Jahresempfang 2021 Evangelische Akademie Tutzing



Vortrag von Dr. Josef Schuster beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing zu „Bedroht, beschützt, beheimatet – Jüdisches Leben in Deutschland“

Ein Neujahrsempfang, dem man zu Hause vor dem Bildschirm erlebt, vielleicht wenigstens mit einem Gläschen Sekt oder einem guten Wein dabei, aber eben im heimischen Wohnzimmer oder vielleicht sogar in der Küche – so etwas hätten wir uns alle noch vor einem Jahr nicht vorstellen können. 

Und ich muss zugeben: So richtig habe ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, mich mit Menschen via Bildschirm zu unterhalten. An Konferenzen teilzunehmen, bei denen die Gesprächspartner ihr Bild oder ihren Ton einfach wegschalten können. 

Ich will mich auch gar nicht daran gewöhnen! Denn echte Begegnungen von Mensch zu Mensch – das brauchen wir zum Leben wie Vitamine. Und gerade seitdem die Corona-Pandemie uns Begegnungen so sehr erschwert oder ganz verhindert, wissen wir die Veranstaltungen, die wir in Stätten wie der Evangelischen Akademie Tutzing erlebt haben, noch mehr zu schätzen. 

Egal, wo Sie sich jetzt gerade befinden, verbindet uns alle garantiert ein Wunsch: Dass wir uns noch in diesem Jahr wieder zu Veranstaltungen und natürlich auch im größeren Familien- und Freundeskreis treffen können.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

wir begehen in diesem Jahr das Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Ich danke der Evangelischen Akademie Tutzing, dass sie mich aus diesem Anlass eingeladen hat, den Vortrag beim Jahresempfang zu halten. Dieser Einladung bin ich sehr gerne nachgekommen.

Und falls Sie jetzt fürchten, dass ich Ihnen in allen Facetten 1.700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte referieren werde – diese Sorge kann ich Ihnen nehmen. Ich möchte schlaglichtartig einen Blick auf diese reiche Geschichte werfen und dann ein paar Gedanken zur Gegenwart mit Ihnen teilen, die mir wichtig sind.

Sie sind mir wichtig, weil mir die antidemokratischen Fliehkräfte Sorge bereiten, die wir in Deutschland, in Europa, aber auch in den USA beobachten können.

Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir diesen Fliehkräften etwas entgegensetzen wollen, brauchen wir mehr Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger. Doch dazu komme ich später noch.

Das Festjahr zur 1.700-jährigen jüdischen Geschichte in Deutschland ist kein Jubeljahr. Daher sprechen wir auch nicht von einem Jubiläum. Denn jeder, der sich mit dieser Geschichte beschäftigt hat, weiß: Sie ist von Höhen und Tiefen geprägt, nicht nur von Tiefen – von tiefsten Abgründen!

Dass der in Köln gegründete Verein „321 – 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ dennoch ein Festjahr ausgerufen hat, halte ich für richtig. Es geht uns – ich selbst gehöre zu den Gründungsmitgliedern des Vereins -, es geht uns darum, in Deutschland ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie lange bereits Juden in deutschen Landen leben, wie sehr sie die Kultur unseres Landes geprägt haben und wie sich das jüdische Leben heute gestaltet.

Denn leider ist das Wissen darüber in der Bevölkerung sehr gering. Mit Judentum verbinden die meisten Deutschen den Holocaust. Ohne allerdings viel über den Holocaust zu wissen. 

Dabei gibt es so viele Zeugnisse jüdischen Lebens. Ich will zunächst einen Blick auf Köln werfen, denn Köln ist die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen.

Im Jahr 321 n. d. Z. unterzeichnete der römische Kaiser Konstantin ein Edikt, in dem erstmals die Berufung von Juden in den Kölner Stadtrat gestattet wurde. Dies ist die erste schriftliche Überlieferung jüdischen Lebens in Deutschland. 

Und in wenigen Jahren wird die Miqua, die archäologische Zone im Zentrum Kölns zugänglich sein, wo wertvolle Überreste eines jüdischen Viertels aus dem 12. und 13. Jahrhundert zu sehen sein werden. 

Es gibt weitere beeindruckende Orte und Relikte aus der jüngeren Zeit, die von der wechselvollen Geschichte der Juden in Köln zeugen. So verwendet zum Beispiel seit rund zehn Jahren die Synagogen-Gemeinde Köln in der Liturgie eine alte Tora-Rolle. Diese  Tora hatte der katholische Priester Gustav Meinertz in der Pogromnacht 1938 aus der Synagoge in der Glockengasse gerettet. Sie war lange in einer Vitrine in der Synagogen-Gemeinde zu sehen, bis sie mit Mitteln des Erzbistums Köln restauriert wurde und jetzt wieder verwendet werden kann.

Auch das NS-Dokumentationszentrum in der früheren Gestapo-Zentrale von Köln ist ein Teil der jüdischen Geschichte der Stadt.

Ich zähle Ihnen diese Beispiele auf, weil das Festjahr sein Zentrum in Köln haben wird. Doch so wie in Köln gibt es auch in Bayern zahllose Möglichkeiten, der jüdischen Geschichte in all ihren Facetten zu begegnen.

Wir haben in Franken so viele liebevoll restaurierte Synagogen und auch Mikwen, die für das einstige Landjudentum stehen. Im Fränkischen Freiluftmuseum Bad Windsheim wird jetzt die Allersheimer Synagoge wiederaufgebaut und für Besucher zugänglich gemacht.    

 

Die Jüdischen Museen in Fürth, Augsburg und München – all dies sind Orte, die die Erinnerung an ein Judentum wachhalten, das es seit Jahrhunderten in Bayern gibt. Ebenso erinnern uns berühmte Namen daran, welche Bedeutung Juden hatten. Als Beispiele sei Levi Strauss, der Erfinder der Jeans, ebenso genannt wie Kurt Eisner, der erste bayerische Ministerpräsident, oder die Schauspielerin Therese Giese.

 

Die deutsch-jüdische Geschichte ist jedoch auch, wenn nicht sogar vorrangig, eine christlich-jüdische Geschichte. Denn über Jahrhunderte waren Juden von der Gunst christlicher Herrscher abhängig. Lange Zeit waren diese Herrscher in Personalunion kirchliche Würdenträger. Senkten sie ihren Daumen und stachelten den Hass auf Juden an, kam es zu schrecklichen Pogromen und Vertreibungen. Oft für Jahrhunderte, wie man es am Beispiel von Regensburg sehr gut sehen kann. 

Regensburg war die erste jüdische Gemeinde in Bayern und im Mittelalter eine der bedeutendsten in Europa. Hier stand eine der größten Synagogen Europas, hier lehrten berühmte Rabbiner an der Talmud-Schule. Doch im 15. Jahrhundert begann die religiöse Verfolgung. Zunächst waren viele jüdische Bürger wegen überhoher Steuerlasten verarmt.  Damit wurden sie für Adelige und andere wirtschaftlich uninteressant. Christliche Prediger brachten die Legende von Ritualmorden in Umlauf, vor allem der Regensburger Domprediger Balthasar Hubmaier bediente sich dieses Motivs. All dies führte zu immer stärkerer Verfolgung.

1519 wurde schließlich das jüdische Ghetto zerstört, die Synagoge abgerissen und die Juden wurden der Stadt verwiesen. Für 150 Jahre lang gab es keine Juden in Regensburg. Das jüdische Leben, das sich dann in ganz kleinem Umfang und erst im 19. Jahrhundert wieder nennenswert entwickelte, wurde schließlich in der Schoa fast gänzlich vernichtet. Heute leben dank der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion wieder rund 1.000 Juden in Regensburg. Ohne diese Zuwanderer gäbe es dort wahrscheinlich keine jüdische Gemeinde mehr.

Die einstige Judenfeindlichkeit der Kirchen ist bis heute in vielen Zeugnissen überliefert. Ich erinnere an die „Judenschriften“ Martin Luthers oder an steinerne Abbilder: In zahlreichen Kathedralen findet sich die Statue „Ecclesia“, die die siegreiche christliche Kirche darstellt, sowie die Figur der „Synagoga“, die auf abfällige Weise das Judentum symbolisiert. Noch abstoßender sind die sogenannten „Judensauen“ in vielen alten Kirchen. Hier wurden Juden auf übelste Weise verhöhnt. 

Auf dem Nährboden des religiösen Antijudaismus entstand im 19. Jahrhundert der rassistische Antisemitismus – und beides, wenn ich es mal zynisch ausdrücken darf, brachten die Nationalsozialisten zur Perfektion. Die Bewegung der „Deutschen Christen“ und Institutionen wie das sogenannte „Entjudungsinstitut“ zeigen deutlich, wie die Nazis mit ihrer Rassenkunde auch bei Christen Anklang fanden.

Wer sich mit der Entwicklung des Judentums auf deutschem Boden befasst, darf diese dunklen Kapitel nicht ausblenden. 

Es ist mir wichtig zu betonen: Beide Kirchen haben dies in ihrem heutigen Handeln verinnerlicht. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus begann bereits nach dem Krieg. Stichwortartig sei hier das Stuttgarter Schuldbekenntnis genannt. Und zuletzt hat sich die EKD anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 intensiv und noch einmal neu mit dem Antijudaismus Luthers beschäftigt. Auch das Reformationsjubiläum wurde keine Jubelarie. 

Es ist diese Haltung der Kirche, die dazu beiträgt, dass heute das christlich-jüdische Verhältnis so gut ist, wie es wohl noch nie in der Geschichte war. Das verdanken wir  mutigen Frauen und Männern, die sich über den tiefsten menschlichen Abgrund hinweg die Hände gereicht haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe eben Orte in Bayern erwähnt, an denen sich die jahrhundertealte jüdische Geschichte nachvollziehen lässt. Die Gedenkstätten, die an die Schoa erinnern, gehören auch zur deutsch-jüdischen Vergangenheit und sie liegen mir besonders am Herzen. Ich möchte hier stellvertretend Dachau und Flossenbürg nennen. 

Die Geschichte meiner Familie könnte ich nicht erzählen, ohne Dachau zu erwähnen. Denn mein Großvater und mein Vater waren dort inhaftiert, bevor sie nach Buchenwald kamen und schließlich zum Glück nach Palästina ausreisen durften. Unser Familienbesitz fiel an die Nazis. Das war die Bedingung für die Ausreise.

Und ebenso ist mir in Nürnberg das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände sehr wichtig. Denn hier erfahren die Besucher, wie es zur Nazi-Diktatur kommen konnte und mit welchen Methoden die Gesellschaft in ein willkürliches Instrument des Terrors verwandelt wurde.

Wer dann auch noch die Nürnberger Burg besichtigt, wird begreifen, wie sich die Nazis mit perfekter Propaganda die deutsche Kulturnation zu Eigen machten. Alles in einer einzigen Stadt zu sehen.  

Die historische Aufarbeitung, die an der Spitze der beiden christlichen Kirchen geleistet wurde, vermisse ich allerdings in der Breite unserer Gesellschaft. Sowohl habe ich manchmal Zweifel, wieviel bei der Basis, in den einzelnen Kirchengemeinden ankommt, als auch sehe ich große Defizite insgesamt in der Gesellschaft.

Der Politologe Samuel Salzborn, seit vergangenem Jahr Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, hat dies einmal drastisch so ausgedrückt: „Es ist nicht weniger als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik: der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit.“

In der Tat zeigen Umfragen immer wieder große Lücken in Kenntnissen über die Schoa. Im vergangenen Jahr zum Beispiel konnten in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF nur 20 Prozent der Befragten angeben, dass für den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gewählt wurde. Fast 70 Prozent sagten, den Anlass für das Datum des Gedenktags nicht zu kennen. 

Gerade bei jungen Menschen können wir nur noch wenig Wissen voraussetzen. 2017 brachte eine Umfrage der Körber-Stiftung zutage, dass weniger als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler sagen konnte, dass Auschwitz-Birkenau ein NS-Vernichtungslager war.

Ich habe vorhin erwähnt, dass mir die Gedenkstätten sehr am Herzen liegen. Genau in diesem mangelnden Wissen liegt einer der Gründe. Denn neben dem Schulunterricht bietet der Besuch einer Gedenkstätte die beste Möglichkeit, um Kenntnisse zu vermitteln und Empathie mit den Opfern zu schaffen. Ich wiederhole daher meine Forderung, in ganz Deutschland KZ-Gedenkstättenbesuche verpflichtend für Schüler weiterführender Schulen zu machen. Ebenso sind sie für Auszubildende der Polizei und der Justiz sehr sinnvoll!

Die Bedeutung der Gedenkstätten wächst meines Erachtens in dem Maße, in dem die Zeitzeugen verschwinden. Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen zu entwickeln. Eine Erinnerungskultur, die neue Formen findet, um auch die jüngere Generation anzusprechen und mitzunehmen.

Denn mit welcher Ausgangslage haben wir es heute zu tun?

Jugendliche und junge Erwachsene, die in Deutschland aufgewachsen sind, kennen nichts anderes als ein Leben in einem demokratischen Rechtsstaat und in Sicherheit. Krisen und Kriege finden nur weit weg statt. Selbst die Großeltern waren während der NS-Zeit noch Kinder. 

Damit liegt der Zweite Weltkrieg, gefühlt, für die heutige Jugend genauso weit weg wie die Weimarer Republik oder der Erste Weltkrieg. Wer heute 20 ist, kennt selbst den Mauerfall nur aus Erzählungen. Also sind auch die deutsche Teilung und die Konfrontation der Blöcke als unmittelbare Folgen des Krieges für heute 20-Jährige historische Ereignisse.

Familiengeschichten aus der NS-Zeit werden zwar weiterhin über die Generationen tradiert. Doch die sie heute erzählen, sind in der Regel nicht mehr die, die sie selbst erlebt haben. Denn auch auf der Täterseite gibt es natürlich nur noch wenige Zeitzeugen. Typisch ist in diesen Berichten ohnehin, dass die Schoa nur am Rande vorkommt. Erinnerungen enden bei der Pogromnacht 1938 oder der – in Anführungszeichen – „Ausreise“ der jüdischen Nachbarn. Juden treten danach in Gesprächen erst wieder als Zurückgekehrte auf. 

Um noch einmal Samuel Salzborn zu zitieren: „Gerade die antisemitische Gegenwart erzwingt es zu ertragen, dass der aktuelle Antisemitismus auf der Tradierung einer Erinnerungsverweigerung fußt, bei der bis heute im nationalen und vor allem familiären Gedächtnis die Weigerung in die Einsicht dominiert, dass – je nach Alter – der eigene Vater oder die eigene Mutter, der eigene Opa oder die eigene Oma, der eigene Uropa oder die eigene Uroma schuldig waren.“

Es ist nicht erstaunlich, dass jüngere Menschen nur noch mit durchschnittlichem Interesse an das Thema herangehen und allergisch reagieren, wenn sie merken, dass eine Reaktion der Betroffenheit erwartet wird. Warum sollten sie Empathie aufbringen, wenn schon ihre Eltern und Großeltern offenbar keine innere Beziehung zum Holocaust haben?

Hinzu kommt, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel die nationalen Narrative der Herkunftsländer ihrer Eltern ebenfalls kennen. Vielleicht liegen sie ihnen sogar näher, weil ihre Eltern und Großeltern emotional damit stärker verbunden sind als mit der deutschen Geschichte. Sind sie mit der Schoa konfrontiert, suchen sie unwillkürlich Vergleichspunkte zu ihrer Geschichte, um das Geschehen einzuordnen. 

Daher müssen wir auch reflektieren, wie wir eine Gedenkkultur für unsere Einwanderungsgesellschaft entwickeln. Ich gehe davon aus, dass es für Schüler mit Migrationshintergrund nicht schwieriger ist, Empathie für die Opfer der NS-Verbrechen zu entwickeln als für Kinder, deren Familien seit Generationen in Deutschland leben. Vielleicht sogar manchmal im Gegenteil. 

Denn die Erfahrung von Kriegen oder Krisen sowie von Ausgrenzung oder Verfolgung sind in Migrantenfamilien leider viel zu oft vorhanden. Es ist daher wichtig, auf die unterschiedliche kulturelle Prägung der Menschen einzugehen und sie dort abzuholen – etwa bei ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung oder Verfolgung oder ihren eigenen nationalen Katastrophen und Narrativen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

es wäre zu wenig, das mangelnde Wissen von Schülern nur zu beklagen, aber letztlich einfach hinzunehmen. Der Zentralrat der Juden arbeitet seit einigen Jahren auf mehreren Ebenen daran, hier Abhilfe zu schaffen. Zum einen kooperieren wir mit Verlagen und der Kultusministerkonferenz, um Schulbücher, didaktische Materialien und Lehrpläne zu verbessern. Wichtig ist uns dabei vor allem die Bekämpfung des Antisemitismus.

Dabei nutzt Wissen über das Judentum allein leider nur begrenzt. Es muss über die verschiedenen Formen des Antisemitismus aufgeklärt werden, die Jugendliche heutzutage vor allem im Internet antreffen. Auch die Lehrerinnen und Lehrer müssen gezielt fortgebildet werden.

Vor allem den bayerischen Antisemitismus-Beauftragten Ludwig Spaenle haben wir dabei an unserer Seite. Es ging unter anderem auf seine Initiative zurück, eine Arbeitsgruppe mit der KMK und uns, dem Zentralrat, einzurichten zum Thema Antisemitismus in der Schule. Durch Corona hat sich deren Arbeit etwas verzögert, aber im Laufe dieses Jahres wird die Arbeitsgruppe Ergebnisse präsentieren. 

Für Herrn Spaenles außergewöhnlich hohes Engagement ist die jüdische Gemeinschaft sehr dankbar. Denn der Beauftragte hat tatsächlich die Gesellschaft auf allen Ebenen im Blick. So hat er es – mit Rückhalt der Landesregierung – angestoßen, dass die Antisemitismus-Definition der Internationalen Holocaust-Gedenk-Allianz in Bayern nicht nur in der Politik, sondern auch in Vereinen und Verbänden umgesetzt werden muss. Das bedeutet, dass auch Israel-bezogener Antisemitismus auf keine Toleranz trifft.

Leider ist diese Form des Antisemitismus sehr aktuell und weit verbreitet. Seit einigen Monaten begleitet uns in den Feuilletons und vor allem unter Kulturschaffenden eine intensive Debatte über die Israel-Boykott-Bewegung BDS. Ich möchte dieser in Deutschland recht kleinen Bewegung nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, als ihr gebührt. Doch kurz will ich auf die Debatte eingehen:

Der Bundestag hat im Mai 2020 nach ausführlicher Diskussion einen Beschluss gefasst, getragen von Union, SPD, FDP und Grünen. Darin verurteilt der Bundestag die Boykottbewegung und nennt ihre Methoden und Argumentationsmuster antisemitisch. Zudem fordert der Bundestag, der BDS-Bewegung keine Räume oder finanzielle Unterstützung zu gewährleisten. Rechtlich bindend ist dieser Beschluss für Länder und Kommunen nicht. 

Dennoch nahmen Ende vergangenen Jahres Vertreter von großen deutschen Kultureinrichtungen den Beschluss zum Anlass, um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu beklagen. Ich möchte hier klipp und klar sagen: Antisemitismus ist keine Meinung!

Und wenn sich Künstler, Wissenschaftler oder andere Intellektuelle der BDS-Bewegung anschließen oder dafür plädieren, dass Israelis irgendwo ausgeladen werden, nur weil sie jüdische Israelis sind – dann müssen sie es auch ertragen, dass ihre Haltung als das benannt wird, was sie ist: antisemitisch. 

Israel-bezogenen Antisemitismus finden wir in allen Gesellschaftsschichten. Solche Maßnahmen wie die breite Implementierung der Antisemitismus-Definition mögen daher auf den ersten Blick abstrakt wirken. Doch sie zählen zu den vielen, vielen Bausteinen, die wir benötigen, um Ressentiments gegenüber Juden abzubauen.

Zwei weitere Bausteine will ich nennen: 

Der Zentralrat der Juden hat mit dem gleichen Ziel ein Begegnungsprojekt aufgelegt. Es hat den Titel „Meet a Jew“. Dafür bilden wir jüdische Jugendliche und Erwachsene aus, die in Schulklassen, in Vereinen oder an Universitäten von ihrem jüdischen Alltag berichten. Für viele Menschen ist dies das erste Mal, dass sie bewusst einem Juden begegnen.

Ein weiterer Baustein ist RIAS, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Hier können antisemitische Vorfälle jeder Art ganz leicht, sogar online, gemeldet werden. RIAS Bayern ist gerade in die Trägerschaft eines eigens gegründeten Vereins gewechselt, der unter der Schirmherrschaft der Staatsregierung steht. RIAS trägt dazu bei, dass wir ein realistisches Bild über die Bedrohungen erhalten, denen Juden weiterhin ausgesetzt sind.

Der Philosoph Adorno hat dieses Phänomen in einem berühmten Satz zusammengefasst: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“

Von außen wurden und werden wir Juden häufig als homogene Gruppe betrachtet – die Juden. Damit einhergehend werden uns bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Bis heute hält sich das Phänomen, das Adorno so treffend als „Gerücht“ bezeichnet: selbst wer persönlich noch nie einen Juden getroffen hat, wer sich für das Judentum eigentlich gar nicht interessiert, kennt antisemitische Vorurteile. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben – und sie halten sich umso besser, je weniger man über Juden weiß. 

Seit dem vergangenen Jahr schlägt sich das vor allem in antisemitischen Verschwörungsmythen nieder, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verbreitet werden. Auf den Demos der Querdenker-Bewegung erleben wir dann Vergleiche mit Anne Frank oder sehen gelbe Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“.

Diese billige Instrumentalisierung der Opfer der Schoa widert mich an!

Und ich hoffe, dass die heute hochbetagten Menschen, die damals den gelben Stern tragen mussten und die Schoa im Versteck oder anders überlebt haben, von dieser Dreistigkeit, Ignoranz und Dummheit nichts mitbekommen. 

Wer sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte auskennt, wird schnell eine Beziehung zwischen den antisemitischen Vorurteilen im Mittelalter zu Zeiten der Pest und der heutigen Corona-Pandemie herstellen können. Der Mechanismus ist noch immer der Gleiche: Für eine Bedrohung, die vielen Menschen unheimlich ist, wird ein Sündenbock gesucht. Den findet man in einer Minderheit. 

Was mich jedoch ein Stück weit erschüttert sind zwei Dinge: Zum einen halten sich die judenfeindlichen Ressentiments tatsächlich über Jahrhunderte. Zum anderen wissen wir heute im Gegensatz zum Mittelalter während der Pest, wie eine solche Krankheit entsteht und wie sie sich verbreitet. Und selbst wenn der Impfstart jetzt holprig verläuft, möchte ich als Mediziner Ihnen versichern: Die Geschwindigkeit, in der Impfstoffe gegen das Covid-19-Virus entwickelt wurden, ist sensationell! Doch so wie manche Querdenker und Impfgegner reden, könnte man meinen, wir befänden uns noch immer im 14. Jahrhundert.  

Das Gefährliche an dieser Bewegung, die im vergangenen Jahr entstanden ist, sehe ich in ihrer Breite. Rechtsradikale finden hier Anknüpfungspunkte zur Öko-Bewegung, sogar die Regenbogenfahne wurde auf einigen Demos gesichtet. Und die Reichsflaggen vor dem Eingang zum Bundestag sind uns alle noch in Erinnerung.

Es gibt eine Partei, die sich als parlamentarischen Arm der Corona-Leugner sieht: Das ist die AfD. Sie hat damit nach der Flüchtlingskrise wieder ein populäres Thema gefunden, das sie für ihre Zwecke nutzt. Die AfD steht für mich für strukturelle Verantwortungslosigkeit. 

Sie nutzt jede Stimmung, die ihr Stimmen bringt – die Folgen ihrer Politik für unser Land und für unsere Gesellschaft sind ihr egal. Daher sollten wir die AfD mit Blick auf die Bundestagswahl auf keinen Fall unterschätzen. Sie ist nach Einschätzung vieler Experten gut vernetzt in die rechtsradikale Szene, und die Rechtsradikalen wiederum vergrößern durch die AfD ihren Einfluss.

Da wir in diesem Jahr mit einer Reihe von Insolvenzen und steigender Arbeitslosigkeit rechnen müssen aufgrund der Pandemie ist leider auch der Nährboden für radikale Ideen vorhanden.

Nach Pegida haben sich in der Corona-Krise wieder Menschen zusammengefunden, die sich durch ein bestimmtes Thema radikalisieren. Dies sind die eingangs von mir erwähnten Fliehkräfte, die die Gesellschaft auseinandertreiben und demokratische Grundwerte zerreiben.

Diese Menschen empfinden gesellschaftliche Minderheiten als störend, weil sie nicht in ihr Weltbild passen. Dazu zählen Menschen mit einer Hautfarbe, die nicht weiß ist, homo- und transsexuelle Menschen, Muslime und Juden. Diese Gruppen sind schon seit geraumer Zeit einer unerträglichen Hetze im Internet ausgesetzt. 

Und aus dem Hass in Worten werden Taten, wie man es beim Attentäter von Halle sehr gut sehen kann. Bis zum Schluss gab der Mann, der einen Anschlag auf die Synagoge geplant hatte und letztlich zwei Passanten tötete, sein hasserfülltes Weltbild nicht auf. Juden standen ganz oben auf seiner Feindesliste. Ausländer und Muslime zählten auch dazu. Deshalb fuhr er zu einem Döner-Imbiss, um dort weitere Menschen umzubringen.

Das Urteil, das im Dezember fiel, war angemessen. Ich hoffe, dass wir künftig auch bei anderen antisemitischen Taten so klug agierende Richter erleben wie es in Magdeburg der Fall war.    

Der Anschlag von Halle an Jom Kippur 2019, der Angriff auf einen Studenten kürzlich vor der Hamburger Synagoge und der Antisemitismus der Corona-Leugner  - all das führt dazu, dass sich für mich als Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland immer drängender die Frage stellt: 

Wie werden wir Juden gesehen? Als Fremde? Oder als eine religiöse Minderheit, die seit 1.700 Jahren in Deutschland lebt und selbstverständlich dazugehört?

Für mich gilt: Juden sind in Deutschland mitunter bedroht. Sie werden von der Polizei beschützt. Vor allem aber sind sie in Deutschland beheimatet.  

Mir ist klar, dass wir mit knapp 100.000 Gemeindemitgliedern eine sehr kleine Community sind. Viele nicht-jüdische Bürger haben kaum Gelegenheit, Juden kennenzulernen. Deshalb ist es so wichtig, dass durch Anlässe wie das Festjahr „1.700 Jahre“ sowie über Schulen, Bildungseinrichtungen wie die Evangelische Akademien und Vereine wie die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit mehr über das heutige jüdische Leben bekannt wird. Unsere Gemeinden pflegen auch selbst zahlreiche Kontakte in ihre Nachbarschaft. Sie sind in den sozialen Medien präsent und bieten viele Möglichkeiten der Begegnung.

Wir brauchen das, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken, um den antidemokratischen Fliehkräften wirksam etwas entgegenzusetzen.

Es darf ihnen nicht gelingen, Ressentiments gegen Minderheiten noch weiter zu verbreiten. Politik, Medien und Zivilgesellschaft müssen sich dagegen stellen. Was wir vor allem brauchen, sind Bürger, die sich für unser Land verantwortlich fühlen. Eine stabile Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Demokratische Werte müssen immer wieder neu erlernt und eingeübt werden. 

Ich bin trotz allem optimistisch. Denn wir sind mehr. Die Anti-Demokraten sind in der Minderheit, nicht die Demokraten. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck hat 2017 beim Jahresempfang der Akademie Tutzing gesagt, ich zitiere: 

„Dieses Deutschland ist nicht die Weimarer Republik. Wir haben nicht nur Institutionen, sondern wir haben uns, unser Miteinander. Und wir werden niemals erlauben, dass von den Rändern her dieses kostbare Gut unserer Demokratie eingerückt oder gar zerquetscht wird.“

Meine Damen und Herren, 

Deutschland hat sich seit 1945 ein solides demokratisches Fundament erarbeitet. Wir alle haben es in der Hand, dieses Fundament zu erhalten. Und es an den derzeit brüchigen Stellen auszubessern. 

 

 

 

 

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