Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
von der Befreiung der Konzentrationslager gibt es Filmaufnahmen der Alliierten, die wir alle kennen. Es sind Dokumente des Grauens, und es ist bis heute - selbst mit diesem großen zeitlichen Abstand - kaum erträglich, sie anzusehen.
Wie muss es erst jenen Menschen ergehen, die damals selbst zu den Lager-Insassen gehörten? Es gibt eine eindrucksvolle Geschichte, die ich Ihnen heute, zum 73. Jahrestag der Befreiung von Dachau, erzählen möchte:
2016 entdeckte der Dachau-Überlebende Ben Lesser sich selbst auf einer dieser Filmaufnahmen. Es sind – anders lässt es sich nicht beschreiben – wandelnde Skelette, die auf den Bildern zu sehen sind. Bis auf die Knochen abgemagerte Menschen. Einer von ihnen schaut geradezu neugierig in die Kamera. Mit ganz wachen Augen. Ben Lesser.
Er ist sich nicht 100-prozentig sicher, dass er diese Person ist, hält es aber für sehr wahrscheinlich. Und er berichtete:
„Obwohl ich fast vor den Füßen der Befreier kollabiert wäre, bin ich vielleicht dieser Junge im Film. Angespornt zu etwas mehr Leben, in dem Wissen, dass ich nun wieder ein Leben haben würde.“
Ben Lesser hatte die Hölle von Auschwitz und Buchenwald überlebt, bevor er nach Dachau kam. Wie die Menschen in den Lagern vegetieren mussten – das war kein Leben. Das wird aus seinen Worten ganz deutlich. Die Deutschen erhielten allenfalls die Arbeitskraft von jenen, die sie noch als nützlich einstuften.
Als die Amerikaner 1945 Dachau befreiten, erwachte bei den wenigen noch übrigen Lagerinsassen so etwas wie Zuversicht, dass sie wieder ein Leben haben würden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir gedenken heute in tiefer Trauer der tausenden Opfer dieses Konzentrationslagers.
Zugleich können wir uns sehr glücklich schätzen, dass heute wieder einige Überlebende unter uns sind. Ich begrüße Sie im Namen des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern ganz besonders herzlich und hoffe, dass Sie hier gute Tage verbringen!
Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie diese Strapaze in Ihrem vorgerückten Alter auf sich genommen haben! Und ebenso bin ich allen sehr dankbar, die bereit sind, Zeugnis abzulegen. Ob Sie in Schulklassen oder für eine Video-Dokumentation von Ihrem Schicksal berichten – niemand kann so authentisch wie Sie die Verbrechen der Nazis schildern.
Die Gedenkstätte Dachau hat inzwischen ein großes Video-Archiv mit Erinnerungen von Zeitzeugen. Doch so wertvoll dieses Archiv ist – und ich bin der Gedenkstätte für diese Arbeit sehr dankbar – diese Filme können eine echte Begegnung mit einem Überlebenden nicht ersetzen. Das bestätigen auch die Mitarbeiter der Gedenkstätte. Denn im direkten Gespräch entsteht eine Verbindung zwischen dem Zeitzeugen und den Zuhörern. Manchmal, weil sie schließlich miteinander weinen.
Es sind solche Begegnungen, die bei jungen Menschen tatsächliches Mitfühlen auslösen. Es sind Begegnungen, die sie nie wieder vergessen werden.
Und wissen Sie, verehrte Überlebende, was eigentlich mein Wunsch wäre? Dass ich heute zu Ihnen sagen könnte: Die Welt hat verstanden! Es gibt keinen Antisemitismus mehr! Auch keine andere gesellschaftliche Minderheit wird ausgegrenzt. Überall treffen wir auf Toleranz und Respekt!
Das würde ich sehr gerne verkünden. Aber leider ist die Realität nicht einmal in Deutschland oder Europa derart, dass wir in Jubel-Arien ausbrechen könnten. Im Gegenteil: Es gibt Anlass zu Sorge. Darauf werde ich gleich eingehen, eine Bemerkung möchte ich aber voranstellen:
Ich will auch nicht schwarzmalen. Deutschland ist noch immer ein Staat, in dem Juden gut leben können.
Allerdings nur mit einer gewissen Vorsicht und mit polizeilich geschützten Einrichtungen. Denn das Gefühl der Bedrohung, das sich in unseren Gemeinden breit macht, hat seine Gründe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
73 Jahre nach der Schoa erleben wir in Deutschland und leider auch in sehr vielen anderen europäischen Ländern Antisemitismus. Es ist ein Antisemitismus in verschiedenen Erscheinungsformen und in verschiedenen Gesellschaftsschichten. Und keinen gilt es zu verharmlosen. Wir stehen vor der Herausforderung, Antisemitismus an verschiedenen Fronten und mit unterschiedlichen Mitteln bekämpfen zu müssen.
Es ist daher ein großer Erfolg, dass auf Bundesebene erstmals das Amt eines „Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ geschaffen wurde. Als der Zentralrat der Juden die Forderung nach Einrichtung dieses Amtes erhob, warfen uns manche Kritiker Naivität vor. Ob wir glaubten, mit diesem Beauftragten sei das Problem gelöst?
Nein, meine Damen und Herren, so blauäugig sind wir wahrlich nicht. Der Beauftragte ist für uns jedoch ein wichtiger Partner im Kampf gegen Antisemitismus. Gerade weil es darum geht, Antisemitismus zu beobachten unter Rechtsextremen, bei Muslimen sowie im politisch häufig eher linken Spektrum in Form einer heftigen Israel-Feindschaft. Daher gilt es, ressortübergreifend und auch mit den Bundesländern gemeinsam Strategien gegen all diese Formen zu entwickeln. Im Austausch mit jüdischen Organisationen sowie anderen NGOs, die etwa in der Demokratieerziehung oder in der Sozialarbeit mit Muslimen tätig sind, ist der neue Antisemitismus-Beauftragte in der Position, hier wirklich etwas in die Gänge zu bringen.
Wir sind sehr froh, dass mit Felix Klein eine Persönlichkeit für den Posten gefunden wurde, die bereits viel Erfahrung auf diesem Gebiet mitbringt. Und er weiß: Er muss einen langen Atem haben.
In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wurden ebenfalls Antisemitismus-Beauftragte berufen. Das Saarland und Nordrhein-Westfalen – und wenn ich es richtig sehe, auch Bayern - befassen sich gerade mit der Schaffung eines solchen Postens, in Niedersachsen wird darüber diskutiert. Meines Erachtens wäre es gut, wenn alle Bundesländer dieses Amt einrichteten. Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei diesem Thema hatte auch der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus, der vom Bundestag berufen worden war, gefordert.
Nun ist es für die Arbeit der Beauftragten ebenso wie für andere Organisationen und Institutionen wichtig, Daten über Antisemitismus zu haben. Die polizeiliche Kriminalstatistik ist bislang unzulänglich. Wenn bei einer antisemitischen Straftat kein Täter ermittelt wurde, wird die Tat automatisch dem rechten Spektrum zugeschrieben. So entsteht die Zahl von 90 Prozent aller Straftaten, die angeblich von Rechtsextremen verübt werden.
Mit den Erfahrungen von Juden stimmt dies jedoch nicht überein. Eine differenziertere Statistik ist daher dringend notwendig. Organisationen wie RIAS, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, schließt zumindest für Berlin diese Lücke: Sie bietet Betroffenen auf sehr einfache Weise die Möglichkeit, jegliche Art von Vorfällen zu melden, auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit. Denn erst dieses Gesamtbild spiegelt die Situation wider, in der wir Juden uns in Deutschland tatsächlich befinden.
Auch in Bayern gibt es Überlegungen für ein niedrigschwelliges Meldesystem antisemitischer Vorfälle. Ich kann dies nur begrüßen. Wir könnten Meldestellen in den 13 jüdischen Gemeinden einrichten. Von dort würden die Fälle an übergeordnete Stellen weitergegeben, die dann eine Statistik erstellen könnten. Ich hoffe, dass es uns mit Unterstützung der Staatsregierung gelingt, dieses Meldesystem bis Ende dieses Jahres einzurichten.
Im Moment ist es leider eher so, dass Juden entweder einen Vorfall der Polizei nicht melden, weil sie fürchten, nicht ernst genommen zu werden, oder weil sie den Gang zu einer amtlichen Meldestelle scheuen.
Auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hat für Betroffene in Berlin eine Beratungsstelle eröffnet. Denn festzuhalten bleibt ein Ergebnis des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus: Die Wahrnehmung von Juden selbst und von Nicht-Juden, wie verbreitet Antisemitismus in unserer Gesellschaft ist, geht ganz stark auseinander.
Wir brauchen also valide Daten, damit die Mehrheitsgesellschaft das Problem überhaupt ernst nimmt. Und zwar so ernst, dass sie sich nachhaltig damit beschäftigt, und nicht bei einem Vorfall sich kurzfristig empört, um dann im Alltag genauso weiterzumachen wie bisher.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
über muslimischen Antisemitismus kann ich kaum sprechen, ohne Beifall von der AfD zu bekommen. Sie nutzt alles, womit sie hofft, Stimmung gegen Muslime machen zu können.
Doch manchmal muss man es eben aushalten, Beifall von der falschen Seite zu kriegen. Es liegt mir fern, Muslime generell zu verurteilen. Die Mehrheit von ihnen lebt in friedlicher Nachbarschaft in unserem Land.
Es nützt aber nichts, die Augen davon zu verschließen, dass es bei einigen Muslimen ausgeprägten Antisemitismus gibt. Das wird von Eltern und zum Teil auch von Imamen so weitergegeben. Arabische Fernsehsender und das Internet tun ihr übriges.
Gerade erst hat uns der Überfall im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg aufgewühlt. Und letztlich ist es egal, dass es sich dabei um einen arabischen Israeli handelte. Der Täter, ein Syrer, sah die Kippa und reagierte mit Gewalt.
Die bereits festsitzenden Vorurteile und den Hass auf Juden auch schon bei jungen Menschen spüren in der Regel am stärksten die Lehrer. In Klassen mit einem hohen Migrationsanteil ist Unterricht zum Thema Judentum oder Schoa manchmal gar nicht mehr möglich, berichten sie. Manche Schüler verlassen dann einfach den Klassenraum, andere beginnen sofort eine Diskussion über den Nahostkonflikt.
Wie können wir erwarten, dass Lehrer stets souverän und angemessen reagieren und diesen Antisemitismus im Keim ersticken können, wenn sie dafür gar nicht ausgebildet sind?
Hier besteht sehr viel Nachholbedarf. Daher hat der Zentralrat der Juden in Deutschland gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz damit begonnen, Strategien zu entwickeln, um die Lehrer besser gegen Antisemitismus zu rüsten. Es geht uns auch darum, dass die jüdische Geschichte, Kultur und Religion vermittelt wird – und zwar nicht ausschließlich am Beispiel der Zeit zwischen 1933 und 1945. Für den Unterricht und die Lehrer-Fortbildung haben wir mit der KMK Materialien zusammengestellt, die Lehrern wappnen sollen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
kein Mensch wird als Antisemit geboren. Die Schüler übernehmen die Vorurteile von der Eltern-Generation. Die wenigsten von ihnen sind tatsächlich schon einmal einem Juden begegnet.
Auch hier setzen wir an. So bildet der Zentralrat laufend jüdische Jugendliche aus, die dann in Zweierteams in Schulklassen gehen und den gleichaltrigen Schülern etwas über ihr jüdisches Leben erzählen. Vor allem aber merken die Schüler, dass es Jugendliche sind, wie sie selbst, ja zum Teil auch mit Migrationshintergrund und ähnlichen Erfahrungen des Ausgegrenzt-Seins. Wir wollen damit bei den jungen Leuten Brücken bauen und das Gefühl der Fremdheit beseitigen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es sind viele kleine Schritte, die unsere gesamte Gesellschaft im Kampf gegen den Antisemitismus gehen muss. Die eine große Lösung gibt es nicht. Und immer wieder gibt es Rückschläge.
Auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland muss diese Rückschläge aushalten. Wenn wir als nachfolgende jüdische Generationen jedoch eines gelernt haben von den Überlebenden der Schoa und den Wieder-Begründern unserer Gemeinden nach dem Krieg, dann ist es, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Das trotzige „Dennoch“ liegt Juden ohnehin in den Genen. Und es gilt auch jetzt. Jetzt erst recht:
Seien es antisemitische Übergriffe in Schulen oder auf dem Fußballplatz. Verbale Angriffe auf Facebook oder direkte Attacken auf der Straße – wir lassen uns davon nicht entmutigen.
Die jüdische Gemeinschaft will in Deutschland, wo sie über Jahrhunderte zu Hause war, auch weiterhin eine Heimat haben. Deshalb werden wir für eine tolerante Gesellschaft kämpfen.
Sehr verehrte Überlebende, meine Damen und Herren,
so gern ich die Botschaft vom Land ohne Antisemitismus verkündet hätte, so sehr möchte ich auch betonen: Es ist nicht die Mehrheit, die antisemitisch denkt.
Nein, die Mehrheit steht an unserer Seite. Und mit ihnen gemeinsam kämpfen wir für die demokratischen Werte und für die Menschenwürde – auf das sie nie wieder so mit Füßen getreten werde, wie es einst in Deutschland geschah!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!