"Wir brauchen den Rückhalt der Gesellschaft"



Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, zum Festakt anlässlich des 10. Jahrestags der Einweihung der Neuen Synagoge Gelsenkirchen, 1.2.2017, Gelsenkirchen

Foto: privat

Zu diesem feierlichen Anlass möchte ich mein Grußwort gerne mit einem Zitat beginnen: „Wo ist nur das Gute geblieben? Wir sind die Menschen, die lieben! Haben wir den Krieg schon verloren? Nein, das Gute ist jetzt geboren!“

Ich sehe es Ihren Gesichtern an, wie Sie jetzt überlegen: Stammt das Zitat aus einem Gebet? Oder von einem berühmten Rabbiner?

Ich verrate Ihnen die Quelle gerne: Diese Zeilen haben Jugendliche aus Gelsenkirchen gedichtet, genauer gesagt: Jugendliche aus dem Jugendzentrum „Chesed“, das zu dieser Gemeinde hier gehört. Die Verse stammen aus ihrem Lied, mit dem sie vor fast genau einem Jahr in Mannheim bei der Jewrovision aufgetreten sind. Die Jewrovision ist ein großer Tanz- und Gesangswettbewerb, so ähnlich wie ihr Vorbild, die Eurovision, nur eben für jüdische Jugendliche.

Warum ich Ihnen das so ausführlich berichte? Nicht nur, weil in gut zwei Wochen der Zentralrat der Juden wieder die Jewrovision ausrichtet. Sondern vor allem, weil an diesem Beispiel deutlich wird: In Gelsenkirchen haben wir eine kleine, aber quicklebendige jüdische Gemeinde!

Denn gerade für kleinere Gemeinden ist es nicht leicht, eine aktive Jugendarbeit zu leisten und den Kraftakt zu stemmen, den die Teilnahme an der Jewrovision – neben allem Spaß – auch bedeutet. Das gelingt nur, wenn engagierte Jugendliche da sind, die in ihrer Gemeinde ausreichenden Rückhalt finden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich bin heute sehr gerne zu diesem Festakt gekommen. Es ist immer ein schöner Anlass, das Jubiläum einer jungen Synagoge zu feiern. Mit dem Bau ist das nach der Schoa neu erwachte jüdische Leben in Deutschland quasi in Stein gemeißelt worden. Doch was wäre ein solches Gebäude, wenn es nicht mit Leben erfüllt wäre? Kalter Stein.

Hier in Gelsenkirchen ist die Synagoge jedoch mit einem reichen religiösen und kulturellen Leben verbunden. Hier wird die jüdische Tradition in bestem Sinne gelebt. Das liegt – und damit will ich das Engagement vieler anderer Mitglieder keinesfalls ausblenden – aber ganz vorrangig liegt diese Lebendigkeit der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen an ihrer Vorsitzenden Judith Neuwald-Tasbach.

Liebe Judith, du führst seit 2007 die Geschicke dieser Gemeinde. In dem sehr gelungenen Dokumentarfilm über eure Gemeinde heißt es über Dich: „Sie ist wichtigste Repräsentantin, treibende Kraft und gute Seele der Gelsenkirchener Gemeinde“. Treffender hätte ich es nicht ausdrücken können. Mit Fug und Recht bist du im Januar mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik ausgezeichnet worden. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verleiht zwar keine Orden, aber meinen tiefen Dank möchte ich Dir heute im Namen des Zentralrats aussprechen!

Im besten Sinne führst du die Arbeit deines Vaters fort, Kurt Neuwald sel. A., nach dem auch dieser Saal hier benannt ist. Kurt Neuwald gehörte zu jenen wenigen Juden, die die Schoa überlebt und die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, jüdisches Leben in Deutschland wieder aufbauen zu können. In Gelsenkirchen gehörte er zu den Mitbegründern der Gemeinde sowie zu den Gründern des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Ohne solche mutigen und zupackenden Menschen, Menschen, die trotz allem, was ihnen widerfahren war, bereit zu Versöhnung und zu einem Neuanfang waren, ohne diese Menschen gäbe es das jüdische Leben, so wie wir es heute vorfinden, nicht. In diese Fußstapfen trittst du, liebe Judith! Und es zeichnet dich aus, dass du für eine offene Gemeinde eintrittst und dich nicht leicht entmutigen lässt.

Gerade in jüngster Zeit gab es leider häufiger Anlässe, die es schwer machten, optimistisch zu bleiben. 2014 während des Gaza-Konfliktes warfen unbekannte Täter einen Gullydeckel in ein Fenster der Synagoge. Gemeindemitglieder mussten sich auf offener Straße beschimpfen lassen. Bei Demonstrationen wurden juden- und Israel-feindliche Parolen gebrüllt, wie wir es niemals mehr für möglich gehalten hätten.

Die Offenheit eurer Gemeinde, eure Vernetzung kam euch in dieser Lage jedoch zugute. Ihr erhieltet auch viel Solidarität und konkrete Unterstützung. So trug der FC Schalke 04 die Kosten für das zerstörte Synagogenfenster, und der evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid spendete einen vierstelligen Betrag. Das ist gelebte Solidarität, die nicht selbstverständlich ist.

Und immer wieder gibt es kleinere oder größere Vorfälle. Im vergangenen Jahr war die Skulptur vor der Synagoge beschädigt. Auch hier war Phantasie gefragt, um die Kosten der Reparatur zu stemmen. Du, liebe Judith, lässt dir von solchen Ereignissen aber nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Eure Gemeinde zieht dann an einem Strang und steht zusammen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

so ein Zusammenhalt, wie wir ihn in der Gelsenkirchener Gemeinde erleben, findet sich nicht überall. Oft ist er gerade in einer kleineren Gemeinde stärker als in Großgemeinden. Da ich selbst Gemeindevorsitzender in Würzburg bin, auch eine kleinere Gemeinde, weiß ich, wovon ich spreche.

Es gibt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft immer wieder die Debatte, ob es sinnvoller wäre, Gemeinden zusammenzulegen zu größeren Einheiten. Das würde natürlich Kosten sparen. Doch es gibt sehr gute Gründe, nicht nur die Groß-Gemeinden aufrechtzuerhalten. Denn nur eine jüdische Gemeinde in der Nähe ermöglicht ein jüdisches Leben im Alltag. Sie ermöglicht es, ohne Aufwand den G’ttesdienst zu besuchen. Sie kann ihren Mitgliedern ein „gutes und harmonisches Zuhause“ geben, wie Judith Neuwald-Tasbach es formuliert hat.

Der Zentralrat der Juden vertritt derzeit mehr als 100 jüdische Gemeinden in Deutschland. Diese hohe Zahl an Gemeinden steht auch für die Vielfalt des Judentums. Das ist ein kostbares Gut, das wir nicht nur erhalten, sondern stärken wollen! Dafür ist unser innerjüdischer Zusammenhalt wichtig.

Dafür brauchen wir aber auch den Rückhalt der Gesellschaft. Ich weiß, dass die Gemeinde in allen Städten, für die sie zuständig ist, also in Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop, sowie bei den Kulturschaffenden und den Kirchen immer ein offenes Ohr findet. In Zeiten, in denen Rechtspopulisten massiv Stimmung gegen Minderheiten machen, ist dies umso wichtiger.

Wir wünschen uns diesen Rückhalt auch von der Justiz, wo bei manchem Urteil lieber von einem „dummen Jungenstreich“ als von einer antisemitischen Straftat gesprochen wird. Beschönigen hilft jedoch nicht im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Denn wer den Eindruck bekommt, antisemitische Sprüche oder ähnliches würden geduldet, macht damit weiter.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dass wir seit zehn Jahren diese schöne Synagoge mit Gemeindezentrum in Gelsenkirchen haben, ist wirklich Anlass zu Freude und Dankbarkeit!

Ich wünsche der Gemeinde von Herzen, dass diese Räume immer mit Leben gefüllt sind, dass sich die Gemeindemitglieder und auch Gäste hier zu Hause fühlen und dass hier weiterhin Jugendliche heranwachsen, die so hoffnungsvolle Lieder dichten, wie ich es eingangs zitiert habe.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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