„Du Jude“ als Schimpfwort auf dem Schulhof?



Vortrag des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der 3. Bildungskonferenz „Demokratie braucht Bildung“ des Landkreises Bad Kissingen, 25.10.2019, Bad Bocklet, Thema: „Du Jude“ als Schimpfwort auf dem Schulhof? Die Bedeutung von Bildung im Kampf gegen Antisemitismus

 

 

Anrede,

leider ist mir nicht die Gabe in die Wiege gelegt, Sie jetzt wie beim eben gehörten Poetry Slam zu unterhalten. Wir mussten als Schüler zwar auch Gedichte auswendig lernen und vor der Klasse vortragen. Aber das hatte mit der Darbietung, die wir gerade genossen haben, etwa so viel zu tun wie das Krächzen eines Raben mit einer Nachtigall.

Ich danke Ihnen, dass ich trotzdem heute auf Ihrer dritten Bildungskonferenz sprechen darf, und freue mich auf den Austausch mit Ihnen!

Denn Sie sind die Fachleute. Sie erleben, was heute in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen Alltag ist. Sie sind mit Fragen und Anforderungen konfrontiert, die vor 20 Jahren – also vielleicht in Ihrer Ausbildung - noch kein Thema waren. Und Sie sind immens wichtige Multiplikatoren. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie in Ihrer Freizeit bereit sind, sich mit einem so schwierigen, ja manchmal unangenehmen

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Eltern und Lehrer haben heutzutage etwas gemeinsam, und zwar stärker als früher:

Sie wissen nicht, was ihre Kinder bzw. Schüler spielen, ansehen, liken oder teilen. Sie wissen häufig auch nicht, mit welchen Bildern die Jugendlichen konfrontiert werden. Und was vielleicht unverarbeitet und Angst machend in ihren Köpfen bleibt.

Im vergangenen Jahr haben Sie sich bei der Bildungskonferenz mit dem Thema „Digitale Bildung“ befasst. Ich glaube, wenn wir uns in diesem Jahr mit Bildung für die Demokratie befassen, können wir die Digitalisierung nicht außen vor lassen. Die digitale Welt hat einen so großen Einfluss gewonnen, dass wir sie im Bereich Bildung immer mit-denken müssen.

Schon vor der Digitalisierung waren Jugendliche auch Einflüssen außerhalb des Elternhauses und der Schule ausgesetzt. Doch wenn wir uns daran erinnern, dass es Zeiten gab – und die sind gar nicht so lange her – als Eltern es ihren Kindern verboten, die „Bravo“ zu lesen, so würden heute Eltern mit den gleichen Wertmaßstäben vermutlich seufzen: Die Lektüre der „Bravo“ wäre ja harmlos. Die Youtube-Videos und Computerspiele, die mein Kind heute konsumiert, sind von ganz anderem Kaliber.

Hinzu kommen die sogenannten sozialen Medien. Auf Facebook und Twitter erleben die Nutzer, dass es offenbar normal ist, sich gegenseitig zu beleidigen, Menschen zu denunzieren, abzuwerten und Hass zu säen. Einer solchen verrohten Kommunikation waren junge Menschen vor wenigen Jahrzehnten noch nicht in dieser Breite ausgesetzt.

Auch für die Verbreitung von Antisemitismus bieten die sozialen Medien beste Voraussetzungen. Alte judenfeindliche Stereotype werden dort in einer beängstigenden Häufigkeit reproduziert. Rechtsextremisten und auch Islamisten nutzen diese Plattformen gezielt für ihre antisemitische Propaganda.

Wie entsetzlich die Folgen dieses Medienkonsums sein können, hat sich vor zwei Wochen in Halle gezeigt. Der Rechtsextremist, der dort die Synagoge angegriffen und zwei Menschen getötet hat, hat sich  - so lauten jedenfalls alle Berichte – sehr viel im Netz bewegt und war in Gruppen aktiv, in denen Anschläge mit besonders vielen Toten gefeiert werden. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser junge Mann über das Internet radikalisiert hat.

Es sind nicht diese Extrembeispiele, mit denen Sie in der Regel in Ihren Einrichtungen konfrontiert sind. Doch es gibt sie. Und der Anschlag in Halle hat gezeigt: Zum einen müssen – und das ist die traurige Realität in Deutschland im Jahr 2019 – jüdische Einrichtungen stärker geschützt werden als bisher.

Zum anderen müssen wir gesellschaftlich auf allen Ebenen und in allen Bereichen – und da gehört die virtuelle Welt dazu – stärker gegen alles vorgehen, das der Menschenwürde widerspricht.

2018 hat die Technische Universität Berlin eine Langzeit-Studie über Antisemitismus im Netz veröffentlicht. Die Wissenschaftler stellten dabei ein – ich zitiere – „nie zuvor da gewesenes Ausmaß“ an judenfeindlichem Gedankengut fest. Sie sprachen von einer „Omnipräsenz von Judenfeindschaft (…) als Teil der Webkommunikation 2.0“. Das Internet muss der Studie zufolge als Beschleuniger gesehen werden für die Normalisierung von Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft.

Die Befunde der Wissenschaftler der TU bestätigen sich in einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur, die ebenfalls im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Darin gaben 82 Prozent der befragten Juden an, im Internet schon Antisemitismus erfahren zu haben. Am häufigsten von allen gesellschaftlichen Bereichen wurde Antisemitismus in den sozialen Medien als starkes Problem wahrgenommen.

Ist es dann verwunderlich, meine Damen und Herren, dass das Wort „Jude“ auf dem Schulhof als Schimpfwort benutzt wird?

Ehrlich gesagt: Leider nicht.

Die meisten Bürger in Deutschland, und das gilt natürlich auch für Schüler, kennen zwar keinen Juden persönlich. Oder zumindest ist ihnen nicht bewusst, dass der Kollege oder Nachbar jüdisch ist.

 

Dennoch sind antisemitische Vorurteile von Generation zu Generation weitergegeben worden. Denn kein Baby wird hasserfüllt geboren. Kein Kind ist aus sich selbst heraus antisemitisch, rassistisch oder sexistisch.

Heutzutage wirkt jedoch nicht nur die Erziehung zu Hause auf die Heranwachsenden ein, sondern eben, wie bereits erwähnt, ganz massiv die digitalen Medien.

Das Thema der heutigen Konferenz, „Demokratie braucht Bildung“ könnten wir daher auch ergänzen: Demokratie braucht digitale Bildung.

Denn worum geht es?

Es geht darum, jungen Menschen ein so stabiles Wertegerüst mitzugeben, dass sie sowohl in der Lage sind, sich eigenständig ein Urteil zu bilden, als auch, sich damit selbst zu schützen.

Im Mittelpunkt dieser Wertevermittlung sollte meines Erachtens der Umgang mit anderen Menschen stehen, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem mit Minderheiten.  

Wir erleben heute, dass Missgunst, Vorurteile und ja, purer Hass gegen Menschen anderer Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung wieder präsent sind und sich ausbreiten. 

Um beim Thema Antisemitismus zu bleiben:

Es gab Fälle, in denen jüdische Schüler ihre Schule verlassen mussten, weil sie verbal und sogar tätlich angegriffen wurde.

An einem Gymnasium in Berlin-Wedding beispielsweise wurde ein Schüler von seinen Mitschülern mit folgenden Worten bedrängt: „Man soll den Juden die Köpfe abschneiden. Hitler war gut, denn er hat die Juden umgebracht!“.

Oder ein anderer schockierender Vorfall: Ein Mädchen wurde in einer Grundschule – ich wiederhole - in einer GRUNDSCHULE mit dem Tode bedroht, nur weil sie jüdisch war.

Und ebenso nehmen die Schüler über das Netz Vorurteile auf gegenüber anderen Minderheiten, wie Ausländern oder Muslimen, wie Homosexuellen oder behinderten Menschen. Manche Kinder haben vielleicht noch nicht verstanden, dass diese Witze nicht witzig sind, sondern verletzend. Viele Jugendliche durchdringen dies intellektuell auch nicht, wissen aber sehr wohl, dass sie mit entsprechenden Bemerkungen provozieren können.

Gerade die Schulbildung trägt jedoch entscheidend zur Vermittlung positiver Werte bei. Werte, die auch in unserem Grundgesetz verankert sind, dessen 70. Geburtstag wir in diesem Jahr begangen haben.

Gleichheit aller Menschen, Religions- und Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, um nur einige zu nennen – dies alles gründet auf den Lehren unserer Vergangenheit.

Und deswegen finde ich es auch unumgänglich, um die Vergangenheit wissen zu müssen.

Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung im Jahr 2017 wissen vier von zehn Schülern nicht wofür Auschwitz steht.

Eine 2018 veröffentlichte Studie des Nachrichtensenders CNN fand heraus, dass 40 Prozent der Deutschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren nach eigener Einschätzung „wenig bis nichts über den Holocaust wissen“.

Die Freiheiten und Grundrechte, auch die universellen Menschenrechte, die wir heute zum Glück haben und als selbstverständlich erachten, entstanden jedoch nicht ohne Grund.

Sie sind die Konsequenz aus der Nazi-Barbarei und die Schlussfolgerung aus der Schoa mit sechs Millionen jüdischen Opfern der Nazidiktatur.

Seitdem heißt es „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“. Aber um es nie wieder geschehen zu lassen, muss man eben doch wissen, was überhaupt geschehen ist.

Wir dürfen es daher nicht zulassen, dass die Wissenslücke noch größer wird. Denn klar ist, nur wer sich der Vergangenheit bewusst ist, kann in der Gegenwart für eine friedliche Zukunft agieren.

Wissen Sie, ich bin Mediziner. Wenn ich eine Krankheit diagnostiziere und ein Medikament verschreibe, es aber dann nicht besser, sondern schlimmer wird, dann weiß ich, ich muss etwas ändern, ein anderes Medikament oder eine andere Therapiemethode finden.

Ich bin kein Pädagoge und möchte daher nicht anmaßend klingen, aber vielleicht sollte man auch in der Schulbildung etwas ändern oder sich etwas Neues überlegen, damit die Krankheit „Unwissen über die Schoa und über das Judentum generell“ verschwindet.

Es ist in der Tat nämlich so, dass wir nicht behaupten könnten, die Wissensvermittlung über das Judentum sei in Deutschland wirklich zufriedenstellend. Hier gibt es durchaus Defizite.

Der Zentralrat der Juden ist über die vergangenen Jahre zu der Erkenntnis gekommen: Obwohl das Wissen vieler Jugendlicher über den Holocaust so gering ist, kommt das Judentum als Thema in der Schule überproportional viel im Zusammenhang mit der Schoa vor. In vielen Schulbüchern werden Juden ausschließlich als Opfer präsentiert.

Die reiche jüdische Tradition, die Religion an sich, wichtige jüdische Denker und Rabbiner, der Beitrag des Judentums zur deutschen Kultur – das kommt hingegen meistens zu kurz.

Der Zentralrat der Juden hat angesichts dieser Defizite mit der Kultusministerkonferenz Ende 2016 in einer Gemeinsamen Erklärung das Ziel formuliert, die jüdische Religion, Kultur und Geschichte breiter als bislang in den Schulen zu vermitteln. Auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern sollen diese Themen künftig eine größere Rolle spielen.

 

 

Um unsere gemeinsame Erklärung mit der KMK mit Leben zu füllen, haben wir als ersten Schritt eine kommentierte Materialsammlung für Lehrer online gestellt. Dort finden Sie zu den Bereichen Jüdische Geschichte und Gegenwart, Jüdische Religion, Israel und Antisemitismus Einordnungen zu didaktischem Material, das wir für empfehlenswert halten. Diese Materialsammlung wird fortlaufend von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe ergänzt. Wir hoffen, dass die Schul- und Kultusministerien der Länder für eine Verbreitung dieser Materialien sorgen.

Die Themenbereiche Antisemitismus und Israel haben wir bewusst in diese Materialsammlung aufgenommen. Lehrkräfte sind heutzutage mit ganz unterschiedlichen Formen von Antisemitismus konfrontiert. Dann immer adäquat zu reagieren, ist eine Herausforderung. Und sicherlich gibt es dann auch unter Lehrerinnen und Lehrern Unsicherheiten und die Sorge, etwas falsch zu machen.

Angesichts der hohen Erwartungen, die heutzutage allgemein an die Schulen gerichtet werden, finde ich es nur fair, sowohl die Lehrerbildung in dieser Hinsicht zu verbessern, als auch, den Lehrkräften Material an die Hand zu geben.

Gerade in Schulklassen mit vielen Kinder aus Familien aus dem arabischen Raum kann eine Schulstunde, die die Schoa zum Thema haben sollte, in einer hitzigen Diskussion über den Nahostkonflikt enden. In Berlin ergab eine kleine Umfrage – sie war nicht repräsentativ, aber ein Schlaglicht – dass muslimische Schüler zum Teil beim Thema Holocaust den Unterricht verlassen haben.

Neben guten Lehrmaterialien – da waren wir vom Zentralrat der Juden und die Kultusminister sich einig – sind auch persönliche Begegnungen mit Juden wichtig. Die Förderung solcher Begegnungen haben wir in der eben erwähnten Gemeinsamen Erklärung ebenfalls festgehalten.

Die eindrücklichsten Begegnungen, die denkbar sind, sind meistens jene mit Schoa-Überlebenden. Ich hoffe, dass einige von Ihnen dies schon einmal erlebt haben. Wenn ein Zeitzeuge seine Erinnerungen erzählt und das Geschehen, das inzwischen so weit weg liegt, plötzlich ganz lebendig wird, ganz greifbar, dann kenne ich niemanden, der unberührt den Raum verlässt. Für die Zeitzeugen ist das übrigens auch eine ganz positive Erfahrung. So schmerzhaft es zwar für sie ist, ihre Erinnerungen aufleben zu lassen, so wohltuend ist es für sie zugleich, das Interesse der Zuhörer zu spüren, ihre Wertschätzung und ihre Tränen.

Der Lauf der Zeit bringt es mit sich, dass immer weniger Zeitzeugen so rüstig sind, vor Publikum oder vor einer Schulklasse aufzutreten. Es ist daher ungeheuer wichtig, dass wir möglichst viele Filmaufnahmen von Überlebenden haben, wie es etwa die Shoa-Foundation von Steven Spielberg gemacht hat. Zwar können diese Aufnahmen das echte Gespräch nicht ersetzen. Sie sind für künftige Zeiten dennoch ein sehr gutes Mittel, um den heute Lebenden auch einen emotionalen Zugang zum historischen Geschehen zu ermöglichen.

Begegnungen mit Juden wollen wir aber auch deshalb fördern, um die Schülerinnen und Schüler mit dem heutigen jüdischen Leben vertraut zu machen. Der Zentralrat hat daher 2017 das Projekt „Likrat - Jugend und Dialog“ gestartet. „Likrat“ ist hebräisch und bedeutet „aufeinander zu“.

Für das Projekt haben wir inzwischen 150 Jugendliche, Likratinos genannt, zwischen 15 und 19 Jahren ausgebildet. Die Likratinos besuchen jeweils in Zweier-Teams Schulklassen. Dort erklären sie gleichaltrigen Schülern – also auf Augenhöhe – was ihr Judentum ausmacht, wie ihr jüdischer Alltag aussieht, und - ja auch welchen Vorurteilen sie mitunter ausgesetzt sind. In mehreren Seminaren bereiten wir die Jugendlichen auf ihre Einsätze in Schulen vor, damit sie sowohl für alle Fragen als auch gegen mögliche verbale Attacken gewappnet sind.

Für die Schulklassen ist dies häufig das erste Mal, dass sie Juden in ihrem Alter kennenlernen. Die Hemmschwelle, alle Fragen loszuwerden, ist gegenüber Gleichaltrigen natürlich viel niedriger als gegenüber Erwachsenen oder gar Autoritätspersonen wie einem Rabbiner. Daher kommen meistens sehr lebhafte Gespräche zustande. Und die Jugendlichen gehen mit einer sehr wichtigen Erkenntnis nach Hause: Die sind zwar jüdisch, aber eigentlich gar nicht anders als wir. Unsicherheit im Umgang miteinander verschwindet dann.

Und gerne verrate ich Ihnen auch schon: Dieses Projekt möchten wir ausweiten auf Erwachsene. Unter dem Titel „Meet a Jew“ wollen wir solche Begegnungen zum Beispiel auch in Sportvereinen ermöglichen.

Neben Begegnungen halte ich auch Besuche von Gedenkstätten während der Schulzeit für wichtig. Man sieht mit eigenen Augen den Ort des Geschehens und begreift die Wahrhaftigkeit.

Daher bin ich der Meinung, dass ein derartiger Besuch für alle weiterführenden Schulen in die Lehrpläne aufgenommen werden sollte. Das braucht eine gute fachliche und pädagogische Vor- und Nachbereitung. Doch egal, ob es Schüler mit oder ohne Migrationshintergrund sind, werden sie einen solchen Besuch nicht vergessen. Er vertieft das im Unterricht erworbene Wissen und schafft Empathie mit den Opfern.

Ein besonderes Projekt, von dem ich vor kurzem hörte, möchte ich Ihnen erzählen: die Bremer Berufsschule und eine Berufsschule aus der Nähe von Berlin kooperieren seit Jahren mit der Gedenkstätte Sachsenhausen. Erst gerade waren wieder Tischler-, Maler- und Maurer-Auszubildende dort, um notwendige Reparaturarbeiten in der Gedenkstätte zu erledigen. Dabei trafen sie auch einen Schoa-Überlebenden zum Gespräch. Ich finde, das ist ein beispielhaftes Projekt: Die Azubis lernen dabei in jeder Hinsicht und die Gedenkstätte profitiert auch noch von ihrem Besuch.

Die intensive Beschäftigung mit der Schoa kann auch durch die Übernahme einer Patenschaft von Stolpersteinen erreicht werden. Es bewegt mich immer wieder, wie Schulklassen, die eine solche Patenschaft übernehmen, mit Eifer und Interesse, die Geschichten der Personen recherchieren, derer sie damit gedenken wollen. Stolpersteine zeigen zudem, dass der Holocaust nicht irgendwo abseits, in der Peripherie stattfand. Nein, er war hier, mitten unter uns und vor jedermanns Augen.

 

Darüber hinaus ist es jedoch essenzielle Aufgaben der Schulen, Wissen über das Judentum nicht ausgerechnet nur in der Zeit von 1933 bis 1945 zu vermitteln. Und hier müssen wir leider feststellen, dass Schulbücher und Lehrmaterialien für die Lehrkräfte häufig von einer verzerrten oder folkloristischen Darstellung von Juden durchzogen sind.

Im November starten wir daher gemeinsam mit dem Verband Bildungsmedien eine Workshop-Reihe für die Schulbuch-Verlage. Redakteure von Religions- und Ethikbüchern sollen dafür sensibilisiert werden, wie das Judentum angemessen und frei von Klischees dargestellt werden kann. Auch unser heutiges, modernes jüdisches Leben sollte Thema sein.

Das gleiche gilt für den Bereich Antisemitismus. Antisemitismus wird häufig nur in einem historischen Kontext im Geschichtsunterricht thematisiert. Es wäre aber dringend notwendig, die modernen Formen des Antisemitismus im Unterricht aufzugreifen. Stichwort: soziale Medien. Die Jugendlichen müssen dazu befähigt werden, Antisemitismus zu erkennen, egal, in welchem Gewand er daher kommt.

Der Anschlag von Halle hat uns drastisch vor Augen geführt, dass uralte judenfeindliche Stereotype in rechtsradikalen Kreisen noch und nöcher verbreitet werden. Sie werden reproduziert und dringen in neuem Gewand oder zumindest auf neuen Kanälen in die Köpfe der Jugendlichen.

Pädagogen wie Micha Brumlik plädieren daher dafür, in die Lehreraus- und –fortbildung das Thema Antisemitismus aufzunehmen. Und zwar unabhängig vom Fach, das studiert wird. Auch Biologie- oder Musiklehrer sollten hier so fortgebildet werden, dass sie ihre Schüler aufklären oder gegen Antisemitismus sofort einschreiten können.

Denn wohin die mangelnde Sensibilität und das fehlende Wissen über das Judentum führen, zeigte sich vor kurzem  - um ein Beispiel zu nennen - an einem Titelbild des Heftes „Spiegel Geschichte“: Zu sehen war zwei Männer mit Rauschebärten und in Kleidung, wie sie bei Juden im osteuropäischen Stetl im 19. Jahrhundert üblich war. Die Schlagzeile darüber lautete: „Jüdisches Leben in Deuschland. Die unbekannte Welt nebenan“.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

ich glaube, wenn man Bildung als Wissens- und Wertevermittlung versteht, dann kann man Vorurteile nicht nur abbauen. Man verhindert auch, dass sie überhaupt erst entstehen.

Zugegeben, wir alle denken manchmal in Kategorien und stecken Menschen vorschnell in Schubladen. Psychologisch ist dies durch eine Art Schutzmechanismus zu erklären, weil wir uns diese komplexe Welt vereinfachen wollen.

Aber wo hört vermeintlich harmloses Schubladen-Denken auf und wo fangen verletzende Vorurteile an?

Darf man auch zwischen positiven und negativen Zuschreibungen unterscheiden?

Ist es ok zu sagen: „Alle Juden sind klug?“

Aber ist es nicht ok zu sagen „Alle Juden sind reich und streben nach Macht“?

Ersteres könnte ja noch als Kompliment aufgefasst werden, aber es ist dennoch nichts anderes, als eine Pauschalisierung, eine Verallgemeinerung und Zuschreibung einer Charaktereigenschaft, die auf Stereotypen basiert.

Auch die zweite Aussage stammt aus einem jahrhundertealten tradiertem, judenfeindlichen Stereotyp, denen Antisemiten durch aktuelle Entwicklungen vermeintlich neue Legitimität verleihen wollen. Es bleibt aber, was es ist, ein Vorurteil, das dazu dient, Juden auszugrenzen und zu diskriminieren.

Daher denke ich, es gibt gar kein „harmloses Schubladen-Denken“. Eine Verallgemeinerung bleibt immer eine ungerechte Zuordnung, die auf Annahme von unzureichenden, falschen oder unwahren Ressentiments beruht. Wenn wir über Menschen urteilen, sollten wir also immer zuerst in uns gehen und uns fragen, ob wir uns bei unserer Urteilsfindung nicht doch nur der allgemein herrschenden Vorurteile bedient haben.

Das gilt vor allem im Umgang mit Minderheiten. Hier sehe ich einen Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie. Je stärker eine Minderheit ausgegrenzt oder diskriminiert wird, und je stärker die Mehrheit dies mitträgt oder schweigend wegschaut, desto schlechter ist es um die Demokratie bestellt.

Demokratische Kultur zeichnet sich jedoch durch Toleranz und Respekt aus. Die Vermittlung dieser Werte sollte daher im Zentrum der demokratischen Bildung stehen.

Der Leitgedanke sollte für uns alle immer Artikel eins des Grundgesetzes sein: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Die Würde des Menschen – nicht die Würde des Mannes, oder die Würde von Christen oder die Würde von Weißen.

Ich möchte gesellschaftliche Missstände im Umgang mit anderen Minderheiten nicht ausblenden, doch da ich hier als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland spreche, möchte ich noch kurz einen Blick auf den Umgang mit Juden in unserem Land werfen.

Ich habe bereits die sozialen Medien als Ort von massivem Antisemitismus erwähnt. Die digitale Welt spiegelt jedoch nur wider, was sich in der wirklichen Welt abspielt bzw. wirkt in diese massiv hinein.

Wir müssen in Deutschland generell einen wachsenden Antisemitismus konstatieren. Nicht nur das Bedrohungsgefühl, das die jüdische Gemeinschaft hat, ist gewachsen. Sondern auch die tatsächliche Zahl an antisemitischen Vorfällen. Allein hier im Freistaat ist die Zahl antisemitischer Straftaten im vergangenen Jahr enorm gestiegen: Von 148 Fällen im Jahr 2017 auf 219 Fälle in 2018. Das ist eine Steigerung von fast 50 Prozent.

Bundesweit sehen die Zahlen nicht viel besser aus:

2018 hat die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zugenommen. Im Schnitt wurde im vergangenen Jahr jede zweite Woche ein jüdischer Friedhof geschändet, es kam zu 21 judenfeindlichen Angriffen auf Synagogen.

Und im ersten Halbjahr dieses Jahres registrierten Polizei und Verfassungsschutz bereits 8.600 rechtsextremistische Straftaten. Das waren 900 mehr als im Jahr davor.

Diese beunruhigenden Entwicklungen hatten allerdings nicht dazu geführt, an allen jüdischen Einrichtungen die Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen. Es ist bitter, dass erst ein Terroranschlag wie in Halle passieren musste, damit jetzt wirklich die zuständigen Behörden in allen Bundesländern aufgewacht sind.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ordnet die allermeisten antisemitischen Straftaten Rechtsextremisten zu. Das will ich auch nicht anzweifeln. Dennoch bleibt festzuhalten: Jede judenfeindliche Straftat, für die kein Täter ermittelt werden kann, wird dem rechten politischen Spektrum zugeordnet. Nach Erfahrungen vieler Juden geht eine nicht unerhebliche Zahl von Übergriffen aber auch von Muslimen aus. Die Kriminalstatistik spiegelt daher nur in eingeschränkter Weise die Realität wider.

 

 

 

 

 

Ich bin daher sehr froh, dass wir in Bayern RIAS gegründet haben. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – so heißt RIAS mit ganzem Namen – versucht, antisemitische Taten genauer zu erfassen. Durch ihr niedrigschwelliges Angebot – Taten können sehr leicht online gemeldet werden – trauen sich mehr Betroffene, sich an RIAS zu wenden als an die Polizei.

Darüber hinaus erfasst RIAS auch Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Eben zum Beispiel, wenn „Jude“ als Schimpfwort benutzt wird. Das kommt ja nicht nur auf Schulhöfen vor, sondern zum Beispiel auch sehr häufig auf dem Fußballplatz unter Erwachsenen.

Durch die Statistiken von RIAS erhalten wir ein realistischeres Bild, wie es wirklich um den Umgang mit Juden in diesem Land bestellt ist. Zuerst wurde RIAS in Berlin gegründet. Inzwischen gibt es auch einen RIAS Bundesverband und ich hoffe, bald auch weitere Regionalstellen in anderen Bundesländern.

Diese Zahlen von RIAS und den Sicherheitsbehörden sind auch wichtig für die Arbeit der Antisemitismus-Beauftragten. Noch haben wir nicht in allen Bundesländern solche Beauftragte, doch mit Felix Klein auf Bundesebene und mehreren Beauftragten in verschiedenen Bundesländern sind wir inzwischen recht gut aufgestellt.

Hier in Bayern, das liegt mir wirklich am Herzen zu betonen, haben wir mit Ludwig Spaenle einen besonders engagierten Beauftragten gegen Antisemitismus.

Herr Spaenle hat es angeregt, dass das Landeskabinett kürzlich die internationale Antisemitismus-Definition aufgegriffen hat. Er möchte, dass sie auch Richtschnur für Vereine und Verbände wird. Diese Definition umfasst nicht nur Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen, sondern auch auf den Staat Israel. Sie soll auch Leitgedanke werden bei der Ausbildung der Justiz und der Polizei.

Bei Bildung denken wir zuallererst an Schulen. Doch berufliche Ausbildung, universitäre Bildung und Fortbildung sind natürlich ebenso wichtige Felder.

Dennoch möchte ich auf die Lehrerinnen und Lehrer an den weiterführenden Schulen und den Berufsschulen noch einmal zu sprechen kommen. Ich halte sie für besonders wichtige Multiplikatoren, weil sich junge Menschen noch am leichtesten prägen lassen – im Negativen, wie im Positiven. Das heißt, unabhängig von der familiären Prägung der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen können wir bei ihnen in Sachen Demokratie-Erziehung noch am meisten erreichen.

Ich hatte vorhin bereits erwähnt, dass ich eine Fortbildung für Lehrer für notwendig halte, um sie in der Bekämpfung des Antisemitismus besser zu wappnen.

 

 

 

 

 

Ähnliches gilt für den Umgang mit Rechtsextremisten. Lehrer sind häufig direkt damit konfrontiert. In Sachsen gab es ein Modellprojekt, bei dem Berufsschullehrer geschult wurden, um rechtsextremistischen Schülern besser begegnen zu können. Dabei stellte sich leider auch heraus, dass diese Lehrer häufig keinen Rückhalt ihrer Schulleitung hatten. Rechtsextreme Vorfälle in der Schule wurden heruntergespielt. Hier gibt es auch sehr viel Nachholbedarf, und das gilt beileibe nicht nur für Schulen in den östlichen Bundesländern.

Denn das möchte ich betonen: Wir fordern heutzutage sehr viel von Lehrerinnen und Lehrern. Daher dürfen wir sie auch nicht alleine lassen. Einem Rechtsruck in der Gesellschaft, wie wir ihn derzeit erleben, kann sich kein Lehrer alleine entgegenstellen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

abschließend möchte ich noch kurz auf das Thema Grundrechte und Demokratie-Erziehung eingehen.

Nach meinem Eindruck nehmen viele Bürger die Grundrechte und Freiheiten, die das Grundgesetz garantiert, als etwas sehr Selbstverständliches hin. Obwohl ein Großteil dieser Freiheiten und Rechte in der DDR nicht gegeben waren, scheint es selbst in diesen Bundesländern vielfach vergessen zu sein, welch eine Errungenschaft diese Grundrechte sind.

Sie müssen offensichtlich - und bei jungen Menschen ohnehin - immer wieder neu vermittelt und mit Leben erfüllt werden.

 

So bemerkenswert der lange Atem vieler junger Leute ist, die seit Monaten bei den „Friday for Future“-Demos mitmachen, so hat diese Bewegung hoffentlich auch einen Lerneffekt, nämlich dass das Versammlungsrecht ein hohes Gut ist. Und dass sie diese Freiheit auch nutzen können, um gegen andere Missstände zu protestieren, wenn dies nötig ist.

Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der Schutz des Eigentums stehen im Grundgesetz. Wenn wir demokratische Werte vermitteln, müssen wir auch darauf bestehen, dass man sich nicht nur die Grundrechte herauspickt, die einem angenehm sind. Deshalb ist das Graffiti an einer Hauswand, selbst wenn es sich gegen den Klimawandel richtet, nicht rechtens. Und deshalb ist es auch nicht rechtes, ein Auto anzuzünden, um gegen hohe Mieten zu protestieren.

 

Eine demokratische Gesellschaft lässt sich eben nicht in ein simples Schwarz-Weiß-Muster pressen. Die Bereitschaft zu Kompromissen und manchmal auch zu Verzicht gehört dazu, wenn wir ein gutes Miteinander erreichen bzw. erhalten wollen. Meines Erachtens ist diese Haltung leider nicht mehr sehr populär. Und dann überrascht es nicht, wenn die Menschen sich von den demokratischen Parteien, die um Kompromisse ringen, abwenden und lieber einer populistischen Partei mit rechtsradikalen Zügen wie der AfD nachlaufen.

 

 

 

Unsere Grundwerte sollten wir jedoch nicht nur in den Schulen, sondern auch in den Integrationskursen vermitteln. Ich denke, diese Kurse sollten ausgeweitet und auf ihre Inhalte überprüft werden. Dabei geht es mir nicht nur um das Thema Antisemitismus und die Einstellung der Kursteilnehmer zu Israel, sondern um unsere Grundwerte insgesamt.

 

 

Verehrte Damen und Herren,

Demokratie braucht Bildung. Das kann man in der Tat nur bejahen. Sie braucht eine umfassende Bildung. Daher sind auch alle Bildungseinrichtungen gefordert.

Doch Demokratie braucht vor allem überzeugte und beherzte Demokraten.

Der Bildungsabschluss ist dabei nicht wichtig. Der Hausmeister kann ein ebenso beherzter Demokrat sein wie die Schulleiterin.

Denn vom Stammtisch über den Fußballverein bis zur Universität sollte überall eine demokratische Kultur gepflegt werden. Eine demokratische Kultur, in der für Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit, für Rassismus oder Homophobie, kurz: in der für Intoleranz kein Platz ist!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich jetzt auf die Diskussion mit Ihnen!

 

 

 

 

 

 

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