Erzwungene „Normalität“



Rede von Dr. Salomon Korn zur 66. Wiederkehr des 9. November 1938 in der Westendsyn­agoge, Frankfurt am Main

Vor 66 Jahren wurden im gesamten Deutschen Reich Synagogen angezündet, Geschäfte jüdischer Deutscher zerstört, Wohnungen geplündert, jüdische Menschen geschlagen, gequält, gefoltert, ver­gewaltigt. Das alles geschah, mit Ausnahme der Vergewaltigungen und Folterungen, öffentlich – nicht in der asiatischen Steppe, sondern im Herzen Europas, in der Mitte jenes Landes, das bis dahin zu den zivilisiertesten Ländern zählte. Der Pogrom, der sich bis in die Nacht zum 10. November über das gesamte Reich ausbreitete, wurde nicht nur von wenigen eingeschworenen Nazis durchge­führt, sondern von Nazi-Mitläufern aller Gesellschaftsschichten. Die Mehrheit der deutschen Bevöl­kerung stand den Vorgängen in der „Reichskristallnacht“ gleichgültig gegenüber. Und doch gab es immer wieder Versuche nächster Nachbarn, durch Alarmierung der Polizei und Hilferufe aus dem Fenster die Täter abzuwehren oder aufzuhalten. Auch eine Fülle verschiedener, häufig heimlicher Hilfeleistungen, die während und nach den Zerstörungsaktionen das Los jüdischer Familien lindern sollten, sind bekannt geworden. Doch sie betrafen eine verschwindend geringe Minderheit. Wegse­hen, Angst und Schweigen war die Regel.

Hat eine Diktatur erst einmal alle Lebensbereiche durchdrungen und unter ihre Kontrolle gebracht, dann wird Widerstand zu einem schwer kalkulierbaren Risiko. Umso mehr sollten Respekt und Achtung jenen gelten, die dieses Risiko nicht gescheut haben. Das gilt gleichermaßen für die Men­schen, die unter Einsatz ihrer Freiheit, ihres Ansehens, ja, ihres Lebens, in aller Stille Widerstand geleistet haben, wie für die Attentäter des 20. Juli 1944. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist dabei die Verschiebung von Wahrnehmung und Wertung des deutschen Widerstandes seit 1945.

Trotz ihrer Vereinnahmung durch die Politik der jungen Bundesrepublik als Widerstandskämpfer, galten die Attentäter des 20. Juli 1944 in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende vielen Deutschen als Verräter. Gründe dafür liegen auf der Hand: die vorbehaltlose Anerkennung des Widerstandes weniger gegen das Nazi-Regime hätte zu einer Infragestellung sowohl des eigenen Verhaltens als auch des Verhaltens des deutschen Volkes in seiner Mehrheit führen müssen. Dazu aber waren die meisten Deutschen nach der totalen Niederlage weder willens noch fähig, zumal es sich beim Natio­nalsozialismus um eine Konsens-Diktatur gehandelt hat und völkisches Denken in Kategorien wie „Volksgemeinschaft“ lange nachwirkte – und bis heute noch nicht vollständig überwunden ist.

In der demokratisch verfassten Bundesrepublik Deutschland bedarf es keines besonderen Mutes, Widerstand gegen restaurative politische Tendenzen zu leisten. Es bedarf dazu noch nicht einmal des Widerstandes: Sensibilität, Wachsamkeit und entschlossenes Eintreten genügten meistens. Doch auch damit ist es nicht immer zum Besten bestellt.

Da ist die Geschichte des Lebensmittelhändlers Dieter T. (Frankfurter Rundschau vom 22. August 2003): Als gläubiger Jude richtet Dieter T. im Sommer 2002 im Norden Berlins ein koscheres Le­bensmittelgeschäft ein. Er nennt den Laden „Israel-Deli“ und beklebt die Schaufensterscheibe mit Davidsternen. Knapp vier Wochen laufen die Geschäfte normal. Dann tauchen eines Morgens junge Neonazis vor seinem Laden auf. Sie kommen nicht regelmäßig, aber sie kommen oft. Und sie pö­beln, mal halb-laut, mal laut: „Juden-Laden“, „Juden-Sau“. Einen Monat geht das so. Wenn T. mor­gens zu seinem Laden kommt, ist die Scheibe bespuckt, besonders das Wort „koscher“. Dieter T. putzt seine Scheibe, putzt auch den Urin weg, mit dem sein Laden regelmäßig besudelt wird. T.s „Israel-Deli“ wird plötzlich zum bevorzugten Ziel für Pöbeleien arabischer Jugendlicher. Sie spuk­ken bei helllichtem Tag an die Schaufensterscheibe, werfen Sand auf die vor dem Laden aufgestell­ten Stehtische und reißen die Fahne herunter. Die Kunden fühlen sich belästigt, dann bedroht. Sie bleiben zunehmend weg.

Dieter T. macht weiter, obwohl er bemerkt, dass ein Teil seiner Stammkunden begonnen hat, die Straßenseite zu wechseln. Im Laden wird der Hitlergruß gezeigt, knallen Hacken zusammen. Das „Israel-Deli“ wird zum Zuschussgeschäft. Schließlich kann Dieter T. Miete und Schulden nicht mehr bezahlen. Er gibt auf und schließt seinen Lebensmittelladen. Am 2. November 2003 wandert Dieter T. mit über 60 Jahren nach Israel aus.

Zugegeben: Dies ist keine alltägliche Geschichte und auch nicht repräsentativ für den Alltag in Deutschland. Dennoch muss es nachdenklich stimmen, dass in Berlin Nachbarn, Kunden und zu­ständige Behörden statt sich dieser Sache beherzt anzunehmen, vor Neonazis und arabischen Ju­gendlichen kapituliert haben. Wenn nach den Erfahrungen der jüngsten deutschen Geschichte be­reits den Anfängen gewehrt werden muss, dann ist festzustellen: Entweder haben die betreffenden Menschen in Berlin-Reinickendorf keine Lehren aus dem leidvollsten Abschnitt deutscher Ge­schichte gezogen oder sie haben diese Lehren bereits vergessen.

Bei Hans-Olaf Henkel, dem früheren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ist nicht recht klar, welche Lehren er aus der deutschen Geschichte gezogen hat. In der „Welt am Sonntag“ vom 19. September 2004 schreibt er in einer Replik auf die Besprechung seines Buches „Die Kraft des Neubeginns“ in der Illustrierten „Stern“: „Ein Abschnitt meines Buches ist dem schrecklichen Phänomen des unterstellten Antisemitismus gewidmet. ... (Hohmann) wurde ausge­stoßen, nicht etwa, weil man ihn des Antisemitismus überführt, sondern weil man ihm diesen unter­stellt hatte. Bis heute ist mir kein Beweis des Gegenteils zur Kenntnis gekommen.“

Hans-Olaf Henkel steht mit seiner Auffassung vom „unterstellten Antisemitismus“ nicht alleine da. Wie viele Verteidiger der Hohmann’schen Rede vom 3. Oktober 2003 hat er deren Brisanz offenbar nicht erkannt – vielleicht auch nicht erkennen können. Dass Hohmanns Rede antisemitisch ist, steht außer Frage: Wer ein Standardwerk der antisemitischen Literatur wie Henry Fords 1920 erschiene­nes Buch „The International Jew“ ausdrücklich zur Grundlage seiner Überlegungen macht und dar­aus zustimmend zitiert, argumentiert antisemitisch. Wer die angebliche Verbrechensbeteiligung von „Juden“ derjenigen von „Deutschen“ gegenüberstellt und dem in Kollektivhaftung genommenen „jüdischen Volk“ in seiner Gesamtheit ein kommunistisches Staatsverbrechen anzulasten versucht, mit dem Argument, viele Juden seien an ihm beteiligt gewesen, argumentiert antisemitisch. Dies kann als „unterstellten Antisemitismus“ nur verkennen, wer – bewusst oder unbewusst – Verständ­nis für Hohmanns Sicht der Dinge hat oder dessen Ansichten teilt.

Hans-Olaf Henkel und den übrigen Verteidigern von Hohmann scheint zudem entgangen zu sein, dass dessen Rede nicht nur antisemitisches, sondern auch völkisches und antidemokratisches Ge­dankengut enthält. So verwendet Hohmann im Falle „Miami-Rolf“, des Rentners, der seine deutsche Sozialhilfe im fernen Florida bezieht, den Ausdruck „Schmarotzer“ im Sinne eines „Volksschäd­lings“. Und er beklagt sich, dass „man als Deutscher in Deutschland keine Vorzugsbehandlung ge­nießt“, obwohl er doch als Bundestagsabgeordneter die Gleichheit aller vor dem Gesetz verteidigen müsste.

Hohmanns Rede von 2003 hat wenig gemeinsam mit Walsers „Sonntagsrede“ von 1998; doch bei allen qualitativen Unterschieden in Gedankenaufbau, Argumentation und sprachlicher Prägnanz: aus beiden Reden klingt unüberhörbar der Wunsch nach dem Schlussstrich unter die Auseinanderset­zung mit der deutschen Vergangenheit. Und es war Martin Walser, der - unter dem Beifall deut­scher Eliten – mit seiner Autorität als Schriftsteller jene einladende Schneise in Richtung Schluss­strich geschlagen hat, der Martin Hohmann mit dürftigsten Argumenten umso müheloser folgen konnte.

Beunruhigend ist nicht so sehr die von verquast-religiösen, antisemitischen und völkischen Vorstel­lungen geprägte Rede Hohmanns – darüber könnte angesichts ihrer geistigen Schlichtheit vielleicht noch hinweggesehen werden. Beunruhigend sind in diesem Zusammenhang Zustimmung und Ver­teidigung all jener, von denen Wachsamkeit gegen jede Diskriminierung gesellschaftlicher Minder­heiten zu erwarten gewesen wäre. Wenn aber statt dessen die antisemitische und gegen demokrati­sche Grundrechte gerichtete Rede eines Bundestagsabgeordneten mit Berufung auf das Grundrecht der freien Rede empört verteidigt wird, dann ist dies besorgniserregend. Denn es wirft die Frage auf, bis zu welchem Grad in Deutschland Abkömmlinge völkischen, nationalistischen und rassistischen Denkens untergründig wirksam geblieben sind und damit in Teilen der Bevölkerung latent einen Resonanzboden des Verständnisses für Äußerungen eines Hohmann, eines Möllemann, eines Walsers und anderer bilden.

Es ist unübersehbar: die jüngste deutsche Vergangenheit wird mit dem allmählichen Ableben der Zeitzeugen zunehmend Geschichte. Dieser Vorgang, als Historisierung bekannt, ist ein natürlicher, unausweichlicher Prozess. Was sich jedoch dabei zunehmend abzeichnet, ist der Wunsch und das wachsende Bedürfnis nach Beschleunigung dieser Entwicklung. Sie macht sich bemerkbar in einem Phänomen, das als „forcierte Normalisierung“ oder „erzwungene Normalität“ bezeichnet werden kann.

Beispiele dafür sind das „Sächsische Gedenkstättengesetz“ von 2003 sowie der von CDU/CSU im Jahr 2004 eingebrachte Gesetzesentwurf: „Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland“. Beide Texte zeigen in ihrem Wortlaut Ansätze zur Herabstufung nationalsozialisti­scher Verbrechen durch deren begriffliche Gleichsetzung mit Verbrechen des SED-Regimes. Wie­derholt und ohne jede Differenzierung ist dort zum Beispiel die Rede von „Widerstand gegen die Diktaturen“, von „Opfer der beiden deutschen Diktaturen“, von „beiden totalitären Diktaturen“ und von „doppelter Vergangenheit“ (anstelle von „zweierlei Vergangenheit“). Solche sprachliche Nivellie­rung drückt das nationalsozialistische Jahrtausendverbrechen mit europäischer Dimension und an­nähernd 50 Millionen Toten auf die Ebene der von SED-Diktatur und sowjetischer Besatzung be­gangenen Verbrechen.

Diese Waagschalen-Mentalität, mit der nationalsozialistischer Völkermord und Terrorherrschaft mit Verbrechen der SED-Diktatur sprachlich gleichgestellt werden, führen von der europäischen Di­mension des Verbrechens zu einer Re-Nationalisierung des Gedenkens: danach waren alle – Deut­sche wie übrige Europäer – Opfer: alle haben gelitten, alle verdienen Mitleid. Ursachen und Hinter­gründe der größten europäischen Katastrophe verschwimmen schließlich in einer Opfer und Täter, Ursache und Wirkung einebnenden Sprache.

Und als letztes Beispiel für den Versuch „forcierter Normalisierung“ sei die am 21. September 2004 in Berlin in Anwesenheit des Bundeskanzlers eröffnete „Flick-Collection“ genannt. Bemerkenswert an der Auseinandersetzung um die Ausstellung der Kunstsammlung Friedrich Christian Flicks ist weniger das Verhalten des Sammlers als das der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Es ist zunächst das unbenommene Recht eines jeden Kunstsammlers, seine Sammlung der Öffentlichkeit präsentie­ren zu wollen. Es ist aber andererseits auch die Pflicht der von Bund und Ländern geförderten staat­lichen Einrichtung Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Umstände abzuwägen, unter denen sie einem Privatsammler eine öffentliche Bühne für die Ausstellung seiner Kunstsammlung in der deut­schen Hauptstadt bietet. Und ihre Pflicht wäre es gewesen – zumal nach dem 2001 gescheiterten Versuch Flicks, seine Kunstsammlung in Zürich auszustellen – zwischen zwei Gütern abzuwägen: zwischen herausgehobener öffentlicher Präsentation des Namens Flick und deren Auswirkungen auf die seelische Verfassung überlebender Zwangs- und Sklavenarbeiter, die mit dem Namen Flick Aus­beutung, Elend und lebenslang nachwirkende Traumata verbinden.

Was vor zehn Jahren in Deutschland nicht möglich gewesen wäre und vor drei Jahren in Zürich nicht möglich war, ist in Berlin 2004 Wirklichkeit geworden: weder die verletzten Gefühle noch le­bender „Flickscher Zwangs- und Sklavenarbeiter“ sind von Belang noch das bisherige Verhalten von Friedrich Christian Flick, der sich seit Antritt seines millionenschweren Erbes im Jahre 1975 – im Unterschied zu seinen Geschwistern – geweigert hat, die Zwangs- und Sklavenarbeiter seines Großvaters auch nur symbolisch zu entschädigen.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beharrt bei der Verteidigung ihrer Entscheidung, die „Flick-Collection“ auszustellen, auf zwei Argumenten, die niemand infrage gestellt oder bezweifelt hat: Kunst könne man nicht stigmatisieren und die Enkel könne man nicht in andauernde Sippenhaft nehmen. Mit diesen beiden Argumenten und ohne das entscheidende Argument möglicher Zumut­barkeit gegenüber den Überlebenden nationalsozialistischer Verbrechen ließe sich auch eine „Gö-ring-Collection“ rechtfertigen. Die Dünnhäutigkeit, mit der die Verantwortlichen der Stiftung Preu­ßischer Kulturbesitz auf diesen Vergleich reagiert haben, gestehen sie den überlebenden „Flickschen Zwangs- und Sklavenarbeitern“ bei der „Flick-Collection“ nicht zu. Es ist schon atemberaubend, welche Gefühlskälte den ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeitern und welches Wohlwollen Fried­rich Christian Flick und seiner Kunstsammlung von den Ausstellungsbefürwortern entgegenge­bracht wurden.

Und selbst vor historisch verfehlten Vergleichen haben die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihre Fürsprecher sich nicht gescheut: Alle großen Kunstsammlungen dieser Welt, so deren Argu mentation, seien das Ergebnis vorausgegangener Verbrechen, wie etwa der Raub der Kunstschätze des Louvres, des Britischen Museums und der Markuskirche in Venedig. Die Beutezüge feudalisti­scher Herrscher in vordemokratischen Zeiten dienen auf diese Weise der Rechtfertigung der Aus­stellung der „Flick-Collection“ in der deutschen Hauptstadt – so als könne Unrecht der Vergangen­heit aktuelles, in die Gegenwart nachwirkendes Unrecht aufwiegen. In dieser Argumentationslinie, in der Unrecht, sofern mit Kunst verbunden, hinnehmbar wird, ist das ungewollte Eingeständnis der zweifelhaften Herkunft der Mittel, mit denen die„Flick-Collection“ erworben wurde, ebenso ent­halten wie das unausgesprochene Plädoyer für die Ausstellung „bestechender“ Kunstsammlungen – unabhängig von Herkunft und Vorgeschichte.

Gegen die von vornherein feststehende Absicht, eine bedeutende und umfangreiche Sammlung mo­derner Kunst in Berlin auszustellen, mussten alle Bedenken – sofern sie je vorhanden waren – zu­rückstehen. Doch mehr noch als „Recht haben“ – darauf verweist ihre nachgeschobene Legitimati­onsstrategie – wollte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz um jeden Preis die „Flick-Collection“ haben. Und dies wurde mit Billigung des Bundeskanzlers in einem Akt „forcierender Normalisie­rung“ durchgesetzt – ohne Gespür für jene, die mit dem Namen des vor dem Nürnberger Tribunal verurteilten Kriegsverbrechers Friedrich Flick nicht Einsicht, Verantwortung oder philanthropische Leistungen verbinden, sondern die dunklen Seiten der deutschen Geschichte und auch solche der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Und deshalb fällt auf die „Flick-Collection“ ein Schatten, der nicht weichen will. Zu durchsichtig, so bemerkt Thomas Assheuer von der „Zeit“ zutreffend, waren die Versuche der Indienstnahme be­deutender Kunst für geschichtspolitische Zwecke „zu schamlos die Absicht, die ‚Berliner Republik’ im Glanz einer neugewonnenen Unschuld strahlen zu lassen und, wie es in der Hauptstadt hieß‚ ‚Unglück in Glück zu verwandeln’. Die Flick-Collection, daraus hat weder die Bundesregierung noch der Berliner Senat einen Hehl gemacht, sollte der deutschen Selbstversöhnung zu Diensten sein und einen Teil der Wunde schließen, die die Nazizeit gerissen hat’ (Christina Weiss).“

Welch ein Irrtum: Was Menschen nicht vermögen, vermag keine noch so bedeutende Kunst. Und auch das sei jenen gesagt, die mit Hilfe staatlicher Macht die „Flick-Collection“ in der deutschen Hauptstadt durchgesetzt haben: Keine noch so bedeutende Kunstausstellung rechtfertigt das damit in Kauf genommene menschliche Leid. Und deshalb sei die Frage gestellt: Wo waren jene bekann­ten, sonst so sensibel reagierenden deutschen Künstler und Intellektuelle, die im Zusammenhang mit der Stiftungsinitiative zur Entschädigung ehemaliger Zwangs- und Sklavenarbeiter 2001 gegen die Ausstellung der „Flick-Collection“ in Zürich protestiert hatten? Warum haben sie nicht ebenso gegen die Ausstellung der „Flick-Collection“ in Berlin protestiert? War das Eintreten des Bundes­kanzlers zugunsten der „Flick-Collection“ ausschlaggebend für den unterbliebenen Protest?

Sechzig Jahre sind seit dem missglückten Attentat des 20. Juli 1944 vergangen. Die Bundesrepublik Deutschland ist zweifellos eine stabile Demokratie, in der nicht Widerstand, sondern kritischer Ver­stand gefordert ist. Doch wie die aufgezeigten Beispiele belegen, mangelt es bei aller demokratischen Stabilität in Deutschland gelegentlich an Sensibilität, Wachsamkeit und Zivilcourage – mit zuneh­mender Tendenz. Jüngstes Beispiel: die ohne Widerspruch des Publikums gehaltenen antisemiti­schen und antiisraelischen Hetzreden von eingeladenen Vertretern arabischer Staaten auf der dies­jährigen Frankfurter Buchmesse.

Die unausweichliche Tatsache, dass in die Gegenwart nachwirkende geschichtliche Ereignisse, so ungeheuerlich sie auch gewesen sind, sich allmählich historisieren, darf niemandem in Deutschland als Vorwand nachlassender Wachsamkeit gegenüber restaurativen Entwicklungen dienen. Dies ginge langfristig nicht nur auf Kosten betroffener gesellschaftlicher Minderheiten, sondern beschädigte die Demokratie als ganzes. Sie erfordert unablässige Sensibilität, Empathie, Entschlossenheit und Wach­samkeit – Wachsamkeit auch gegen Versuche „forcierter Normalisierung“, die nichts anderes sind als Versuche verordneter Schlussstriche unter eine weiterhin wirkungsmächtige deutsche Vergan­genheit. Denn mit jedem dieser Versuche entfernen wir uns von jener wünschenswerten deutsch­jüdischen Normalität, ja, von Normalität eines demokratischen Gemeinwesens überhaupt, die erst dann eintreten kann, wenn sie nicht mehr verordnet oder herbeigeredet werden muss.

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