Wie war der Massenmord an den Juden möglich?



Dr. Dieter Graumann zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz

Von DIETER GRAUMANN* in der Bild Zeitung vom 20.01.2012

WIE? Drei Buchstaben nur für eine der allergrößten Fragen unserer Geschichte. WIE nur war er möglich, der Massenmord an sechs Millionen Juden, mitten in Europa?

Eine Antwort werden wir niemals finden. Niemand wird je nachvollziehen können, wie die Shoa vor den Augen eines ganzen Volkes nicht nur geschehen, sondern in vielen Fällen sogar auch noch befürwortet werden konnte.

Der Shoa vorausgegangen waren zudem lange Serien von Ausgrenzung, Entrechtung, von Gewalt, von Enteignung und Ghettoisierung. Jeder hatte es gesehen im ganzen Land.

Am heutigen Tage, vor genau 70 Jahren, fand schließlich der bürokratische Höhepunkt der „Entmenschlichung" von Juden statt.

Die Wannsee-Konferenz markiert den Zeitpunkt, den Scheitelpunkt, von dem an der Massenmord an den Juden eine minutiöse Bedienungsanleitung erhielt. Akribisch genau, eiskalt detailliert wurden die Zuständigkeiten der Behörden für die effizienteste Tötungsmaschinerie erarbeitet.

Es war der Tag, an dem nun doch aus Behördenangestellten vielfach ganz offiziell Mittäter wurden. Spätestens am Wannsee war der Holocaust in der Spitzenbürokratie des Reichs angekommen.

HIER wurde der Masterplan vom Massenmord beschlossen. HIER wurde der Meilenstein auf dem Weg zum Massentöten gesetzt. HIER geschah die fatale Verbrüderung der Bürokratie mit dem Bösen.

Sieben Jahrzehnte später gedenken wir dieses Tages, der das systematische Auslöschen von 6 Millionen jüdischen Menschen durch den von Deutschland initiierten Hass zur Folge hatte, von 6 Millionen Seelen, die um ihr Leben, um ihre Zukunft und ihren Beitrag für die Welt beraubt wurden.

Wir selbst sind um diese Menschen betrogen und um die Kinder und Kindeskinder, die sie niemals haben konnten. Diese Lücke wird sich gewiss nie wieder schließen können. Doch wir müssen um ihretwillen und nicht zuletzt um unser aller willen um die Vergangenheit wissen, gerade um gemeinsam daraus lernen zu können.

Denn noch immer gibt es Menschen, die der wahnsinnigen Staatsdoktrin des Dritten Reiches huldigen und sie zu verbreiten versuchen. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vergiften auch heute noch zu viele Menschen, die in den braunen Sumpf von Menschenhass hineingezogen werden und unterzugehen drohen.

Immer noch gibt es Faschisten, die nicht nur grölend durch die Straßen ziehen, sondern mordend das Land in Schrecken versetzen, während ihr politisches Flaggschiff, die NPD, bislang noch immer staatlich toleriert und sogar subventioniert in deutschen Landtagen sitzt und die parlamentarische Plattform sowie Steuermittel missbrauchen darf, um ihr braunes Gift zu verbreiten.

Gerade dieses Datum zeigt uns aber, wohin der Rausch des Rassismus führen kann – mit allen Konsequenzen, die wir heute, in unserer Zeit, daraus zu ziehen haben.

*Dieter Graumann ist ­Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

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