Anrede,
jede Verleihung des Leo-Baeck-Preises ist für den Zentralrat der Juden in Deutschland ein Ereignis, das für sich steht. Jede Preisverleihung hat ihre eigenen Facetten, ist niemals Routine oder „business as usual“.
Ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, dass allerdings selbst vor diesem Hintergrund die diesjährige Preisverleihung nochmal etwas ganz Besonderes ist. Es ist das erste Mal, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland seine höchste Auszeichnung an eine Person mit muslimischem Hintergrund verleiht.
Lieber Cem Özdemir, Sie haben sich vor einiger Zeit zu einem „säkularen Islam“ bekannt. Soweit ich das überblicken konnte, war dieses Bekenntnis Ihnen eine Herzensangelegenheit und gleichzeitig haben Sie dadurch und mit allem, was dazu gehörte, klar Position bezogen und das erfordert in unserer heutigen Zeit Mut und eine Leidensfähigkeit, die Sie als Politiker aber ja ohnehin besitzen.
Ihr Bekenntnis steht in einem größeren Kontext: dem Kampf gegen die Politisierung des Religiösen, dem Kampf gegen Ausgrenzung und ganz speziell Ihrem Kampf gegen Antisemitismus. Auf der Veranstaltung „Berlin trägt Kippa“ haben Sie im Jahr 2018 in dieser Denklinie gesagt: „Jeder Mensch muslimischer Herkunft, egal ob er praktiziert oder nicht, muss heute an der Seite von Juden stehen, wenn Juden angegriffen werden.“ Zitat Ende.
Lieber Herr Özdemir, verstehen Sie bitte diese Auszeichnung, die Sie heute vom Zentralrat der Juden erhalten, als Zeichen der Gemeinsamkeit gegen Radikalismus und Fanatismus und für Religionsfreiheit und Toleranz.
Religionsfreiheit, meine Damen und Herren, kennt keine Grenzen. Die Wahrung der Religionsfreiheit ist damit nicht ohne Grund eines der vorrangigsten Ziele des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Religionsfreiheit ist eine der größten Errungenschaften des Humanismus und richtig verstanden die klarste und beste Absage gegen wie auch immer gearteten Fanatismus und Menschenfeindlichkeit und damit auch gegen Judenhass.
Der 2018 verstorbene israelische Schriftsteller Amos Oz hat einmal in einem berühmten Essay über Fanatismus den Fanatiker als jemanden beschrieben, der nicht unbedingt immer durch seine Lautstärke auffalle, sondern vor allem durch seinen Mangel an Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden, durch eine „kompromisslose Selbstgerechtigkeit“, einen Mangel an Sentimentalität und eine ideelle Stumpfheit.
Meine Damen und Herren, Amos Oz liefert in seinem Text aber auch ein Mittel gegen Fanatismus. Er schreibt – ich zitiere:
„Vielleicht sollten wir uns zuweilen fragen: ‚Was wäre, wenn ich an ihrer oder seiner Stelle wäre?‘ […] Diese Neugier führt uns nicht zwingend zu generalisierenden moralischen Schlussfolgerungen und auch nicht zur Aufgabe unserer Persönlichkeit zu Gunsten der Persönlichkeit des anderen. Aber sie wird uns gelegentlich zu einer großartigen Entdeckung führen, nämlich zu der Entdeckung, dass es viele Flüsse gibt und sich von jedem Ufer aus andere Blicke auf bezaubernde, überraschende Landschaften bieten und dass diese Landschaften bezaubernd sein können, selbst wenn sie uns nicht verlocken, und überraschend, selbst, wenn sie uns nicht reizen.
In dieser Neugierde steckt vielleicht eine Chance für Offenheit und Toleranz.“ Zitat Ende.
Lieber Cem Özdemir, Sie sind jemand, der niemals aufhört zu fragen, der sich immer dafür interessiert, wie es der andere sieht und – und das ist in der Demokratie eine der entscheidendsten Eigenschaften – der immer in Betracht zieht, dass der andere vielleicht doch recht haben könnte.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nur für eine kurze Zeit einmal in jener Utopie schwelgen, in der sich jeder an diesem von Amos Oz beschriebenen liberalen Ideal orientiert.
Wir bräuchten nicht mehr über Antisemitismus sprechen, nicht mehr über Rassismus oder über Hetze gegen Minderheiten. Ein Krieg, wie der schreckliche Überfall Putins Russland auf die Ukraine, wäre nicht denkbar, wenn wir nur in diesem Sinne leben würden. Ja, es bleibt eine Utopie und auch, wenn ich eigentlich für Utopien nicht viel übrig habe: an diese lohnt es sich zu glauben und für sie jeden Tag zu kämpfen.
Sie haben sich, lieber Herr Bundesminister, Ihre eigene liberale Haltung stets bewahrt, die auch die Religionsfreiheit umfasst. Diese Haltung vertreten Sie auch in Ihrer neuen Funktion, die Sie seit dieser Legislaturperiode innehaben.
Sie erlauben mir vielleicht den kleinen fachlichen Schwenk, aber er passt einfach gut in das Thema heute Abend. Religionsfreiheit ist nämlich auch eine Frage der Ausübung seiner Religion und da spielt für uns Juden koscheres Essen und die Schechita – die jüdische Schlachtmethode – eine wichtige Rolle. Das betrifft im Übrigen auch muslimische Essensvorschriften.
Die Toleranz auf diesem Gebiet ist aufgrund einer leider sehr ausgeprägten Unwissenheit nicht überall auf der Welt – auch nicht in Europa – immer gegeben. Es ist wohltuend in Ihnen einen Mitstreiter in allen Fragen der Religionsfreiheit zu wissen und ich danke Ihnen dafür.
Meine Damen und Herren, aus dieser verbindenden und an Freiheit orientierten Haltung heraus, hat sich Cem Özdemir seit Jahren aktiv gegen Antisemitismus eingesetzt und für eine offene Gesellschaft und ein modernes, liberales Deutschland engagiert. Damit, dass er das Gespräch, das Einende, immer in den Vordergrund stellt, steht er auch in der Tradition des Namensgebers dieses Preises, Rabbiner Leo Baeck, seligen Angedenkens.
Nach all dem was Baeck erlebt hat – Sie haben es in dem kurzen Film gerade gesehen – nahm er nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder öffentliche Einladungen nach Deutschland, in die Bundesrepublik, an.
Wie Sie sich vorstellen können, von großer Skepsis der internationalen jüdischen Gemeinschaft begleitet. Aber Baeck war diese Verbindung in seine alte Heimat wichtig. Er setzte seine Hoffnung auf Menschen wie Bundespräsident Theodor Heuss und er behielt – bei allem was es zu beklagen gab und gibt – mit seiner Entscheidung recht.
1953 lehnte Leo Baeck als Zeichen der Verbundenheit die Ehrung mit dem Großen Bundesverdienstkreuz nicht ab, was nicht Wenige von ihm erwartet hätten. Ihm war das Gemeinsame wichtiger, als das Trennende und hier gibt es eine Verbindung zum heutigen Preisträger, meine Damen und Herren.
Für seinen Einsatz gegen Antisemitismus hat Cem Özdemir im Jahr 2019 den Ignatz-Bubis-Preis der Stadt Frankfurt erhalten, der sein außergewöhnliches Engagement »zum Aufbau einer friedlichen Welt mit Offenheit und Toleranz vorgelebt« hat, wie es in der Begründung der Stadt Frankfurt damals hieß.
Und er hat dieses Engagement – was ihn dann doch von so manch anderem unterscheidet – immer mit einem positiven Bekenntnis zu Israel verknüpft. Nie unreflektiert, das ist auch richtig, aber immer mit einer überzeugten Grundhaltung der Verteidigung des Existenzrechts des jüdischen Staates.
Als die palästinensische Terrororganisation Hamas im Frühjahr 2021 Hunderte von Raketen auf Israel schoss und dies hier in Deutschland bedauerlicherweise zu zahlreichen Demonstrationen gegen Israel und gegen Juden bis hin zu Ausschreitungen führte, rief er den Menschen vom Brandenburger Tor aus zu: „Wer Israel angreift, bekommt es mit Deutschland zu tun!“
Wir haben dieses Bekenntnis mit Dankbarkeit vernommen – genauso wie Ihre deutliche Kritik am sogenannten „Apartheids-Report“ von Amnesty International.
Wenn es dieser Tage Literaturnobelpreisträgerinnen gibt, die sich die antisemitischen Dämonisierungen, Israel als einen „Apartheidstaat“ zu bezeichnen, zu eigen machen, ist Ihre klare Haltung ein wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein.
Meine Damen und Herren, es ist diese Klarheit, die es in der öffentlichen Debatte zu häufig leider zu vermissen gibt. Ein Mangel an Klarheit war es, der den Weg zur skandalösen documenta gepflastert hat. So richtig und wichtig die zahlreichen Einlassungen und Kritiken an der künstlerischen Leitung der Ausstellung im Nachhinein waren, so vermeidbar erscheinen sie, hätte es im Vorfeld diese Klarheit gegeben.
Wir hatten bereits Monate zuvor gewarnt. Was sich schließlich auf der documenta offenbarte, war mehr, als ich mir in meinen kühnsten Alpträumen hätte vorstellen können.
Und die traurige Wahrheit ist, dass ein solches Ereignis nicht nur Spuren hinterlässt, sondern den gesellschaftlichen Diskurs nachhaltig beeinflusst.
Anders ist es mir nicht zu erklären, dass zwei Mitglieder des Kuratorenkollektives nun auch noch auf akademischer Ebene wiederholt eine Bühne in Deutschland erhalten – erneut aus öffentlichen Geldern finanziert.
Wir erleben einen Paradigmenwechsel in unserer kulturellen und akademischen Landschaft, dem es vorzubeugen gilt, denn er würde in seiner letzten Konsequenz unserer humanistischen Grundorientierung widersprechen, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte dem weiteren Verlauf des Abends nicht allzu sehr vorgreifen, aber eine Sache erscheint mir vor diesem Hintergrund erwähnenswert. Sie werden gleich einen kurzen biografischen Film über Cem Özdemir sehen. Ich konnte ihn mir bereits ansehen und war von einer Äußerung von Ihnen, lieber Herr Bundesminister, besonders erfreut.
Sie sagen an einer Stelle, sie leiten Ihre Werte aus dem Grundgesetz ab, unserer liberalen Verfassungsordnung, die es immer wieder zu verteidigen gilt, wie Sie weiter ausführen.
Ich habe, wie Sie sich denken können, große Sympathie für diese Zuneigung zu unserer Verfassung und ich teile Ihre Analyse: Diese freiheitlichen Werte, zu denen auch die Religionsfreiheit gehört, sind keine Selbstverständlichkeit, es gilt sie immer wieder zu verteidigen.
Das bedeutet gerade in Zeiten der Krise wachsam zu sein. In Krisen bekommen radikale Kräfte häufig Zulauf, wie wir zuletzt an Wahl- und Umfrageerfolgen der AfD beobachten konnten, aber auch an der steigenden Lautstärke anderer extremistischer Kreise, die durch die Energiekrise Zuspruch erhalten.
Und es sind häufig Jüdinnen und Juden, die in diesen Fällen schnell zu Sündenböcken gemacht werden.
Ich habe große Sorge vor einem wachsenden Antisemitismus in diesem Winter, der nicht nur für die Jüdinnen und Juden in Deutschland gefährlich werden würde, sondern für unsere Gesellschaft als Ganzes.
Meine Damen und Herren, ich fasse einmal zusammen: Cem Özdemir ist ein Grüner, ein Liberaler, ein Verfassungspatriot, um einmal einen Begriff Dolf Sternbergers wieder aufleben zu lassen. Er ist ein Verteidiger Israels; ein vehementer Streiter gegen Fanatismus, Ausgrenzung und Antisemitismus sowie für Religionsfreiheit und damit ein würdiger Träger des Leo-Baeck-Preises.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet.
Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu dieser Auszeichnung.
Es folgt nun, wie schon angekündigt, ein kurzer Film über den Preisträger und im Anschluss daran die Laudatio von Ronya Othmann, bei der ich mich für den ein oder anderen Vorgriff entschuldigen möchte, aber es war mir ein Anliegen und Bedürfnis, die Werte und Verdienste Cem Özdemirs persönlich zu würdigen.