"Kein Regierungsjubelfest, aber eine gute Zeit"



Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, beim Festakt zu „300 Jahre Jüdisches Leben in Karlsruhe“, 9.7.2017, Karlsruhe

300 Jahre in die deutsche, zumal die jüdische Geschichte zurückzublicken, das bedeutet stets, Licht- und Schattenseiten zu betrachten. Ich möchte Ihnen zu Beginn Einblick in drei historische Dokumente geben, die diese wechselvolle Geschichte sehr gut widerspiegeln. Und keine Sorge, ich werde es kurz machen.

„Wir Carl Friedrich von Gottes Gnaden Grosherzog zu Baden Herzog zu Zähringen haben durch Unser sechstes Konstitutionsedikt die Juden Unseres Staats den Christen in den Staatsbürgerlichen Verhältnissen gleich gesetzt. Diese Rechtsgleichheit kann jedoch nur alsdann in ihre volle Würkung treten, wenn sie, in politischer und sittlicher Bildung ihnen gleichzukommen allgemein bemüht sind (…)“.

So lautet die wesentliche Passage des berühmten badischen Juden-Edikts von 1809. Es legte die Grundlage für die Emanzipation der Juden in dieser Region.

Wie sehr die Juden sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Gesellschaft einfügten, ja, aus heutiger Sicht müssen wir sicherlich sagen, sich assimilierten, zeigt eine Meldung aus der Zeitschrift „Der Israelit“ aus dem Jahr 1892:

„Karlsruhe. Der großherzogliche Oberrath der Israeliten verordnete die feierliche Begehung des Regierungsjubelfestes Sr. Königl. Hoheit des Großherzogs für Samstag, den 30. April, in dem vormittägigen Gottesdienste unter Absingen von Psalmen, Predigt und einem besonders verfaßten gehaltreichen Gebets. Die Synagogen sollen festlich dekoriert, die drei aus dem Schrein zu hebenden Thorarollen mit dem größten Schmucke, wie solches nur an den höchsten Feiertagen üblich ist, versehen sein.“

Und schließlich möchte ich Ihnen aus einer dritten historischen Quelle vortragen. Es handelt sich um ein Schreiben aus dem Jahr 1940 des damaligen Karlsruher Oberbürgermeisters an den Polizeipräsidenten und die NSDAP-Kreisleitung:

„Seitens des Personals der städt. Straßenbahn (…) wird in letzter Zeit dauernd Klage darüber geführt, daß die hier ansässigen Juden sich frech und herausfordernd verhalten (….) Ich habe daher mit sofortiger Wirkung angeordnet: Sitzplätze dürfen Juden (in den Straßenbahnen) nicht mehr einnehmen (….) Der Eintritt in den Stadtgarten ist für Juden (…) nach wie vor grundsätzlich verboten. (…) Der Zutritt zu den öffentlichen Bädern (….) bleibt nach wie vor für Juden streng untersagt. Gez. Dr. Hüssy“.

Die Vaterlandsliebe, die durchaus viele Juden im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert pflegten, hat sich – wie wir alle wissen – nicht ausgezahlt, sondern bitter gerächt. 1733 waren rund zwölf Prozent der Karlsruher Stadtbevölkerung jüdisch. 1925 erreichte die Zahl der Juden in Karlsruhe mit 3386 ihren Höchststand. 1941 waren es noch 104. Nach Kriegsende gerade mal 39. Heute hat die Jüdische Kultusgemeinde Karlsruhe rund 870 Mitglieder.

Dieser Wechsel vom Ringen um Anerkennung über das Gefühl, gleichwertige Bürger zu sein, bis zur totalen Ausgrenzung, Entrechtung und Ermordung in der NS-Zeit ist so typisch für die jüdisch-deutsche Geschichte und eben auch für die Geschichte der Juden in Karlsruhe.

Daher, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es ebenso wenig selbstverständlich, dass wir uns heute hier in dieser schönen modernen Synagoge versammeln können, um im festlichen Rahmen auf 300 Jahre jüdisches Leben in Karlsruhe zurückzublicken. Und ich möchte mich im Namen des Zentralrats der Juden in Deutschland bei der Stadt Karlsruhe und beim Land Baden-Württemberg bedanken für die Unterstützung der Jüdischen Kultusgemeinde Karlsruhe und der jüdischen Gemeinden in Baden und Württemberg insgesamt!

Denn die Geschichte führt uns eindrücklich vor Augen, dass das Aufblühen einer jüdischen Gemeinde stets abhängig war vom Wohlwollen der Herrschenden und zumindest der Toleranz der Bevölkerung. Die Geschichte zeigt uns zugleich ebenso eindrücklich, wie fruchtbringend diese Epochen waren, in denen das Zusammenleben gelungen ist. Meistens gingen damit Fortschritte in Wissenschaft und Kultur einher. Großartige Bauwerke und andere Kulturdenkmäler sind in diesen Phasen entstanden.

Es sind solche Errungenschaften, auf die wir heute mit Stolz zurückblicken. Und ja, wir versuchen unseren kleinen Beitrag zu leisten, um weitere Errungenschaften hinzuzufügen.

Für die jüdische Gemeinschaft möchte ich ausdrücklich betonen: Auch wenn es sicherlich Sorgen gibt – und darauf werde ich noch zu sprechen kommen –, so blicken wir auf gute Jahrzehnte zurück. Dank der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 sind unsere jüdischen Gemeinden enorm gewachsen. Unsere Mitgliederzahl liegt bei knapp 100 000 Menschen.

Die Integration der neuen Mitglieder – bei uns mussten zehn Prozent 90 Prozent integrieren – war eine Kraftanstrengung. Eine Anstrengung, die sich gelohnt hat. Die Einwanderergeneration ist mittlerweile angekommen in Deutschland. Sie ist zu einer der Stützen unserer Gemeinden geworden. Leider haben nicht wenige der älteren Zuwanderer finanzielle Nöte, weil sie von der Grundsicherung leben müssen. Der Zentralrat der Juden kämpft seit Jahren darum, dass – wie es bei den Spätaussiedlern der Fall ist – die in der Sowjetunion erworbenen Renten-Beitragsjahre anerkannt werden. Wir hoffen sehr, dass wir mit der im September neu gewählten Bundesregierung endlich zu einem Ergebnis kommen werden.

Trotz dieser sozialen Lage sind viele unserer Einwanderer in der Regel zufriedene Menschen. Das liegt vor allem an der erfolgreichen Integration ihrer Kinder und Enkel. Zu Recht blicken sie mit Stolz darauf, mit welcher Zielstrebigkeit ihre Nachkommen in Deutschland ihren Weg machen. In den jüdischen Gemeinden haben wir durch den Zuzug der Einwanderer gelernt: Das Aufeinandertreffen von Alt und Neu, von so unterschiedlichen Mentalitäten und Prägungen ist zu Beginn schwierig. Es führt auch manchmal zu Reibereien. Doch es lohnt sich, einen langen Atem zu haben. Denn letztlich sind unsere Gemeinden nicht nur größer geworden. Sie sind auch reicher an Kultur und an Perspektiven geworden. Ein ganz konkretes Beispiel möchte ich Ihnen geben: Vor 1990 wurde in den jüdischen Gemeinden stets am 9. November an die Pogrome von 1938 erinnert. Unsere neuen Gemeindemitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion brachten einen neuen Gedenktag mit: den 9. Mai. Die ehemaligen Befreier von Nazi-Deutschland feiern den Tag des Sieges. Und obwohl sehr viele Juden aus der Sowjetunion im Krieg Familienmitglieder verloren und gelitten haben, brachten sie uns die Mentalität der Sieger mit.

Warum ich hier so ausführlich von der Zuwanderung berichte, meine sehr geehrten Damen und Herren, dürfte auf der Hand liegen. Wir stehen heute wieder vor der Aufgabe, viele Tausend Menschen in unsere Gesellschaft integrieren zu müssen. Rund eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen. Ein erheblicher Teil von ihnen wird sicherlich zumindest für einige Jahre hier bleiben. Sie müssen nicht nur unsere Sprache lernen, sondern mit unserer Kultur und unseren Werten vertraut gemacht werden. Sie müssen lernen, dass Hitler hier nicht als Held verehrt wird und Israel nicht der Todfeind ist, wie ihnen das in vielen ihrer Heimatländer vermittelt wurde. Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau dürfte für viele Flüchtlinge ebenso fremd sein wie Homosexualität. Von der „Ehe für alle“ ganz zu schweigen.

2015 habe ich in einem Artikel für die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Integration der Flüchtlinge mit einem Marathonlauf verglichen. Das kann ich hier nur bekräftigen. Die Integration ist wie ein kräftezehrender Marathonlauf. Wer es aber ins Ziel schafft, wird immer sagen, die Mühe hat sich gelohnt.

Ich möchte noch einmal auf unsere Gemeinden zurückkommen. Wie sehr sich unsere Jugendlichen in Deutschland beheimatet fühlen, das zeigt sich Jahr für Jahr bei der Jewrovision. In diesem Jahr fand die Jewrovision in Karlsruhe statt. An diesem wunderbaren Tanz- und Gesangswettbewerb für jüdische Jugendliche, den der Zentralrat der Juden ausrichtet, nehmen stets rund 1000 Jugendliche teil. Die Teilnehmer des Wettbewerbs texten ihre Lieder selbst, und dabei wird immer deutlich: Sie setzen sich ebenso mit ihrer Religion auseinander wie mit der Gesellschaft, in der sie leben. Dabei vergessen sie aber ihre Wurzeln nicht, die oft in anderen Ländern liegen. Mit der Jewrovision versuchen wir, sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als auch den Respekt vor den Unterschieden zu stärken. Das ist so eine kleine Errungenschaft, auf die wir heute stolz sind.

Und ebenso freuen wir uns natürlich, wenn in einer Stadt wieder eine Mikwe, also ein jüdisches Ritualbad, oder eine jüdische Schule eröffnet wird. Jüdisches Leben ist inzwischen in Deutschland wieder stärker sichtbar – und das ist gut so!

Sehr geehrte Damen und Herren, jüdisches Leben trifft heutzutage in Deutschland auf eine große Toleranz, ja sogar nicht selten auf Zuneigung. In unseren Gemeinden machen wir die Erfahrung, dass bei einem Tag der offenen Tür oder jüdischen Kulturtagen in der Regel mehr Besucher kommen, als wir eigentlich bewältigen können. In der Politik in Bund, Ländern und Gemeinden erfahren wir durchgehend Unterstützung.

Doch wir wissen aus den Erfahrungen bis in jede unserer Familien hinein, dass dieser Respekt nicht selbstverständlich ist. Juden haben feine Sensoren, wenn neue Töne angeschlagen werden. Wenn öffentlich Worte gewählt werden, die aus gutem Grund bisher ein Tabu waren. Deshalb werden wir nicht aufhören, vor den Rechtspopulisten zu warnen, die sich in Deutschland breit machen. Hier in Baden-Württemberg erleben Sie es direkt, wie schwierig der Umgang mit der AfD im Landtag ist. Wenn wir Glück haben, scheitert die AfD im Herbst an der Fünf-Prozent-Hürde. Es ist aber auch gut möglich, dass diese Partei in den kommenden Bundestag einzieht.

Ich appelliere daher an alle Demokraten, an die übrigen Parteien, an unserem Wertekodex nicht zu rütteln. Gerade der Schutz von Minderheiten und der Respekt für die verschiedenen Religionen in diesem Land sind für unseren inneren Frieden von immenser Bedeutung.

Der frühere und jüngst verstorbene Bundeskanzler Helmut Kohl hat 1997, als er den Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden entgegennahm, gesagt: „In unserer pluralistischen Welt dürfen Unterschiede nicht mehr Quelle des Misstrauens sein – sie müssen als Quelle geistig-kulturellen Reichtums verstanden werden.“ Helmut Kohl hat sich in seiner Amtszeit nicht nur für die Belange der jüdischen Gemeinschaft und die Versöhnung eingesetzt. Er stand auch unerschütterlich zur historischen Verantwortung Deutschlands für Israel. Diese Unerschütterlichkeit wünsche ich mir auch von heutigen Politikern. Sicher ist es legitim, wenn ein deutscher Außenminister in Israel Regierungskritiker trifft. Aber vielleicht hätte er auch öffentlichkeitswirksam Opfer von palästinensischen Terroranschlägen oder Schoa-Überlebende besuchen können.

In immer größeren Teilen der deutschen Gesellschaft dient Israel gerne als Vorlage, um alte antisemitische Vorurteile zu pflegen. Gerade deshalb sollten Politiker und andere Eliten in unserem Land ihre Wertschätzung für diese einzige Demokratie im Nahen Osten zum Ausdruck bringen. Ihre Wertschätzung für ein Land, dem Deutschland so verpflichtet sein sollte wie keinem anderen auf der Welt.

Die um sich greifende Abneigung gegen Israel, die häufig auf alle Juden generell übertragen wird, erfüllt uns mit Sorge. Hier ist ein Antisemitismus entstanden, der von den meisten Bürgern gar nicht als solcher wahrgenommen wird, dem wir Juden aber immer häufiger ausgesetzt sind. Wir werden stellvertretend für das in Haftung genommen, was Deutsche an Israel kritisieren. Damit geht eine soziale Ausgrenzung einher, denn Juden werden damit als Fremde, als nicht Dazugehörige, stigmatisiert. Immer häufiger gibt es ein „Wir“ und ein „Ihr“.

Die jüdische Gemeinschaft bringt der demokratischen Kultur in Deutschland eine hohe Wertschätzung entgegen. Zu dieser Kultur gehören für uns essenziell Respekt und Toleranz. Daher werden wir den wachsenden Antisemitismus nicht einfach so hinnehmen. Die Bekämpfung können wir nicht allein zivilgesellschaftlichen Gruppen aufladen. Wir brauchen mehr Unterstützung aus der Politik. Daher fordert der Zentralrat der Juden die Einsetzung eines Bundesbeauftragten zur Bekämpfung des Antisemitismus sowie eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf diesem Gebiet.

Werte Festgesellschaft, ich habe eingangs die unterschiedlichen Epochen, die Licht- und Schattenseiten von 300 Jahren jüdischen Lebens in Karlsruhe skizziert. Wenn künftige Generationen in den Annalen der Stadt den Bericht über den heutigen Festakt lesen, dann werden sie sagen: Es war zwar kein Regierungsjubelfest, aber offenbar eine gute Zeit. Es war eine Epoche, in der das Zusammenleben gut gelang.

Und so sehr sich unser Land verändert, so sehr möchte ich meinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass diese künftigen Generationen sagen können: Es war eine ebenso gute Zeit wie unsere heutige.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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