Jüdisches politisches Denken heute



Vortrag von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster bei der Tagung „Jüdisches Leben in Deutschland", 10. Mai 2017, Berlin

Foto: Marco Limberg

Nachdem ich Sie bereits zu Beginn begrüßen durfte, freue ich mich nach diesem interessanten und aufschlussreichen Gespräch zwischen den verschiedenen Generationen, mich erneut an Sie richten zu dürfen.

Wie Sie bereits anhand der munteren Diskussion eben selbst miterleben konnten, ist jüdisches Leben zum Glück wieder von einer lebendigen Vielfalt geprägt. Eine Vielfalt der religiösen Strömungen, eine Vielfalt der politischen Einstellungen, eine Vielfalt der Lebensweisen und nicht zuletzt eine Vielfalt der ursprünglichen Herkunftsländer jüdischer Menschen in Deutschland, die eine bunte Mischung von unterschiedlichen Mentalitäten zusammenführt und unser jüdisches Leben auf ganz wunderbare Weise bereichert. Auch gibt es eine Vielfalt von Meinungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Sie alle kennen das Sprichwort „2 Juden, 3 Meinungen“. Und ja, sie dürfen darüber schmunzeln.

Die jüdische Gemeinschaft, die rund 100.000 Gemeindemitglieder in Deutschland zählt, sieht sich als integraler Bestandteil dieser Gesellschaft. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Doch erlebe ich immer wieder, dass dies nicht für alle so selbstverständlich ist.

Jüdisches Leben in Deutschland wird als besonders, von einigen Politikern gar immer wieder als „Wunder“ bezeichnet, angesichts dessen was vor über 70 Jahren hier geschah und von hier ausging. Und Ja: Dass sich jüdisches Leben nach der Schoah in Deutschland wieder etabliert hat, dass man Grundsteine für eine jüdische Zukunft gelegt hat, auf die wir heute noch bauen, war alles andere als selbstverständlich.

Es bedurfte mutiger Menschen, die bereit waren, Deutschland und seinen Bürgerinnen und Bürgern einen Vertrauensvorschuss zu geben und die es gewagt haben, entgegen vieler Zweifler und auch entgegen innerer emotionaler Zerrissenheit, hier jüdisches Leben neu aufzubauen. Und ich denke, wir können zurecht sagten, dass sie Erstaunliches geschafft haben.

Heute bereichert wieder eine neue Vielfalt das jüdische Leben. Es bereichert aber genauso das gesamte gesellschaftliche Leben in Deutschland. Als Teil der deutschen Gesellschaft trägt die jüdische Gemeinschaft zum Wohle dieses Landes bei. Jüdische Gemeinden leisten ihren Beitrag im kulturellen Leben, aber auch durch die Mitsprache bei gesellschaftlichen und politischen Fragen. Wir engagieren uns für das, was uns wichtig ist. Wir bemängeln Missstände und sprechen das auch laut aus. Wir treten deutlich und entschieden für unsere Rechte ein, als religiöse Minderheit, als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, als Verfechter unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Man kann also sagen: Wir mischen uns ein! Und das ist gut so! Das ist gelebte Demokratie!

Dass der Wert der Demokratie und ihrer Grundrechte aber zunehmend angezweifelt werden und damit gefährdet sind, ist uns allen hier gerade in jüngster Zeit wohl sehr deutlich vor Augen geführt worden.

Rechtspopulisten, nationalistische Bürgerbewegungen, eine Partei, die ganz offen religionsfeindlich ist und dabei Stimmung gegen Minderheiten macht, sind Teil Deutschlands des Jahres 2017. Diesen Kräften, die eine Spaltung der Gesellschaft erzielen möchten, muss man sich gemeinsam und mit aller Kraft entgegenstellen. Wenn sie „völkisch“ zum neuen „deutsch“ machen möchten und durch Hetze und Demagogie Menschen gegeneinander aufstacheln wollen, gilt es zu zeigen, dass dies nicht das Deutschland ist, das wir wollen. Diese Alternative ist keine für Deutschland. Sie ist vielmehr ein Armutszeugnis für unser Land und ein trauriger Beweis, dass anscheinend doch nicht alle so viel aus der Vergangenheit gelernt haben, wie wir dachten.

Die jüdische Gemeinschaft mischt sich also ein, sie bringt sich ein – politisch und gesellschaftlich. Mit unseren über 100 jüdischen Gemeinden zeigt sich jüdisches Leben wieder aktiv und lebendig und vor allem zukunftsorientiert. Durch den Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit den 1990er Jahren wuchsen unsere Gemeinden, sodass sie besser als zuvor aktiv mitgestalten können. Politisches Denken und Handeln gehört da ganz klar dazu. Es ist das höchste Gut eines demokratischen Staatswesens, das genau dies nicht nur erlaubt, sondern sogar auch ausdrücklich gefördert wird und Mittel zur Partizipation bereitgestellt werden.

Wenn wir von einem explizit jüdischen, politischen Denken sprechen, dann liegt die Annahme nahe, dass es bestimmte Themen gibt, die jüdisches Leben ganz besonders beschäftigen. Und ja, die gibt es. Das dürfte Sie nun alle nicht wundern. Themen, die vor allem die jüdische Gemeinschaft berühren, mehr als andere religiöse oder gesellschaftliche Gruppen in Deutschland.

Bevor ich Ihnen einen kurzen Überblick über aktuelle politische Anliegen der jüdischen Gemeinschaft gebe, möchte ich aber anmerken, dass jüdisches Denken in der Politik kein Novum ist.

Wenn man an Politische Philosophie und Theorie denkt, fallen uns zu Recht die Schriften Platons und Aristoteles‘ ein. Aber nicht vergessen darf man die moralischen Implikationen, die der Bibel, also auch dem Alten Testament und damit dem Judentum entspringen. So kann man also durchaus von biblischen Wurzeln des politischen Denkens sprechen. Das jüdische politische Denken kann man bis zum Talmud zurückverfolgen. Gesetzestexte wurden analysiert, kommentiert und fortlaufend diskutiert. Jüdische Gelehrte, Rabbiner, die sich zum Verhältnis von Gesetz, Gesellschaft und Gerechtigkeit äußerten, sind Vorreiter gewesen und ebneten den Weg für große Denker.

Gerade auch weil die jüdische Bevölkerung über Jahrtausende ohne eigene Staatlichkeit lebte und als Minderheit vom herrschenden Gemeinwesen abhängig war, waren es Themen wie Struktur und Verfassung subpolitischer Gemeinschaften sowie kommunaler Gerechtigkeits- und Wohlfahrtsprinzipien, die eine starke Rolle spielten. Zu nennen ist beispielsweise einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten und einer der bedeutendsten Gelehrten des Mittelalters überhaupt: Maimonides, Rabbi Mosche Ben Maimon, Rambam genannt, der in seiner Kommentierung des Talmuds die Beziehung zwischen Recht und Philosophie beschreibt. Darin referiert er übrigens auch auf Platon und Aristoteles. Der jüdische Beitrag zur politischen Philosophie war besonders prägend.

Aber machen wir chronologisch einen großen Sprung, dann fallen uns Namen ein wie Karl Marx, Rosa Luxemburg, aber auch Martin Buber oder Walter Rathenau. Gerade dieses Haus als politische Stiftung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist sich sicherlich seiner jüdischen Wurzeln bewusst: Ferdinand Lassalle, einer der Gründerväter der SPD, ist und bleibt prägend. Große Ökonomen der SPD, wie Fritz Naphtali, der nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten der Politik verschrieben blieb und in Israel mehrere Ministerposten innehatte. Oder der jüdische Sozialdemokrat Ludwig Rosenberg, der nach seiner Rückkehr einer der ersten DGB-Vorsitzenden wurde. Der soziale Charakter hat aufgrund der Geschichte, aber auch aufgrund der starken moralischen und ethischen Säulen des Judentums im politischen Denken von jüdischen Menschen eine sehr gewichtige Rolle gespielt.

Sicherlich gibt es Unterschiede, wenn wir die politischen Landschaften von früher und heute miteinander vergleichen. So gab es in der Weimarer Republik mehr als vierzig Abgeordnete jüdischen Glaubens. Heute sieht es ganz anders aus, wenn wir uns den Bundestag anschauen. Aber: Das bedeutet mitnichten, dass sich Juden in Deutschland nicht politisch engagieren würden. Wir müssen bedenken, dass sich das Zahlenverhältnis verändert hat: Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Deutschland 500.000 Juden, heute, wie beschrieben, zählen wir rund 100.000 Mitglieder. Und dies nur dank der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion.

Und trotz der niedrigen Zahl sehen wir, dass sich jüdische Menschen im gesamten politischen Spektrum einbringen und Mitglieder der demokratischen Parteien sind. Die SPD hat sogar einen eigenen Arbeitskreis: Den „Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten“. Aber wer nun denkt, dass sich dieser Arbeitskreis und allgemein die jüdische Gemeinschaft ausschließlich mit – in Anführungszeichen: „Jüdischen Themen“ auseinandersetzt, der irrt. Jüdisches politisches Denken greift weiter. Es ist nicht monothematisch oder konzentriert auf die Probleme „innerhalb der eigenen vier Wände“ sozusagen. Ganz im Gegenteil: Das jüdische politische Denken wird bestimmt von der Verantwortung für das Gegenüber. Von der Verantwortung um das Miteinander. Diese Verantwortung füreinander ist die moralische Grundsubstanz des Judentums.

Ich stehe als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland der politischen Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Deutschland vor. Das Erfordernis, eine politische Stimme als Religionsgemeinschaft zu haben, ist offensichtlich. Wie ich sagte, gibt es Themen, die uns Juden in ganz besonderem Maße beeinflussen oder uns gar bedrohen. Und auf diese möchte ich einmal kurz eingehen.

Gerade in den letzten Jahren hat das Thema um die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland wieder besondere Aktualität erhalten. Wir erleben, dass Antisemitismus noch immer präsent ist. Dass Antisemitismus auch nach Auschwitz nie verschwunden ist. Seit Jahren sprechen verschiedene Umfragen von einem Wert von 20 Prozent latentem Antisemitismus in der Bevölkerung. Jeder fünfte also soll zumindest latent antisemitische Stereotypen und Einstellungen befürworten oder selbst vertreten. Dies, meine Damen und Herren, ist schlicht und ergreifend, eine unhaltbare Situation.

Aber gerade auch die FES-Mitte-Studie aus dem letzten Jahr hat deutlich gezeigt, dass es den Antisemitismus so nicht gibt. Mittlerweile ist er derart komplex und in seiner Ausdrucksform, wie auch in seiner vermeintlichen Rechtfertigung derart divers, dass man nicht umhin kommt, sich diesen etwas genauer anzuschauen. Wie auch der kürzlich veröffentlichte Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus zutage fördert, nimmt der klassische Antisemitismus ab, wohingegen der sekundäre Antisemitismus und der Israel-bezogene Antisemitismus auf dem Vormarsch sind.

Ich zitiere hierbei aus der Mitte-Studie Ihres Hauses: 25 Prozent meinen, Juden würden „aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil ziehen“, 40 Prozent sind der Meinung: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ Diese Zahlen decken sich im Übrigen mit denen aus dem gerade erwähnten Expertenbericht. Auch der Antisemitismus in Teilen der muslimischen Community bereitet uns bereits seit vielen Jahren große Sorgen.

Verehrte Damen und Herren, der Vielschichtigkeit und den verschiedenen Facetten des Antisemitismus muss man mit adäquaten Bekämpfungsstrategien entgegentreten. Aber lassen Sie mich auch eins betonen: Antisemitismus bleibt Antisemitismus! Es gibt keinen „schlimmeren“ oder einen „stärker gerechtfertigten“ Antisemitismus als den anderen. Judenhass bleibt Judenhass und ist durch nichts schönzureden oder zu rechtfertigen.

Wenn Juden vorgeworfen wird, sie würden ihre Söhne durch das elementare Gebot der Beschneidung misshandeln; wenn sich Juden in Deutschland nunmehr fragen müssen, ob sie noch eine Kippa auf der Straße tragen können, ohne Anfeindungen ausgesetzt zu sein; wenn eine Synagoge angegriffen, dies von den Richtern aber nicht als antisemitisch motivierte Tat beurteilt wird; wenn auf pro-palästinensischen Demonstrationen „Juden ins Gas“ gerufen wird; dann sind wir an einen Punkt angelangt, der nun nicht mehr nur schöner Reden bedarf, sondern aktives und entschiedenes Handeln.

Aus diesem Grund haben wir im vergangenen Jahr bereits unsere Forderung nach einem Antisemitismusbeauftragten zum Ausdruck gebracht. Einen Antisemitismusbeauftragten, der sich nach Vorbild der Europäischen Kommission der Thematik gezielt annimmt und die Umsetzung der Handlungsempfehlungen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus vorantreibt. Dieser sollte mit Sitz im Bundeskanzleramt unabhängig von Legislaturperioden agieren können. Dazu gehört allerdings auch, dass wir endlich eine umfassende Antisemitismusdefinition etablieren.

Das Beispiel der angegriffenen Synagoge in Wuppertal zeigt, dass es nicht möglich ist, etwas zu bekämpfen, wenn wir es nicht vorab definieren. So fällt der Israel-bezogene Antisemitismus immer noch viel zu oft durchs Raster. Das kann man auch anhand der Antisemitismus-Statistik der Sicherheitsbehörden sehen, die eine deutliche Diskrepanz zum alltäglich erlebten Antisemitismus aufzeigt.

Die Annahme der sogenannten „Working Definition on Antisemitism“ des ehemaligen European Monitoring Centre (EUMC) gilt es daher auch hier in Deutschland zu erwirken. Großbritannien arbeitet bereits mit der Working Definition und hat sichtliche Erfolge bei der Erfassung und Verfolgung von Straftaten erzielt. Mit solch einer Definition würden die verschiedenen Ausdrucksformen des heutigen Antisemitismus berücksichtigt und als solche klar definiert werden.

Gerade wegen des grassierenden Israel-bezogenen Antisemitismus haben wir auf die Gefahr des „importierten Antisemitismus“ im Zuge der Flüchtlingskrise aufmerksam gemacht. Wir als Zentralrat der Juden, waren eine der ersten Stimmen, die sich stark dafür machten, den Menschen, die vor brutalen Diktaturen und Leid fliehen, hier zu helfen. Denn die jüdische Gemeinschaft weiß nur zu gut, was es heißt, vor Verfolgung fliehen und vor verschlossenen Türen stehen zu müssen. Es ist darüber hinaus unsere religiöse und humanistische Pflicht, Hilfe zu leisten. Das ist und bleibt unbestritten. Nun sind wir aber alle gefragt, bei der Integration dieser Menschen mitzuhelfen. Viele der Geflüchteten kommen eben aus Staaten, in denen nicht nur Hass auf Israel, sondern auch Antisemitismus zum Alltag und zur normalen Sozialisation gehören. Das dürfen wir hier in Deutschland nicht akzeptieren.

Hier muss ganz klar gesagt werden und zwar auch von den muslimischen Verbänden: Antisemitismus und die Leugnung des Existenzrechts Israels haben keinen Platz in Deutschland. Dies muss in den Integrationskursen, genauso wie im Alltag deutlich gemacht werden.

Auch das Wissen um die Vergangenheit gehört dazu. Nur wenn alle hier Lebenden die Lehren der Vergangenheit verstehen, können wir sicherstellen, dass so etwas nie wieder geschieht. Die Vermittlung der Schoah muss in Schulen, aber auch in den Integrationskursen einen wichtigen Platz einnehmen. Ein Besuch von KZ-Gedenkstätten – Orte der Authentizität – schafft dabei eine besondere Möglichkeit, sich mit diesen Themen auf persönliche Weise auseinanderzusetzen.

Und lassen Sie mich zu Israel kurz etwas sagen: Israel und Deutschland verbindet eine ganz besondere Beziehung. Diese beiden Staaten sind für immer miteinander verbunden. Und die Verantwortung Deutschlands für den jüdischen Staat bleibt immerwährend. Israelische konkrete Politik kann man kritisieren und nirgendwo wird dies so intensiv gemacht, wie in Israel selbst. Allerdings sollte man sich auch gerade als Politiker einiger Punkte bewusst sein: Für kein anderes Land gibt es diese Wortschöpfung: „Israel-Kritik“. Es gibt keine „England-Kritik“ oder „Spanien-Kritik“, auch keine „Deutschland-Kritik“. 40 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung für Israel-bezogenen Antisemitismus!

Israel als einzige Demokratie der Region hat seit seiner Staatsgründung kaum einen Tag des Friedens und ohne Terrorismus erlebt. Umgeben von Staaten und Gruppen, die ganz klar die Existenz des Staates bedrohen. Nirgendwo gibt es eine höhere Dichte an NGOs und Reportern. Und hier in Deutschland haben wir Unmengen von Nahost-Experten, die sich aus der Ferne ermächtigt fühlen, Israel Ratschläge zu erteilen oder Vorwürfe zu erheben. Als Diplomat sollte man hier einmal genauer nachdenken, ob man die Beziehungen in diesem Klima riskieren, oder weniger forsch auf die Probe stellen möchte und dann sogar noch in Interviews nachtreten muss. Ob man wiederum umgekehrt direkt ein wichtiges Treffen von israelischer Seite aufgrund des Unmuts absagen muss, ist ebenso fraglich und wage ich zu bezweifeln.

Die aktuelle israelische Regierung kann man kritisieren, das steht jedem frei. Doch ich appelliere, den Gesamtkontext nicht aus den Augen zu verlieren. Ich komme gerade vom gemeinsamen Besuch in Israel mit dem Bundespräsidenten und denke, so sollte ein Staatsbesuch ablaufen. Aber dies nur am Rande.

Zurück zur aktuellen politischen Lage in Deutschland. Das Thema Rechtsextremismus war und ist leider ebenfalls besonders besorgniserregend. Laut offiziellen Zahlen kommen die meisten antisemitischen Straftaten aus diesem Milieu. Ideelle, aber eben auch finanzielle Förderung von Initiativen und Projekten, die sich der Bekämpfung von Antisemitismus, Rechtsextremismus, Islamismus und Radikalisierung sowie Rassismus und Homophobie widmen, muss auf der Prioritätenliste ganz oben stehen.

Ich sprach es zu Beginn an: Die AfD, die für mich in Teilen die Grenze von Populismus hin zum Rechtsextremismus überquert hat, ist mit der Wahl in Schleswig-Holstein in den zwölften Landtag eingezogen. Am kommenden Wochenende finden die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen statt und was uns Ende September erwartet, bleibt zu befürchten. Wir dürfen es nicht zulassen, dass solche Kräfte es schaffen, die Gesellschaft zu spalten. Demokratiefeindlich, anti-religiös, anti-muslimisch und auch durchaus antisemitisch zeigte sich die AfD nur allzu oft. Hier gilt es alle demokratischen Kräfte zu vereinen und dem rechtspopulistischen Trend, der sich in ganz Europa abzeichnet, nicht kampflos nachzugeben.

Mit Blick auf die Uhr möchte ich ein weiteres Thema nur kurz aufgreifen, dass eine politische und vor allem soziale Dimension beschreibt, die uns, der jüdischen Gemeinschaft, sehr zu schaffen macht. Ich habe zuvor ausgeführt, dass die jüdische Gemeinschaft durch die Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion einen enormen Zuwachs und Aufschwung erlebt hat. Seitens der Bundesregierung war der wesentliche Gesichtspunkt für die Aufnahme der Erhalt und die Stärkung der Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Heute ist knapp die Hälfte aller Gemeindemitglieder über 60 Jahre alt und die meisten sind von Altersarmut betroffen oder werden es sein.

Aufgrund der Nichtanerkennung der im Herkunftsland erworbenen Abschlüsse, der mangelnden Akzeptanz am Arbeitsmarkt und dem dadurch bedingten Bruch der Erwerbsbiographien fehlen diesen Menschen jedoch die für eine Rente notwendigen Jahre der Zugehörigkeit zum deutschen Rentenversicherungssystem. Im Gegensatz zu Spätaussiedlern erhalten aber nur diejenigen jüdischen Zuwanderer, die bis Ende 1992 im Rentenalter in das „Beitrittsgebiet“ eingereist sind und auch dort blieben, eine Rente nach deutschem Recht. Denn nur in diesem Fall gilt das Sozialversicherungsabkommen der DDR mit der UdSSR weiter. Für ein und dieselbe Zuwanderergruppe gilt bezüglich der Rente also zweierlei Recht. Ähnlich sieht es im Bereich der Pflege aus.

Die Situation ist den zuständigen Fachministerien bekannt. Wir streben bereits seit längerem in politischen Gesprächen an, die Ungleichbehandlung von jüdischen Menschen zu korrigieren und sie sozial- und rentenrechtlich gleichzustellen. Aber dies hat sich als besonders schwer erwiesen. Dennoch können wir die momentane Situation nicht akzeptieren und versuchen weiter, hier eine Verbesserung zu erreichen.

Ich konnte Ihnen jetzt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem jüdisch-politischen Denken und Agieren vorstellen. Fakt aber ist: Wir sind uns durchaus aller Herausforderungen bewusst. Herausforderungen, die sich leider manchmal als Bedrohungen entpuppen. Wir müssen und werden uns diesen stellen und uns keineswegs einschüchtern lassen. Hier sind wir alle gefragt. Ob im Kampf gegen Antisemitismus oder für Minderheitenrechte, dieser Kampf ist nicht den Betroffenen zu überlassen. Er geht uns alle an! Und mit gemeinsamen Anstrengungen, Solidarität und Respekt werden wir bestehende, wie auch künftige Hürden meistern.

Vielen Dank!

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