie ist das höchste Gut auf dem unsere westlichen Staaten fußen. Wir treten für sie ein und verteidigen sie, wenn nötig, denn nur allzu schmerzlich haben wir erfahren, was es bedeutet, nicht in einer solchen Staatsform zu leben. Auch heute sehen wir es noch in viel zu vielen Ländern. Unsere Demokratie erachten wir als selbstverständlich, jedoch ist sie nicht garantiert und muss immer wieder vor Feinden geschützt werden.

Das Wesen unserer Demokratie macht aus, dass wir die Möglichkeit zu freien, geheimen und gleichen Wahlen haben, dass wir anderer Meinung als die Regierung sein dürfen, ohne dafür Konsequenzen fürchten zu müssen, dass durch die demokratischen Institutionen unsere Grundrechte geschützt werden. Dass wir uns auf unsere Verfassung berufen können und unsere Menschenrechte geachtet werden; Dass wir demonstrieren dürfen und unsere Meinung frei äußern können – glücklicherweise kennen unsere jungen Leute, die hier geboren und groß geworden sind, keinen anderen Zustand.

Dass diese Werte, diese Prinzipien jedoch noch lange nicht universell sind, sehen wir an unserer Geschichte, aber auch an Staaten wie Syrien oder dem Iran, wo Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, Oppositionelle und Andersdenkende erschossen, Homosexuelle gefoltert und Frauen gesteinigt werden. Von der Möglichkeit der politischen Willensbildung und einer freiheitlich-demokratischen Ordnung nach rechtstaatlichem Prinzip ist man dort noch weit entfernt.

Kein Wunder, dass wir heute die höchste Zahl an Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg verzeichnen müssen. Über 60 Millionen Menschen sind zurzeit auf der Flucht und streben nach einem besseren und vor allem sicheren Leben.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ – so heißt es in der UN-Menschenrechts-Charta. Die Mitgliedsstaaten der UN-Generalversammlung haben sich am 10. Dezember 1948 zu diesen Grundsätzen bekannt. Welches Ausmaß die Missachtung bzw. das Fehlen von Menschenrechten nehmen kann, hatte man nur ein paar Jahre zuvor auf schmerzhafte Weise gesehen.

Die Schoa und die Ermordung von sechs Millionen Menschen, einzig aus dem Grund, weil sie jüdisch waren, hat eine bis dato unglaubliche Dimension der Unmenschlichkeit offenbart und gilt als das größte Menschheitsverbrechen aller Zeiten. Dem vorausgegangen waren die systematische Verfolgung und das Absprechen der Rechte, ja das Absprechen des „Mensch-Seins“, welches eine Demütigung und eine schier unglaubliche Verletzung der Würde beinhaltete. Die Nazis habe Juden, aber auch andere Minderheiten, wie Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und politisch Andersdenkende nicht mehr als Individuen, nicht mehr als Menschen betrachtet. Die Würde des Menschen war damals nichts wert.

In der Erklärung der Menschenrechte heißt es deswegen richtig, dass die Rechte jedem Menschen zustehen, „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ bestehen.

Und in der Präambel wird die grundsätzliche Absicht von „Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“, sowie der Glaube an die grundlegenden Menschenrechte, an „die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“ deklariert. Da die Charta keine verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts ist, gibt es immer noch viele Mitglieder der UNO, die sich ganz und gar nicht der Deklaration und ihrer dort beschriebenen Werte verpflichtet fühlen. Dies manifestiert den immensen Unterschied zwischen den vorhandenen Wertevorstellungen, die kulturell, religiös und historisch unterschiedlich geprägt sind.

Es wirkt schon fast ironisch, dass die erste Internationale Konferenz über Menschenrechte 1968 in Teheran stattfand. Dort, wo heute Menschenrechte mit Füßen getreten werden und Amnesty International einen beispiellosen Anstieg von Hinrichtungen, Repression und Gewalt verzeichnet.

Allzu oft sehen wir auch, wie heuchlerisch die Debatte um Menschenrechte geführt wird. So ist der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen besetzt und war teils geführt von Staaten, die genau gegen das ursprüngliche Selbstverständnis und gegen ihre Aufgabe agieren und es als Plattform missbrauchen, um lediglich gegen einen Staat, einen demokratischen Staat, vorzugehen und Verurteilungen zu beschließen, die ihn verunglimpfen und isolieren sollen: Gegen Israel.

Von 115 Verurteilungen, die der UN-Menschenrechtsrat von 2006 bis 2015 deklariert hat, sind über 60 gegen Israel gerichtet. Menschenrechtsverletzungen in Staaten wie Syrien, Iran, Nord-Korea oder Libyen werden dabei kaum geahndet.

Die Frage nach unserem geistig-kulturellen Zuhause soll hier aber unter anderem Gegenstand der Veranstaltung sein. Ein wichtiges Thema, über das wir sprechen müssen. Mir war gar nicht bewusst, wie viele Experten es in Deutschland zum Thema unserer kulturhistorischen Prägung gibt. Man hat zuweilen den Anschein, dass jeder nach Belieben zu einem Kulturhistoriker avanciert und mit Begriffen um sich wirft, die teils fahrlässig, teils unzureichend verwendet und für ihre jeweiligen Zwecke instrumentalisiert werden.

Ich denke oft, wenn wir nur halb so viel Zeit darin investieren würden, über das zu sprechen, was uns in Zukunft einen und prägen soll, anstatt darüber zu debattieren, was in der Vergangenheit dafür ausschlaggebend war, würden wir unsere Gesellschaft und das Miteinander viel weiter voran bringen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, man muss wissen, wer und was man ist, um dieses auch vermitteln zu können. Es gehört schließlich zur Genese eines Staates und einer Nation, dass er von bestimmten Ereignissen UND Kulturen sowie Religionen geprägt ist. So wie wir uns schließlich auch als Menschen entwickeln und dabei von verschiedenen Einflüssen geprägt sind, so geschieht es eben auch mit unserer Umgebung. Und wie bei Menschen auch, können die Einflüsse und Entwicklungen in eine gute Richtung oder aber in eine schlechte führen. Das letzte Jahrhundert hat wie kein anderes gezeigt, zu was ein Staat, die Macht in einem Staat, die eine schlechte Richtung eingeschlagen hat, fähig ist.

Das, auf was wir heute zurückblicken und so verteidigen, stammt auch aus den Lehren die wir aus der Schoah gezogen haben. Die Notwendigkeit der universell geltenden Menschenrechte, auch unsere Menschenrechtskonventionen, all dies hat über sechs Millionen berechtigte Gründe.

Wir müssen uns unserer tragenden Werte bewusst sein, doch denke ich, dass uns die Streitfrage über das „Copyright“ dieser Werte auf Dauer nicht weiter bringt. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass alle bei uns lebenden Menschen sich mit diesen Werten identifizieren können und sich ihrer annehmen. Ich meine damit kein Aufoktroyieren, sondern ein Vermitteln. Und dabei wünsche ich mir, dass wir dies selbstbewusst und mit der immanenten Überzeugung ob der Logik und Plausibilität unserer Werte tun. Wer sollte nicht etwa für Freiheit und Gerechtigkeit sein wollen? Wer bevorzugt denn ernsthaft die Diktatur gegenüber der Demokratie? Wer möchte der Toleranz, die einem jeden die Möglichkeit zugesteht, so zu sein, wie er sein möchte, denn tatsächlich die Intoleranz vorziehen, die Menschen einschränkt, sie ausgrenzt und diskriminiert?

Verehrte Damen und Herren, halten Sie mich nun nicht für naiv. Ich weiß sehr wohl, dass es solche Menschen gibt. Und ich rede nicht nur von Teilen derer, die gerade im Zuge der Flüchtlingswelle zu uns gekommen sind. Ausgrenzung und Intoleranz sind nicht neu und wurden auch nicht erst seit dem letzten Jahr nach Deutschland gebracht. Intoleranz, Hass und Extremismus gab und gibt es in Deutschland. Und den müssen wir mit aller Macht bekämpfen. Das fängt dabei an, dass wir es nicht mehr akzeptieren dürfen, dass in Deutschland kleine Kommunen zu braunen Sumpfgebieten werden, die von Politik und Zivilgesellschaft verlassen und dortige Menschen im Stich gelassen werden. Etwas zu ignorieren bedeutet nicht, dass es verschwindet. Ganz im Gegenteil, wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken, in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst löst. Wir müssen den Sand endlich aus unseren Augen wischen und das Problem angehen.

Aktuell versuchen rechtspopulistische Kräfte die Gesellschaft auseinanderzuführen, sie zu spalten. Diese divergierenden Kräfte betonen das vermeintlich Unterschiedliche. Das Unterschiedliche als scheinbar Trennende und vor allem nicht Überwindbare. Diesen Kräften dürfen wir nicht folgen, sondern müssen dem erkennbaren Rechtsruck in der Gesellschaft massiv entgegentreten.

Bewegungen wir PEGIDA oder die AfD versuchen eine synthetische Einheit durch, ihrer Ansicht nach, nationale Werte und ein gemeinsames Feindbild zu schaffen. Heute wenden sich diese Gruppen gegen den Islam, schon morgen, so haben wir aus der Geschichte gelernt, kann sich die Aversion gegen eine andere Minderheit wenden. Deswegen ist es wichtig JETZT zu agieren. Nicht später oder morgen! Heute und Hier – es ist höchste Zeit.

Es sind nämlich solche Gruppierungen, die vorgeben, identitätsstiftend zu wirken und dadurch Radikalisierung und Extremismus ihren Weg bereiten. Die Schaffung einer Pseudo-Identität, die auch in den islamistischen Kreisen, durch Salafisten, gerade viele junge Menschen in ihren Bann zieht. Propagandisten und Prediger nutzen die Unsicherheit der Menschen, die sich verloren fühlen in der Gesellschaft. Die dann nach Syrien oder Afghanistan reisen, weil sie glauben, dort besser aufgehoben zu sein und sie später als Hass-indoktrinierte Kämpfer nach Europa zurückkehren lässt, um ihre „Werte“, ihre radikalen Werte, mit aller Gewalt durchzusetzen. Sei es weil sie vorab wirtschaftlich oder aber sozial marginalisiert wurden oder sich einfach nicht ernst genommen und unverstanden fühlten. Dieses Gefühl der Isolation, psychisch oder auch physisch, dient Extremisten jeglicher Couleur als Nährboden.

Ein Zustand, den wir in ganz Europa vernehmen müssen: In den letzten Europa- Parlamentswahlen wehte ein rauer, rechter Wind. Wohingegen der islamistische Terrorismus unser Kontinent nicht erst seit den fürchterlichen Anschlägen in Paris im vergangenen Jahr erreicht hat.

„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ So beginnt die Präambel der Charta der Grundrechte der EU.

Diese Werte und die in unserer Verfassung verbrieften Grundrechte sind die Konsequenz aus Humanismus und Aufklärung. Die Geschichte der europäischen Einigung zeigt, dass wir gemeinsame wesentliche Grundsätze und Prinzipien haben, die auf ein kulturelles Gemeingut schließen. Ihr biblischer Ursprung lässt sich in vielerlei Hinsicht erkennen. Die jüdisch-christliche Prägung besteht ohne Zweifel und der Wunsch nach einer einenden Gemeinschaft, um die Teilung Europas zu überwinden, begründet noch heute die europäische Wertevorstellung. Das Ziel von Frieden und Wohlstand bestimmt unser Handeln. Und dabei gilt der Mensch als tatsächlich höchster Wert – im Sinne eines gleichberechtigten Wesens, dessen Würde unantastbares Gut ist.

Was uns heute aber prägt und uns eint, weil es uns auch einen MUSS, sind auch unsere gemeinsamen Herausforderungen und Interessen. Das Streben nach dem übergeordneten Ziel des Friedens schließt die Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen nicht aus. Eine globalisierte Welt, die immer näher zusammenrückt, erfordert auch eine wirtschaftlich engere Zusammenarbeit. Aber auch die Probleme einen uns. Eine Schicksalsgemeinschaft, die ihr Schicksal jedoch selbst in die Hand nehmen sollte. Hier denke ich vor allem an sicherheitspolitische Interessen und Herausforderungen. Der internationale Terrorismus hat uns vor neuen Hürden gestellt, die wir nur gemeinsam bewältigen können.

Zwar ist die Internationalisierung des Terrorismus nicht neu und seit den 60er Jahren weltweit zu vernehmen, doch ist es wie so oft: Wir nehmen erst dann etwas stärker wahr, wenn es unmittelbar einen selbst betrifft oder vor unserer Haustür geschieht.

Die Zusammenarbeit der internationalen Geheimdienste, der Austausch von Informationen im Rahmen der rechtstaatlichen Möglichkeiten, aber auch die gemeinsame öffentliche Verurteilung von Straftaten sind das A und O bei der Bekämpfung von Terrorismus. Und wir mussten in den letzten Jahren miterleben, dass der islamistische Terrorismus Europa schon längst erreicht hat – der sogenannte „Islamische Staat“ ist als brandgefährlicher Akteur neu hinzugekommen.

Der Präsident des Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen hat erst kürzlich bekannt gegeben, dass der IS seine Leute mit dem Flüchtlingsstrom in Europa infiltriert hat. Es ist eben kein Phänomen, das im fernen Nahen Osten an der Tagesordnung ist. Das war es übrigens nie, denkt man nur an den Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 oder die Entführung der „Landshut“ fünf Jahre später, um nur Vorfälle mit direktem deutschen Bezug zu nennen. Es ist eben kein Problem, der „Anderen“, die oftmals als „selbst schuld“ bezeichnet werden, im naiven Halbwissen vieler selbsternannter Terrorismusexperten.

Und es ist auch eben kein Angriff ausschließlich auf israelische oder jüdische Menschen, die für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden. Nein, es ist unser aller Problem. Denn hier werden unsere Werte angegriffen: Werte, die wir in jahrhundertelanger Schwerstarbeit erkämpft haben. Die westlichen Werte von Freiheit und Toleranz sind die Feindbilder einer extremistischen Ideologie, die keine Kompromisse zulässt. Ein Angriff auf einen jüdischen Supermarkt ist keineswegs gerechtfertigt oder besser nachzuvollziehen als ein Angriff auf ein Satiremagazin oder ein Restaurant. Terror bleibt durch nichts zu rechtfertigen, weder hier in Deutschland, noch in Europa noch in Israel.

Und wichtig ist mir zu betonen, dass dies nichts mit den Muslimen zu tun hat, die ihre Religion in Frieden und im Miteinander leben wollen. Es hat aber wohl mit der Auslegung des Islams zu tun, da diese von Propagandisten durch ihre extremistische und fanatische Interpretation missbraucht wird.

Deswegen sollten auch muslimische Verbände sich stärker dagegen aussprechen und sich der Bekämpfung von Antisemitismus und Radikalisierung in den eigenen Reihen stärker annehmen.

Wenn wir über Werte in unserer heutigen Zeit reden, dann sehen wir glücklicherweise, dass wir eine Wertegemeinschaft teilen, die über die Grenzen Deutschlands, aber auch über die Grenzen Europas hinausgeht. Und ich denke da nicht nur an unsere amerikanischen Freunde, sondern an Israel – der einzige jüdische Staat auf der Welt, die einzige Demokratie im Nahen Osten. Wir teilen eine Wertegemeinschaft, die auf den Grundpfeilern von Menschenrechten, Freiheit und Gleichberechtigung steht.

Es lohnt sich an dieser Stelle aber einmal einen kleinen Exkurs zu machen, dahingehend einmal nachzudenken, ob wir alle, die wir diese Werte teilen, auch die gleichen Bemühungen an den Tag legen müssen, diese zu festigen und zu verteidigen. Oder es gegebenenfalls doch auch durch die geo- und sicherheitspolitische Lage mancher Staaten nochmals besonders ist, diese Werte aufrecht zu erhalten.

Hier in Deutschland, in dem wir sicherlich auch unsere Probleme haben und uns neuen Herausforderungen gegenübergestellt sehen, sind wir doch eingebettet und umgeben von Freunden und Partnern um uns herum, die die gleichen Werte teilen und bei einem Angriff auf diese, gemeinsam an unserer Seite stehen würden. So wie Bundeskanzlerin Merkel es sehr richtig und selbstverständlich gegenüber unseren französischen Nachbarn nach den schrecklichen Attentaten im letzten Jahr zum Ausdruck brachte.

Und jetzt blicken wir einmal auf den Staat Israel, der gerade einmal so groß ist wie das Bundesland Hessen. Israel, das seit seiner Staatsgründung 1948 in seiner Existenz tagtäglich bedroht wird und umgeben ist von Feinden, die seine Zerstörung wollen. Staaten, in denen Repression, Unfreiheit, Diktatur, Menschenrechtsverletzungen zum Alltag gehören.

Israel ist in diesem rauen Meer an Despotie die Insel der Freiheit und der Verfechter unserer westlichen Werte. Die Werte, die wir hier in Deutschland und Europa leben und leben können, auch weil Israel sie sozusagen am westlichen Außenposten verteidigt – alleine gegen die Feinde, die auch uns hier in Berlin, in Paris und London, diese Werte nehmen und unser Leben, wie wir es bisher kannten, verwehren möchten.

Die Waffe der Terroristen ist deren Unberechenbarkeit und das Spiel mit der irrationalen Angst. Das Leben, wie wir es kennen, unmöglich zu machen, aufgrund einer vermittelten Angst, die besagt, dass es uns überall treffen kann, weil sie überall zuschlagen können – das ist das Ziel von Terror. Israel erfährt dies bereits jahrzehntelang: Busse werden in die Luft gesprengt, Jugendliche in Diskotheken von Selbstmordattentätern in den Tod gerissen, Raketen im Minutentakt auf israelische Städte abgefeuert, in denen Kinder nur 90 Sekunden Zeit haben, sich in Schutzbunker zu flüchten, Messerattacken und vieles Grausames mehr.

Es ist ein komplexes und wichtiges Thema, dem sich eine ausführliche Widmung gebührt, die diesen Rahmen sprengen würde. Ich erwähne dies lediglich, um aufzuzeigen, dass es zwar sehr einfach sein mag, zu sagen, wir müssten unsere Werte verteidigen, es aber Unterschiede gibt, wo und wie wir dieses tun müssen.

Ja, wir teilen mit Israel eine Wertegemeinschaft. Israel lebt unsere gemeinsamen Werte und betrachtet diese als höchstes Gut, trotz seiner prekären Sicherheitslage und Gefährdung seiner Bürgerinnen und Bürger, deren Schutz die wichtigste Pflicht eines Staates ist.

Deshalb sollten viele, die in Europa sitzen und sich sehr schnell in Verurteilungen üben oder sich lieber mit diskriminierenden Kennzeichnungen auf Weinflaschen beschäftigen und dabei alle anderen Staaten außer Acht lassen, etwas mehr Verständnis zeigen für diesen Staat. Und sich doch lieber für eine universelle Definition von Terrorismus, sowie eine neue Definition von Antisemitismus einsetzen, die auch der modernen Erscheinungsform dieses Judenhasses Rechnung trägt.

Doch kommen wir zurück nach Europa: Oft wird, wie schon erwähnt, über den Ursprung unseres geistigen und kulturellen Erbes gesprochen. Eine „Mischung aus griechischer Philosophie, römischem Recht, Christentum, Humanismus und Aufklärung“, nannte es der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok vor einigen Jahren. Sie verstehen, dass ich das Judentum in dieser Auflistung als ganz entscheidend ergänzen möchte.

Der Wochenabschnitt „Mischpatim“ aus dem 2. Buch Mose handelt von Gesetzen und Rechtsvorschriften. Darin werden auch Weisungen aufgezählt, die wir gegenüber unseren Mitmenschen haben. Es ist die Aufzählung der Gesetze, die das jüdische Volk am Berge Sinai erhalten hat. Die Tora dient daher seit jeher als Wegweiser für „Gut und Böse“, als spirituelle Kraftquelle, aber eben auch als „Anleitung“ zur Regelung des eigenen Lebens, wie auch des Miteinanders. Es werden Gesetze und Prinzipien aufgestellt, mit deren Hilfe der Mensch zum höheren Ideal gelangen soll. Die Bibel ist daher eine Lehre fürs Leben. Sie hält Rechtsvorschriften bereit, soll aber auch Antworten in allen praktischen Fragen geben. Sie beschreibt das richtige Handeln, gerade auch im Umgang mit den Schwachen und Vernachlässigten. Und damit ist sie die Basis unserer Werte geworden. So wie es im Übrigen die Zehn Gebote sind, auf die man allgemein sagen kann, unsere gänzliche Wertevorstellung begründet ist.

Es liegt an uns, eine Gesellschaft zu schaffen, die diese Werte respektiert. Wir müssen uns klar werden, was für eine Gesellschaft dies werden soll, denn sie ist zukunftsweisend für unsere nachkommenden Generationen und soll diese einen.

In der jüdischen Geschichte war übrigens der Auszug aus Ägypten ausschlaggebend dafür, dass das jüdische Volk zu einer Einheit wurde. Mit dem Erhalt der Zehn Gebote wurde die Definition unseres jüdischen Wertesystems geliefert, welche die Fürsorge für die Schwachen, Kranken, Benachteiligten und Fremden in hohem Maße betont. Die jüdische Ethik mit ihren Rechtsnormen und Wertvorstellungen fordert uns dazu auf, die schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft zu unterstützen.

Sicherlich hat die Schoah das Judentum nochmal besonders geprägt, sie hat zweifelsohne viele Fragen aufgeworfen und Zweifel an moralischen Überzeugungen und unseren Werten begründet. Wenn Menschen anderen Menschen so etwas antun können, wie kann man dann noch an Mitgefühl und Menschlichkeit glauben?

Doch diese dunkelste Zeit, in der Schatten und Kälte herrschten, brachte auch einige kleine Lichter und Funken von Wärme hervor.

Menschen, die heute in Yad Vashem zum Beispiel als Gerechte unter den Völkern geehrt werden und damals, unter Gefährdung des eigenen Lebens, ihren jüdischen Nachbarn und Freunden geholfen haben. Dass Menschlichkeit in einer so grausamen Zeit, wenn auch viel zu selten, überlebt hat, zeigt, dass dieser Wert viel stärker ist, als alles andere. Dies war wohl auch der Grund, warum mutige Menschen sich entschieden haben nach 1945 wieder aufeinander zuzugehen und den Glauben an Gerechtigkeit und das Miteinander nicht zu verlieren. Es waren couragierte Persönlichkeiten, die die Pionierarbeit für die jüdisch-deutsche Versöhnung geleistet und einen enormen Vertrauensvorschuss gewagt haben.

„Uns verbindet mehr als uns trennt!“ Das hört man immer wieder. Das gilt insbesondere für den interkulturellen Dialog. Ich plädiere ja sehr dafür, dass eine pluralistische Gemeinschaft, so wie wir sie mittlerweile in Deutschland haben, nicht als Bedrohung verstanden werden soll, im Gegenteil: Sie sollte als Bereicherung erkannt und so auch unseren Kindern vermittelt werden.

Ich möchte an dieser Stelle einmal aus dem Nähkästchen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland plaudern: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren von den ehemals 500.000 jüdischen Bürgern in Deutschland lediglich 15.000 übrig. Mit dem Ankommen der sogenannten „Displaced Persons“ wuchs die Zahl auf circa 25.000 jüdischer Menschen im Nachkriegsdeutschland an.

Zuerst nur als Provisorium gedacht, entwickelte sich aus dem Übergang für eine nicht unerhebliche Gruppe eine neue Lebensperspektive in Deutschland. Aus dem Provisorium wurde allmählich eine Konstante. Obwohl diese Menschen ständig, oft bis an ihr Lebensende mit der Entscheidung in Deutschland, im Land der Täter, zu bleiben sehr haderten. Sie fühlten sich schuldig, waren sie doch oft die einzigen Überlebenden ihrer ganzen Familie. Dieser psychische Zustand und das innere mit-sich-Ringen hatte Auswirkung auch auf die zweite und sogar dritte Generation.

Die sollten wir übrigens heute, da wir von würdigem Gedenken und Erinnerungskultur in Zeiten NACH den letzten Überlebenden reden oder vielmehr reden müssten, nicht vergessen. Auch das gehört nämlich zu unseren Werten, die wir vermitteln müssen; zu unserer Identität: die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und die Lehre die wir ziehen daraus. Ja, diese Verantwortung ist uns allen gemein. Die Verantwortung, wissen zu müssen, um so etwas nie wieder geschehen zu lassen. Das muss für jeden in Deutschland gelten – ob nun schon immer hier gewesen oder neu zugewandert. Leben in Deutschland bedeutet nicht nur eine gemeinsame Zukunft teilen, sondern eben auch die Verantwortung aus der Vergangenheit.

In den Nachkriegsjahren blieb die Größe der jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland relativ konstant, circa 25.000 Gemeindemitglieder bildeten nun rund 50 Gemeinden. Bereits in dieser Zeit verzeichnete auch die kleine jüdische Gemeinschaft ein Potpourri aus verschiedenen kulturellen Einflüssen. Von einer Kluft zwischen „Westjuden“ und „Ostjuden“ war oftmals die Rede. Verschiedene religiöse Strömungen, die irgendwie vereint werden mussten. Möglichkeiten mussten geschaffen werden, dass jeder jüdische Mensch seinen Platz in dieser kleinen religiösen Gemeinschaft finden konnte. Daher stammt die Idee der so genannten „Einheitsgemeinde“ – ein Dach, unter dem verschieden Strömungen ihr Zuhause finden, es also allen ermöglicht, ihr religiöses Verständnis zu leben.

Der Zustand der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland war dennoch gefährdet, wie Sie sicherlich wissen, obwohl sich jüdisches Leben deutlicher und sichtbarer machte und auch wieder mit lauter Stimme für ihre Anliegen in die Öffentlichkeit trat. Immer mehr fand sie letztendlich auch Gehör.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber, ab 1990 begann eine ganz neue Ära für die jüdische Gemeinschaft. Numerisch wurden wir auf eine ganz neue Position katapultiert, neue Chancen ergaben sich für eine langfristige jüdische Zukunft in diesem Land.

Die Integration dieser Menschen war seitdem eine der Hauptaufgaben des Zentralrats, beziehungsweise der Gemeinden. Es handelte sich hierbei um eine ganz besondere Konstellation, denn eine Minorität musste eine Majorität integrieren: 10% der sogenannten Alteingesessenen mussten 90% an Neuzuwanderern integrieren. Viele fragen sich, ob man wirklich von Integration sprechen kann oder ob es sich nicht doch eher um eine neue Konstituierung, ein ganz neues Zusammenwachsen gehandelt hat, das hier und dort sicher einige Herausforderungen bereithielt und zum Teil noch heute bereithält.

Und auch hier ging es um die Frage, wie man es schafft, eine heterogene Gemeinschaft zusammenzuhalten und zukunftsfähig zu machen. Eine Parallele, die ich bewusst zu unserem heutigen Zustand ziehen möchte. Es prallten verschiedene Mentalitäten aufeinander. Verschiedene Ansichten und Perspektiven auf Religion UND Geschichte.

Ein Beispiel: Die jüdischen Gemeinden gedachten jährlich der Reichspogromnacht am 9. November. Seit der Zuwanderung erinnert und feiert man aber auch den 8. bzw. 9. Mai. Das hört sich erstmal nur nach einer weiteren Gedenkzeremonie an, aber es ist viel mehr. Die jüdische Gemeinschaft wurde damit auf ganz besondere Weise geprägt: Denn der 9. November steht sinnbildlich für den Beginn der Ausgrenzung der jüdischen Gemeinschaft zur Nazi-Zeit und der Beginn des „Opfertums/Opfer-Seins“, zu dem wir von den Nazis gemacht wurden. Das ist die Perspektive, die all die Jahre in den jüdischen Gemeinden, aber auch in der deutschen Gesellschaft vorherrschte. Die Erwähnung der vielen Märtyrer und Widerständler, die sich dem Nazi-Regime widersetzten und Erstaunliches, Unbeschreibliches leisteten, ist dabei vielerorts unterlassen worden.

Mit der Zuwanderung erhielt die jüdische Gemeinde nun auch die Perspektive der „Sieger“. Es kamen Familien, deren Väter und Großväter zu den „Helden der Sowjetunion“ zählten und die gleichnamige Auszeichnung erhielten, weil sie dabei halfen, die Nazis zu besiegen. Daher gibt es in den jüdischen Gemeinden heute zum 8. Mai große Feiern, an denen die Veteranen mit all ihren Medaillen an der stolzen Brust und ihren Enkelkinder an der Hand den Tag zelebrieren. Eine immer wieder sehr bewegende Feier.

Aber um auf die Integration zurückzukommen: Man hatte vorab politisch die Konditionen etabliert, die zwar später leider verschärft wurden, für die wir der Politik jedoch immer dankbar sein werden. Die jüdischen Gemeinden und die Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland offerierten Sprachkurse, Hilfe bei Behördengängen, Unterstützung bei der Wohnungs- und Jobsuche. Auch die Wieder-Entdeckung der jüdischen Wurzeln und das Näherbringen des Judentums wurden von unseren Rabbinerinnen und Rabbinern unterstützend angeboten, denn das Ausleben des Judentums war in den Heimatländern der Zuwanderer oft nicht möglich. Religion war verpönt und das Judentum ganz besonders.

Aber bei all dem politischen und bürokratischen Voraussetzungen, war eine weitere Bedingung vorhanden, die ganz wichtig war: Die hier lebende jüdischen Gemeinschaft empfing die Zuwanderer mit offenen Armen. Man brauchte diese Menschen nicht nur, man WOLLTE sie! Das spürten sie ganz deutlich.

Im Zuge dieser Zuwanderung kamen viele Fragen auf. Fragen, die uns heute und genau hier bei dieser Veranstaltung ebenfalls beschäftigen: Die Frage der Identität und was sie letztendlich konstituiert. Was macht das Judentum aus: Ist es die „pure“ Religion, ist es die Tradition, die Kultur oder gar die Schicksalsgemeinschaft?

Ich selbst habe keine eindeutige Antwort darauf. Und eigentlich möchte ich so konkret auch keine finden, denn dies würde zur Folge haben, dass es Menschen, die das Judentum für sich möglicherweise anderes definieren und verstehen, ausschließen würde. Daher sage ich, es ist wahrscheinlich ein Gesamtkonstrukt, welches von der Dynamik und der Gestaltung seiner Mitglieder lebt.

Und das würde ich gerne übertragen wollen, quasi als Vorbild für unsere Gesellschaft. Natürlich braucht ein gemeinsames Haus Stützpfeiler, die es tragen. Diese müssen definiert, klar und gefestigt sein. Aber um ein gemeinsames Haus zu schaffen, spielt es keine Rolle, welche Farbe die einzelnen Wände der Räume haben oder wie genau es möbliert ist. Wenn man sich der tragenden Säulen bewusst ist, kann es ein gemeinsames Dach geben, welches seinen Bewohnern Schutz, aber auch Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Das ist uns im Falle der jüdischen Gemeinschaft gelungen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland fungiert als Dach im Sinne der politischen Interessenvertretung, unter dem jeder Jude nach seiner Fasson jüdisch und glücklich sein kann.

Es geht intern also darum, die Einheit in der Vielfalt zu bewahren: Verschiedene Strömungen und Grade der Orthodoxie dennoch unter einem Dach zu halten und es somit zu vereinfachen, seine gemeinsamen Interessen durchzusetzen. Wir sehen es gerade auf muslimischer Seite, wie schwer es ist, auch und gerade für die Politik und Kirchen, einen Ansprechpartner zu finden. Es gibt viele, fraktionierte, zum Teil konkurrierende Organisationen mit einem äußerst geringen Vertretungsanspruch – das ist beim Zentralrat der Juden in Deutschland anders und vereinfacht vieles enorm.

Doch gerade auf der interkulturellen Ebene und im interkulturellen Dialog, ist es uns wichtig, Fortschritte zu machen, weiter zu kommen, das Erreichte zu festigen und darüber hinaus zu wachsen. Uns, der jüdischen Gemeinschaft ist es wichtig zu zeigen, dass wir in der Tat mehr gemeinsam haben, als uns trennt. Das ist auch der Grundgedanke der europäischen Einheit.

Angesichts der zu uns flüchtenden Menschen, waren wir unter den Ersten, die für sie eingetreten sind und gesagt haben, dass wir Hilfe gewähren müssen. Es liegt in der religiösen und ethischen Natur des Judentums, ja es ist unsere religiöse und moralische Pflicht, Menschen in Not zu helfen, egal woher sie kommen.

»Du sollst einen Fremden nicht bedrücken, weil du die Gefühle des Fremden kennst, denn fremd warst du im Land Ägypten« so heißt es im 2. Buch Mose. Darüber hinaus kann die jüdische Gemeinschaft (leider) mit einer Geschichte der Vertreibung und Verfolgung aufwarten, die es uns erlaubt, die Menschen, die nun auf der Flucht sind, zu gut zu verstehen.

Wer kann besser nachvollziehen, was es heißt, vor Krieg und Leid fliehen zu müssen, mit dem einzigen Wunsch, für sich und seine Familie Schutz und Obdach zu finden? Wer versteht es besser, irgendwo fremd der Heimat in einer unbekannten Umgebung von vorn beginnen zu müssen, als wir, die jüdische Gemeinschaft?

Ich möchte aber auch betonen, dass die jüdische Verpflichtung, notleidenden Menschen zu helfen, welche später in den Humanismus und den universellen Menschenrechten seinen Ausdruck fand, keineswegs ausschließt, dass man dabei auch seine Sorgen artikuliert. So haben wir, und ich als Zentralratspräsident voran, trotz Betonung der Fürsorgepflicht auch gesagt, dass wir uns Sorgen machen, mit welchen politischen Einstellungen und Werten diese Menschen zu uns kommen.

Menschen, die aus Ländern wir Irak und Syrien stammen, in denen nicht nur der Hass auf Israel, sondern auch der Hass auf Juden zur Staatsdoktrin gehören und mit dem bereits Kleinkinder indoktriniert werden. Ist es da abwegig, unsere Sorge vor einem Anstieg von Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen?

70 Jahre nach Ende der Schoah hat die regierende Unionsfraktion die Notwendigkeit gesehen im letzten Jahr eine Tagung zu veranstalten, zur „Sicherheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland“. Ich durfte bei dieser Tagung eine Keynote halten. Dabei habe ich mich bedankt für das Engagement, sich diesem Thema zu widmen, was nur beweist, dass wir uns auf die Unionsfraktion und auch auf ihre Stiftungen immerzu verlassen können. Und gleichzeitig war ich persönlich erschüttert, dass es heutzutage notwendig ist, solch eine Konferenz zu veranstalten und das am Ende des Satzes „Die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“ ein Fragezeichen anstelle eines klaren Ausrufezeichens im Programmheft stand.

Das darf und möchte ich nicht akzeptieren, nicht als Jude UND nicht als Bürger dieses Staates. Wir alle dürfen es nicht akzeptieren.

Genauso, wie wir gegen die fast schon in Vergessenheit geratenen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung etwas unternehmen müssen, denen seit Jahren in Umfragen immer wieder ein latenter Antisemitismus attestiert wird. 20 Prozent, das sind in Zahlen schätzungsweise 16 Millionen Menschen, die in irgendeiner Art und Weise judenfeindlich eingestellt sind oder derartige Denkmuster vertreten.

Genauso müssen wir gegen den linksextremen Antisemitismus vorgehen, der zu gerne im Gewand einer vermeintlich legitimen Israelkritik in Erscheinung tritt. Und last but DEFINETELY not least müssen wir als Zivilgesellschaft und religionsübergreifend gegen den Hass aus der islamistischen Szene vorgehen.

Dass die Lehre über den Holocaust mit dem Nahostkonflikt vermischt bei den Jüngsten zum Politikum wird und als Grund für Antisemitismus dient, ist ein Skandal. Es beeindruckt kaum noch jemanden, dass das Wort „Jude“ als Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen verwendet wird. Diese Indifferenz ist allzu gefährlich.

Dies haben wir bereits während der pro-palästinensischen Demonstrationen gesehen, im Sommer 2014, auf denen sich antisemitische Hassparolen ihre Bahn brachen. Wo war der Aufschrei der Zivilgesellschaft? Wo war der Aufstand der Anständigen gegen Antisemitismus? Erst wir, als Zentralrat mussten zu einer Kundgebung gegen Judenhass aufrufen! Politiker und Vertreter von Kirche waren sehr prominent vertreten, jedoch blieb die Masse auf der Straße aus. Und diese Indifferenz spüren wir auch heute, wenn es um unsere Sorge vor dem so genannten „importierten Antisemitismus“ geht.

Eine weitere Indifferenz macht sich aber auch bemerkbar, wenn wir uns die Reaktion auf die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte vergegenwärtigen. Über 1000 Angriffe gab es bereits. Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien kreieren und nutzen eine Stimmung der Verunsicherung, um Hetze zu schüren gegen Ausländer und Minderheiten. PEGIDA hat auf erschreckende Weise Leute in ihren Bann gezogen, die sich teilweise gar nicht mehr daran stören, hinter und mit welchen Menschen sie da mitlaufen – Neonazis und Rassisten!

Auch die AfD müssen wir benennen. Es bringt nichts, uns diese rechtspopulistische Partei wegzuwünschen, wir müssen uns ihr stellen, mit all unseren demokratischen Kräften. Die AfD ist ein Beispiel dafür, wie eine Partei den Boden unseres Grundgesetzes verlässt. Mit ihrem kürzlich verabschiedeten Parteiprogramm zeigt sie ganz offensichtlich ihr Gesicht: Fremdenfeindlich, religionsfeindlich und demokratiefeindlich.

Wir sollten uns mehr auf das „WIR“ anstatt das „Ich“ besinnen. „Der Mensch wird am DU zum ich“ – das sagte der Religionsphilosoph Martin Buber.

Wir haben eine Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft – diese ist unerlässlich für ein friedliches und respektvolles Miteinander. In einer Gesellschaft, in der Schnelllebigkeit und Egoismus viel zu oft Oberhand gewinnen, müssen wir uns unserer Werte bewusst werden. Diese müssen unsere Quelle von Kraft sein und ja, uns auch leiten. Ich wünsche mir daher für ein europäisches Leitbild, dass das bisher Erreichte gewürdigt wird und den künftigen Zusammenhalt stärkt.

Dass diese besagten Werte in Deutschland nicht bloßes Gerede waren, zeigte auf eindrucksvolle Weise die „Willkommenskultur“ zu Beginn der Flüchtlingswelle. Dank gebührt den Organisationen, Verbänden und Vereinen und vor allem den vielen ehrenamtlichen Helfern. Sie waren es, die die Werte von Mitgefühl und Unterstützung mit Leben füllten.

Aber auch abseits der jüngst zu uns geflohenen Menschen gibt es Bedürftige. Trotz des Sozialstaats leben viel zu viele Kinder in Armut und unsere älteren Menschen sind von Altersarmut betroffen. Ihnen muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sind die meisten der über 65-Jährigen auf Grundsicherung angewiesen, weil sie seit ihrer Zuwanderung nach Deutschland trotz ausreichender Qualifikation nicht genug in die Rentenkasse einzahlen konnten und ihre Arbeitszeiten in ihren Heimatländern nicht angerechnet werden.

Ein menschliches Desaster, aber auch ein professionelles Defizit für Deutschland, war die Tatsache, dass man die Berufsabschlüsse dieser Menschen nicht anerkannt hat. So haben viele hochqualifizierte Fachkräfte weit unter ihrer Qualifikation arbeiten müssen. Dies war nicht nur ein ökonomisches Versäumnis für Deutschland, dem es immer noch an qualifizierten Fachkräften in vielen Bereichen mangelt, es verletzte auch die Würde der Menschen, die ihre Zukunft und die ihrer Kinder Deutschland anvertrauten. Diesen Fehler dürfen wir mit den Menschen, die jetzt zu uns kommen, nicht wiederholen. Integration bedeutet Teilhabe! Partizipation am gesellschaftlichen Leben, aber auch am Arbeitsmarkt.

Wir sind eine Gesellschaft, die wie keine andere von ihrer jüngsten Geschichte geprägt ist. Wir sind aber auch „Vorsichts-Gesellschaft“ und müssen ganz besonders auf die vielen Untertöne hören, die eine potentielle Gefahr des Erreichten, des lobenswert Erreichten darstellen. Ein Deutschland, welches seine freiheitliche demokratische Grundordnung als Wertekodex versteht und lebt.

Eine ganz entscheidende Rolle kommt dabei dem Umgang mit Minderheiten und den Schwächsten unserer Gesellschaft zu. Hier misst sich in der Praxis, inwiefern unsere Werte von Toleranz und Respekt auch tatsächlich eingehalten werden. Daher ist der gegenseitige Austausch, das Zuhören und Achten, auf das, was gerade Minderheiten in Deutschland erfahren und erleben, ganz entscheidend für die parlamentarische Arbeit und die Gestaltung der Politik.

Auch ist man es sowohl den zu uns gekommenen Menschen, wie auch der eigenen Bevölkerung schuldig, Konzepte zu erstellen, die ein friedliches Miteinander und kein bloßes Nebeneinander begründen – und zwar langfristig. Dazu gehört ganz unmissverständlich die Vermittlung unseres Wertesystems, die in den Integrationskursen implementiert werden muss.

Für die jüdische Gemeinschaft beinhaltet das zweifelsohne auch die deutlich Absage an den Antisemitismus und auch den Anti-Zionismus. Denn: das Eintreten für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels gehört zur deutschen Staatsraison und damit zum politischen Wertekodex unseres Landes. Für Antisemitismus und Israel-Hass gibt es in unserem Wertesystem keinen Platz! Dafür darf es in Deutschland keinen Platz geben!

Sicherheit für alle ist ein Grundrecht Glaubensfreiheit ist ein Grundrecht, Gleichberechtigung ist ein Grundrecht – dies alles stammt ja nicht von ungefähr. Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nur beständig sein, wenn diese Werte von jedem akzeptiert und die dazugehörigen Pflichten, um diese zu gewährleisten, auch erfüllt werden.

Und dazu müssen wir auch Foren für Begegnungen schaffen, in denen die Unwissenheit, die Unkenntnis oder auch die Skepsis abgebaut werden kann – für ein tatsächlich bereicherndes Miteinander, in dem auch jeder die gleichen Bildungschancen hat. Unter dem Motto: In der Vielfalt vereint – das ist etwas, wohin wir streben sollten. Kulturelle und religiöse Vielfalt als Chance, die wir nutzen sollen.

Und abschließend möchte ich nicht als Präsident des Zentralrats der Juden oder als Arzt reden, sondern als Vater und Großvater: Es geht schließlich um nichts Geringeres als die Gestaltung unserer Zukunft und die Frage, in was für einer Gesellschaft unsere Kinder und Enkelkinder aufwachsen und später leben sollen.

Dass die Förderung des sozialen Friedens, die Förderung von Toleranz und Respekt und das Ausmachen von Gemeinsamkeiten als Fundament einer geeinten Vielfalt, nicht von heute auf morgen abschließend geschehen kann, muss uns allen klar sein.

Mir geht es darum, dass wir dabei den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken und uns nicht vernebeln lassen, von Kräften, die diese Gesellschaft spalten wollen. Solidarität darf eben nicht nur in Sonntagsreden vorkommen, sondern muss auch, wenn nötig, gezeigt werden. Das wünschen wir uns besonders als jüdische Gemeinschaft: Die Garantie der physischen Sicherheit, aber eben auch der emotionalen Sicherheit! Das muss uns einen.

Wir sehen vielen Herausforderungen entgegen, da dürfen wir uns nichts vormachen. Deswegen: Wir dürfen keine Wunder erwarten. Wir müssen sie uns erarbeiten – gemeinsam!

Vielen Dank!

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