Anrede,
zunächst einmal vielen Dank für die Einladung zu Ihrer Ringvorlesung, die in meinen Augen gleich mehrere Dimensionen anspricht. Es geht um Flucht und Migration aus einem historisch-ethischen Blick sowie die Frage der Solidarität aus einer ganz pragmatischen, praktischen Perspektive.
Ich möchte mit einem Gedanken von Leo Baeck seligen Angedenkens beginnen, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiern würde und dessen Deportation in das lagerähnliche Ghetto Theresienstadt sich vor wenigen Tagen im Übrigen zum 80. Mal gejährt hat. Baeck war der Auffassung, dass das, was wir an unserem Mitmenschen tun, der wahre „Gottesdienst“ sei. Das verbindet im Grunde die eingangs erwähnten Dimensionen miteinander. Konkret schrieb Baeck bereits wenige Wochen vor dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Militärrabbiner dienen sollte, - also lange vor dem Schrecken der Schoa – ein Mensch zu sein, bedeute auch ein „Mitmensch“ zu sein. Und das führe zu einer Pflicht der Verantwortung füreinander. Baeck sah seine eigene Arbeit als Militärrabbiner im Ersten Weltkrieg genau in diesem Sinne.
Sie sehen, das, was im Christentum mit dem Begriff „Nächstenliebe“ umschrieben und auch gewissermaßen abstrakt idealisiert wird, finden wir in der jüdischen Ethik als nüchterne Handlungsempfehlung frommen Verhaltens. Heute sehen wir das zum Beispiel im Phänomen der „Mizwa“, was umgangssprachlich so viel heißt wie „gute Tat“. Der Zentralrat der Juden in Deutschland fördert dieses Denken und das daraus resultierende Verhalten – alljährlich gibt es den „Mitzvah Day“. Er basiert auf zentralen jüdischen Werten wie: Tikkun Olam („Verbesserung die Welt“), Zedek („Gerechtigkeit“) und Gemilut Chassadim („Mildtätigkeit“). Das Bewusstwerden daran soll Juden und Nicht-Juden zusammenbringen, um gemeinsam starke Nachbarschaften zu bilden und die Zivilgesellschaft zu stärken. In den Sprüchen der Väter heißt es: Mizwa goreret Mizwa (4,2) – „Eine gute Tat führt zur Nächsten“.
Im November 2022 fand der zentrale „Mitzvah-Day“ in Berlin im Übrigen gemeinsam mit ukrainischen Flüchtlingen statt – über die Republik verteilt gab es viele weitere Aktionen. Das konnte durchaus symbolisch verstanden werden: Die Hilfe für die notleidenden Menschen aus der Ukraine stand in dem vergangenen Jahr im Mittelpunkt der sozialen Aufgaben der jüdischen Gemeinschaft. Viele Mitglieder unserer Gemeinden betrifft der Krieg in der Ukraine direkt. Sie kommen von dort, haben Familien und Bekannte in dem Land. Andere haben Verbindungen nach Russland und leiden unter dem Vorgehen Putins und was dieses für die Menschen und die Russische Föderation bedeutet. In keiner Weise konnten wir Spannungen in den Gemeinden beobachten. Das war ein ganz starkes Zeichen der Menschlichkeit und der Solidarität des jüdischen Lebens in Deutschland.
Mehr als 25.000 Menschen haben in den jüdischen Gemeinden Hilfe und Unterstützung erhalten. Bei der Unterstützung spielte es keine Rolle, ob die Geflüchteten nun jüdisch waren oder nicht – geholfen wurde allen. Jüdisch waren letztendlich nur 20 Prozent, zu denen natürlich ein fortdauernder Kontakt aufgebaut werden konnte, während andere dann in die staatlichen Unterstützungsprogramme übergegangen sind. Ein ganz wichtiger Punkt war dafür die Sprache. Zudem gab es in den Gemeinden die strukturellen Grundlagen, waren doch zahlreiche Gemeindemitglieder in den 1990er und frühen 00er Jahren selbst als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. So bestehen gute Partnerschaften zwischen den Gemeinden und Städten beziehungsweise Behörden. Sozialarbeit gehört zudem zur DNA der jüdischen Gemeinden. Das schließt auch Trauma-Bewältigung ein.
Zu dieser pragmatisch-praktischen Perspektive, wie ich sie eingangs genannt habe, kam eine historische Erfahrung von Flucht, die gewissermaßen wie Humus für das weite Feld der Gemeindearbeit wirkt. Die Erfahrungen der Kontingentflüchtlinge habe ich bereits erwähnt, aber Jüdischsein macht auch ein kollektives Gedächtnis aus, das wie kein Zweites von Fluchtgeschichten geprägt ist. Das beginnt mit der Flucht, oder dem Auszug, aus Ägypten. Jüdinnen und Juden erinnern sich an dieses Ereignis jedes Jahr zu Pessach mit einer ganzen Reihe von Ritualen und übertragen damit auch diese explizit jüdischen Erfahrungen in unsere Zeit.
Und es gibt die grausame Erfahrung der Schoa, die in allen Familien eine Rolle spielt. Wir denken dabei auch an die Konferenz von Évian im Sommer 1938 – einer Zeit, in der Verfolgung und Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in Deutschland und Österreich keine Theorie mehr war. Wenige Wochen später kam es zu den Novemberpogromen.
In Évian trafen sich die westlichen Staaten und Hilfsorganisationen auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt, um über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland zu beraten. Das Ergebnis: Am Ende redeten sich alle Staaten heraus – wirtschaftliche Probleme ließen keine andere Wahl, hieß es.
Zum 80. Jahrestag der Konferenz schrieb der SPIEGEL „Als die Welt sich abwandte“. Jüdischen Leben ist nicht nur deswegen heute davon getrieben, sich niemals abzuwenden, wenn Unrecht geschieht oder wenn Hilfe gesucht wird.
Ich glaube, ohne diesen historischen und ethischen Unterbau kann auch die beste Struktur nur notdürftig helfen. Für wirkliche Solidarität, für Empathie, braucht es das Zusammenspiel dieser Dimensionen und das sehe ich im Judentum ganz besonders gegeben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ich freue mich auf die Diskussion!