"Unsere Erfahrungen können wir in die politische Debatte einbringen"



Rede des Geschäftsführers des Zentralrats der Juden, Daniel Botmann, beim Neujahrsempfangs der Jüdischen Gemeinde Kassel, 6.10.2016

Anrede,

ich freue mich sehr, heute in Ihrer schönen Gemeinde in Kassel einige Worte an Sie richten zu dürfen. Ich freue mich umso mehr, als der Anlass ein besonders positiver ist. Die Jüdische Gemeinde Kassel hat wieder einen Rabbiner! Das ist wahrlich ein Grund zur Freude.

Darum möchte ich vor allem anderen zunächst dem Vorstand der Gemeinde zu der Entscheidung Herrn Rabbiner Shaul Nekrich als Gemeinderabbiner anzustellen, gratulieren. Mindestens genauso wichtig ist mir, Ihnen Herrn Rabbiner Nekrich ein herzliches Mazal Tov und viel Erfolg für Ihre wichtige und wahrlich nicht kleine Aufgabe in der Jüdischen Gemeinde Kassel zu wünschen.

Jede Jüdische Gemeinde ist gleichsam ein Haus – ein Heim, zu dem sich alle Mitglieder zugehörig fühlen, in dem sie sich im wahrsten Sinne „zu Hause“ fühlen sollen und können. Ein Ort an dem sie zusammenkommen können und Gemeinsamkeit erfahren. Viele leisten in einer Gemeinde dazu ihren Beitrag: Alle Mitglieder, die gewählten Vorstände und Repräsentanten – all die größtenteils ehrenamtlich tätigen Menschen, denen an dieser Stelle einmal besonders herzlich gedankt werden soll!

Was aber wäre eine Gemeinde ohne einen Rabbiner? Ohne einen Rabbiner, der das spirituelle Zentrum der Gemeinde bildet, der uns leitet und anleitet in Predigt und Seelsorge, Ansprechpartner für alle großen und kleine Sorgen ist, der für Religionsunterricht und Jugendarbeit und vieles mehr zuständig ist, und uns durch das jüdische Jahr und seine Feiertage führt. Ohne ihn kann das religiöse Leben einer Gemeinde nur schwerlich umfassend und ganzheitlich gestaltet werden.

Nicht umsonst war und ist der Zentralrat bemüht, allen in ihm organisierten Gemeinden einen Rabbiner zu vermitteln und wo dies nicht möglich ist, zumindest zum Beispiel über das Wanderrabbinerprogramm des Zentralrats immerhin teilweise „rabbinische Betreuung“ zu genießen.

Ebenso treiben wir die Ausbildung von Rabbinern in Deutschland in der Hoffnung voran, dass die ausgebildeten Rabbiner ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft in den jüdischen Gemeinden in Deutschland finden werden. Die zahlreichen Rabbinerordinationen, wie z.B. jüngst die Ordination von, in diesem Fall drei orthodoxen Rabbinern in Frankfurt, zeigen uns, dass wir auf dem richtigen Wege sind.

Diese Aufgabe im Blick müssen wir auch künftig immer wieder darauf aufmerksam machen, dass das gern zitierte „wiedererblühte jüdische Leben“ in Deutschland auch die finanzielle und personelle Ausstattung benötigt, um wahrhaft wieder zu erstarken.

Allein mit der Bereitstellung von Räumlichkeiten oder deren Neubau ist es nicht getan, hiermit ist nur ein Grundstein für jüdisches Leben in Deutschland gelegt. Jüdisches Leben in Deutschland ohne fundiert und gut ausgebildete Rabbiner, die in der Lage sind, wahrhaft als religiöse Lehrer in einer Gemeinde zu wirken, wird gleichsam ein Haus ohne Fundament sein.

Umso erfreulicher ist es, wenn die gemeinsamen Anstrengungen Früchte tragen und eine Gemeinde wie die Jüdische Gemeinde Kassel nunmehr auch wieder spirituell und geistlich versorgt ist. Deshalb noch einmal Mazal Tov und Dank an alle innerhalb und außerhalb der Gemeinde, die zu diesem Gelingen beigetragen haben!

Meine Damen und Herren, Gemeindeleben ist wichtig. Religiöse Bildung ist wichtig. Unser jüdisches Familienleben, unsere Kulturarbeit, unsere gemeinsamen Feste und unser gemeinsames Lernen sind unabdingbarer und wesentlicher Bestandteil jüdischen Lebens in Deutschland und in jeder jüdischen Gemeinde weltweit.

Aber: Jüdische Gemeinden existieren nicht im luftleeren Raum. Sie sind vielmehr eingebettet in ihre jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umfelder. Dass in Deutschland überhaupt wieder eine jüdische Gemeinschaft existiert, ist immer wieder Gegenstand von politischen Reden besonders an Jahres- und Gedenktagen. Nicht selten wird von einem „Wunder“ gesprochen, von einer „Renaissance des Judentums“, von einem „Geschenk“. Und an all diesen Beschreibungen ist selbstverständlich auch viel Wahres.

Aber: Die Existenz jüdischen Lebens in Deutschland drückt meiner Ansicht nach aber noch viel mehr aus. Sie dokumentiert vor allem eine enorme Willensstärke derjenigen Menschen, die nach der Schoa, traumatisiert von den vorausgegangenen Menschheitsverbrechen, am jüdischen Volk, dennoch die enorme Kraft aufgebracht haben, einen Neuanfang zu wagen. Auch wenn diese Entscheidung nicht immer ganz freiwillig getroffen wurde - wenn sie überhaupt bewusst getroffen wurde - so hat man in Deutschland wieder sukzessive, neues jüdisches Leben aufgebaut.

Man hat die Ärmel hochgekrempelt und auf eine bessere Zukunft nicht nur gehofft, sondern alles dafür getan, damit diese Hoffnung auch Realität wird.Jede einzelne, auch noch so kleine jüdische Gemeinde in Deutschland zeugen von diesem Willen und nötigt uns allein deshalb tiefen Respekt ab. Ebenso wie die unerschütterliche Kraft der Hoffnung, einer Hoffnung die nötig ist, um das Notwendige anzupacken.

Warum erwähne ich dies, meine Damen und Herren? Ich erwähne es, weil mir manchmal scheint, dass diese deutsche Gesellschaft derzeit eine ganze Menge von dem, was unsere kleine jüdische Minderheit in Deutschland auszeichnet, gut gebrauchen könnte: Eine ganze Menge von diesem Mut, von dem uneigennützigen Engagement, von der Fähigkeit zur Integration, ebenso wie die Fähigkeit Differenzen auszuhalten. Von der unbedingten Gewissheit um die eigene Identität und einer festen Verankerung in einem fundierten Wertesystem jüdischer Ethik sowie der Bereitschaft lebenslang zu lernen.

Auch der Fähigkeit Bedrohungslagen auszuhalten und auf sie effizient und organisiert zu reagieren. Denn all diese Phänomene, Herausforderungen und Krisen, die unsere Gesellschaft in Deutschland derzeit so intensiv beschäftigen, prägen jüdisches Leben seit Jahrtausenden überall auf der Wet. Flucht, Vertreibung, Fremd sein, Integration und schließlich: ein Neubeginn.

Meine Damen und Herren, das soll alles andere als überheblich klingen. Aber ich denke, die jüdische Gemeinschaft hat in der Tat enorme Potentiale an Erfahrungen, die sie in die aktuellen gesamtgesellschaftlichen politischen Debatten einbringen könnte und dies meiner Ansicht nach auch aktiver denn je tun sollte.

Denn als Minderheit in einer Gesellschaft zu leben heißt nicht, sich klein oder unsichtbar zu machen oder politische Diskurse anderen zu überlassen. Schon deshalb nicht, weil akute Probleme in Gesellschaften in aller Regel immer zuerst die Minderheiten treffen und betreffen. Das haben wir Juden aus der Geschichte gelernt.

Leben als Minderheit heißt auch nicht, sich geduldet zu fühlen, bestenfalls toleriert – sondern selbstbewusst den Anspruch zu erheben auf Augenhöhe akzeptiert zu sein. Leben als Minderheit in einer Gesellschaft heißt für mich, mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet zu sein, wie die Mehrheitsgesellschaft. Heißt diese deshalb aktiv mitzugestalten, sich für sie verantwortlich zu fühlen. Das ist Recht und Auftrag zugleich!

Die jüdische Gemeinschaft hat eine Menge in diese Gesellschaft einzubringen und zu ihrem Gelingen beizutragen.

Und meine Damen und Herren, wenn ich mir die jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und ganz aktuell auch in Berlin ansehe, dann denke ich, dass wir geradezu aufgerufen sind, uns vielleicht noch ein wenig aktiver in diese Gesellschaft einzubringen als wir es derzeit bereits tun.

Und das kann nicht nur heißen, uns zu äußern oder engagieren, wenn unsere ureigensten, jüdischen Interessen betroffen sind. Dies gilt auch, wenn die Rechte anderer Minderheiten in diesem Lande angegriffen werden.

Tikkun Olam! Ein hebräischer Ausdruck, der so viel bedeutet wie „die Reparatur der Welt“. Das bezieht sich nicht nur auf die jüdische Welt! Wenn heute Obdachlose und sozial Schwache diskriminiert werden, wenn Sinti und Roma oder Flüchtlinge angegriffen und ausgegrenzt werden, wenn Flüchtlingsheime angezündet und Asylbewerber durch die Straßen gejagt werden, hat die jüdische Gemeinschaft nichts zu sagen?

Sollten wir schweigen, in der Hoffnung, dass es uns nicht treffen wird? Ich denke nein!

Es war der ehemalige Zentralratspräsident, Paul Spiegel sel. A., der einmal formuliert hatte, dass man in Deutschland wachsamer als in jedem anderen Ländern sein müsse, was die Anfälligkeit für rechtsextreme Auswüchse beträfe. Wer einmal eine Lungenentzündung gehabt habe, so sagte er sinngemäß, der müsse auch einem kleinen Husten große Bedeutung beimessen.

Und deshalb dürfen uns die aktuellen Entwicklungen um die AfD und das Erstarken dieser Partei in ganz Deutschland nicht gleichgültig lassen. Wenn die Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, den Begriff „völkisch“ Zitat: „nicht mehr so negativ verstanden wissen will“, und dazu aufruft, „daran zu arbeiten, dass dieser Begriff wieder positiv besetzt werde“, dann muss das ein Alarmsignal für alle sein, denen unsere Demokratie am Herzen liegt.

Dann müsste ein Aufschrei durch Deutschland gehen!

Ich habe diesen Aufschrei gegen eine Umdeutung eines zentralen Begriffs der Nationalsozialisten nur vereinzelt gehört. Wir Juden in Deutschland haben die rassistische und antisemitische Hetze des „Völkischen Beobachters“ nicht vergessen! Das Wort „völkisch“ wird für immer in unseren Ohren dröhnen. Dies gilt übrigens auch, wenn die CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla auf Twitter von „Umvolkung“ schwadroniert.

Meine Damen und Herren, ich rede hier keinem billigen Alarmismus oder einer aufgeregten Empörungsmaschinerie das Wort. Und ganz sicher sollte man nicht über jedes Stöckchen springen, dass einem die Repräsentanten der AfD oder der NPD hinhalten.

Aber: Wo nationalsozialistisches Vokabular und kulturrassistische Hetze neuerlich ihren Platz im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland gewinnen soll, da meine Damen und Herren gerät meiner Ansicht nach gewaltig etwas ins Rutschen.

Bereits seit Jahren warnen wissenschaftliche Studien vor einer Erosion in der politischen Mitte und deren Abdriften nach rechts und ganz rechts außen. Und wer sich die Wählerwanderungen der jüngsten Wahlen ansieht, kann sehen, dass die AfD hauptsächlich aus den Nichtwählern Stimmen bezieht, aber auch aus dem Wählerreservoirs beinahe aller demokratischen Parteien Stimmengewinne verzeichnen kann.

Antidemokraten, wie die AfD, missbrauchen die Demokratie als Trittbrett, um auf legalem Weg an die Macht zu kommen, um dann ihre hasserfüllte Politik in die Kreis- und Landtage sowie die Parlamente zu tragen. Dann wollen sie „aufräumen“, „ausmisten“. Was das für diejenigen in dieser Gesellschaft heißen könnte, die nicht in die völkischen Ideen dieser Partei passen, muss ich hier wohl nicht weiter ausführen.

Wer hier nicht klare Kante zeigt, macht sich mit den Populisten gemein und erweckt den Anschein, das Treiben der Hetzer spiele sich auf dem Boden unserer Verfassung ab. Dies kann die AfD mindestens an ihren extremen Rändern nicht für sich in Anspruch nehmen. Die hasserfüllte Rhetorik der AfD führt die Behauptung hier handele es sich um Bürger mit Sorgen und mit Ängsten ad absurdum. Vielmehr werden mindestens in gleichem Maße Hass, Neid und Missgunst unter dem Deckmäntelchen des „besorgten Bürgers“ ungehemmt ausgelebt.

Ich frage Sie: Wer Angst hat, schlägt auf hilf- und wehrlose Menschen ein? Wer Angst hat, zündet Flüchtlingsheime an? Wer Angst hat, will Menschen in Krieg und Tod zurückschicken? Auch die Erklärungsmodelle, die den Rechtsruck in unserer Gesellschaft damit erklären wollen, dass es sich um sozial abgehängte, Deklassierte und Verlierer der Gesellschaft handelt, die auf aggressiven Pegida, Legida und sonstigen Demonstrationen ihre Hassgesänge skandieren, sind längst widerlegt. Es sind vielmehr Angestellte, Selbständige, Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss und sogar überdurchschnittlichem Einkommen, die den politischen Rattenfängern hinterherlaufen und dessen Wählerreservoir bilden.

Auch in der jüdischen Gemeinschaft hat die AfD bereits versucht auf Stimmenfang zu gehen. G’tt sei Dank weitgehend ohne großen Erfolg. Offensichtlich spekuliert die Partei darauf, die berechtigten Sorgen der jüdischen Gemeinschaft in Bezug auf eine mögliche antisemitische Prägung der Flüchtlinge, für ihre demagogischen Zwecke, ihren Rassismus und ihre völkischen Thesen missbrauchen zu können. Aber in diese Falle, meine Damen und Herren, werden und dürfen wir nicht tappen.

Meine Damen und Herren, hier sollte sich niemand etwas vormachen. An der antisemitischen Gesinnung dieser Partei kann es keinen Zweifel geben. Exemplarisch sei nur an den Fall des baden-württembergischen AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon erinnert, der Jüdinnen und Juden selbst die Schuld am Antisemitismus zuwies.

Die AfD nimmt heute die Flüchtlinge, morgen andere Minderheiten ins Visier und übermorgen ist es die jüdische Gemeinschaft. Deshalb gilt es, meiner Ansicht nach, gerade auch auf jüdischer Seite sich klar und unmissverständlich von diesen Populisten zu distanzieren und sich gemeinsam mit anderen Minderheiten, den Kirchen, Parteien, Verbänden und einer engagierten Zivilgesellschaft für eine solidarische, weltoffene und demokratische Gesellschaft stark zu machen.

Mir scheint, meine Damen und Herren, dass die aktuellen politischen Turbulenzen auch Ausdruck der Tatsache sind, dass man zu lange geglaubt hat, unsere Demokratie sei gleichsam ein Selbstläufer.

Quasi „unkaputtbar“, immerwährend und „g’ttgegeben“. Zu lange hat man deshalb Leerstellen offen, demokratische Räume ungestaltet gelassen. Nun haben in vielen Teilen dieses Landes die Antidemokraten im Deckmäntelchen der besorgten Bürger diese Räume für sich erobert. Diese Räume müssen wir zurückerobern. Jetzt!

Dafür müssen wir, wo nötig auch Geld in die Hand nehmen und vor allem eines zeigen, nämlich Gestaltungswillen und das Bewusstsein, dass uns unsere Demokratie etwas wert ist.

Ich denke manchmal, dass uns die Wertschätzung für dieses Geschenk – und wir erinnern uns – die Demokratie in Deutschland wurde nicht erkämpft, sondern war ein Geschenk - etwas abhandengekommen ist. Das muss sich ändern.

Meine Damen und Herren, kein Thema hat die Bürger in diesem Land in den letzten Monaten mehr beschäftigt als die Flüchtlingskrise. Viele Tausend Menschen haben sich auf den Weg nach Europa und auch nach Deutschland gemacht, um Krieg, Hunger und Elend zu entkommen. Viele von ihnen sind nach Deutschland gekommen. Ob man sie nun je nach politischer Couleur als Minderheiten, Flüchtlinge, Refugees oder Geflüchtete bezeichnet. Es kamen Menschen.Mir scheint, das gerät bei all den Begrifflichkeiten manchmal etwas in den Hintergrund.

Wir mussten feststellen, dass angesichts der Flüchtlingskrise Politik und vor allem die Verwaltung sicherlich von vielem überfordert waren. Es gab und gibt Probleme. Wie könnte es anders sein bei einer so großen Zuwanderung in so kurzer Zeit. Erst jüngst hat Kanzlerin Angela Merkel eingestanden, dass auch Fehler gemacht worden sind und die Zuwanderung teilweise völlig ungesteuert verlief.

Zu Recht hatte dies der Präsident des Zentralrats, Dr. Josef Schuster schon früh kritisiert und auch auf die Gefahr hingewiesen, dass unkontrollierte Zuwanderung eben auch die Gefahr eingeschleuster Terroristen bedeuten kann. Auch auf die Tatsache, dass die Flüchtlinge größtenteils aus Gesellschaften kommen, in der Israelhass und Antisemitismus quasi zur Staatsdoktrin gehören.

Das bedeutet, dass man die Flüchtlinge nicht einfach sich selbst überlassen kann, sondern ganz besonders im Bereich der Wertevermittlung intensiv mit ihnen in Kontakt kommen muss. Und zwar so früh wie möglich und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Schon bei der Integration, der beruflichen Bildung, der sozialen Betreuung, bei Sprachkursen – in all diesen Bereichen muss vermittelt werden, dass diese Gesellschaft Antisemitismus nicht duldet und dass die Solidarität mit Israel unverrückbar zur Staatsdoktrin in Deutschland gehört.

Es ist auch unsere Aufgabe, die Aufgabe der jüdischen Gemeinschaft, mit all unseren Kräften auf die Umsetzung dieser Forderungen zu drängen. Und ich verweise darauf, dass wir in diesem Ansinnen viele der Minderheiten in Deutschland an unserer Seite haben. Ebenso die Kirchen, politische Parteien und Verbände. Was jetzt in diesen Bereichen versäumt wird, wird sich später rächen. Wir müssen den Flüchtlingen zeigen, dass diese Gesellschaft selbstbewusst und stark ist, Regeln hat und Normen. Auch dass das Grundgesetz nicht verhandelbar ist. Das Grundgesetz, das aber auch jenen, die zu uns kommen unverrückbare Rechte einräumt!

Aber hat diese sogenannte Flüchtlingskrise nicht auch Großartiges hervorgebracht? Die heute so leichtfertig verächtlich gemachte „Willkommenskultur“, die gern mit dem diffamierenden Sprachbild vom „Gutmenschen“ einhergeht, war und ist sie nicht bis heute eine großartige Leistung unserer Zivilgesellschaft, die wohl kaum einer vorher zu prognostizieren gewagt hätte?

Billige Polemik hierüber ist ebenso unverantwortlich, wie mangelndes Bewusstsein darüber, dass Zuwanderung in der Tat auch geregelt und sozial verträglich gestaltet werden muss. Dies ist jedoch keine Angst- oder Panikmache, sondern ist Gestaltungsauftrag an die Politik und Gesellschaft. Wir müssen uns vielleicht mehr daran gewöhnen Problemen ins Auge zu sehen, statt entweder in das eine Extrem, eine Art „Willkommenseuphorie“ oder das andere Extrem eine Art „Angstneurose“ zu verfallen.

Wo nur noch die gefühlte Wahrheit gilt und Fakten nicht mehr durchdringen, ergibt sich eine sehr gefährliche und für rechtsextreme und islamistische Populisten nutzbare Stimmungslage, die ihnen weitere Anhänger in die Arme treibt.

Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass das Jahr 1989, in der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft eine gravierende Zäsur markiert. Die politischen Umwälzungen in der Sowjetunion die die daraufhin möglich gewordene Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichten die Zuwanderung von rund 220.000 Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland geradezu eine Frischzellenkur.

Trotz sprachlicher Schwierigkeiten, trotz kultureller Differenzen, trotz aller vorhandenen Probleme bei der Integration auf dem deutschen Arbeitsmarkt – trotz vielerlei Hemmnisse gelang ein zweites Wunder. Die jüdischen Gemeinden wuchsen binnen kürzester Zeit um ein Vielfaches und die Integration gelang! Wenn auch nicht immer ganz klar war, wer hier wen integrierte.

Sowohl die Alteingesessenen als auch die Zuwanderer krempelten die Ärmel hoch und bauten am gemeinsamen Haus. Niemand sagt dies sei ohne Reibungen oder Dissonanzen gelungen. Fest steht: Es ist gelungen!

Wenn man sich die Herkules-Aufgabe sowohl auf Seiten der jüdischen Zuwanderer als auch derjenigen, die bereits in Deutschland lebten ansieht, möchte man sich beinahe fragen, wie haben wir das gemeinsam überhaupt geschafft? Wir haben also allen Anlass auf unsere Leistung stolz zu sein und sollten unsere wertvollen Erfahrungen und Erfolge selbstbewusst in die Gesamtgesellschaft einbringen.

Auch was unsere langjährigen Erfahrungen im Bereich des interreligiösen Dialoges betrifft, verfügen wir über enorme Kompetenzen, die heute so wichtig sind, wie selten zuvor. Aktuell vergeht kaum ein Tag an dem nicht die Bedeutung des interreligiösen Dialoges als ein, manchmal sogar das Problemlösungsinstrument unserer Tage geradezu beschworen wird.

Viel ist in diesen Tagen die Rede von „den Muslimen“, es gibt heftige Diskussionen um die Rolle muslimischer Moscheegemeinden und Verbände, wie z.B. DITIP, und wir fragen uns, ob wir mit „den Muslimen“ wirklich in ein Gespräch kommen können. Und wenn ja, welche Verbände, welche Muslime könnten das denn sein. Und wo tut einfach Abgrenzung not?

Ich denke, solche Gespräche sind wichtig. Wir werden aber auch nicht darum herumkommen, mehr Druck auf die muslimischen Verbände auszuüben, sich gegen Antisemiten und Extremisten in ihren Reihen abzugrenzen und aktiv dagegen zu arbeiten.

Und ich rede hier nicht von Sonntagsreden, sondern von nachvollziehbarem Handeln, das auch überprüfbare Ergebnisse zeitigt. Dafür müssen wir den Verbänden aber auch die Instrumente an die Hand geben, ihren Aufgaben gerecht zu werden.

Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich den Blick noch etwas weiten. Wir befinden uns aktuell in einer Situation, die nicht nur für Minderheiten in Deutschland schwierig ist. In ganz Europa werden heute Diskussionen um die europäischen Werte geführt. Plötzlich wird Europa von manch einem als Projekt generell in Frage gestellt und manch einer wünscht sich scheinbar in die „Gartenzwergidylle“ der eigenen nationalstaatlichen Grenzen zurück, in der Hoffnung, dass damit alle Probleme auf einmal gelöst sein mögen.

Meine Damen und Herren, wer glaubt, dass Probleme gelöst werden, in dem man den Kopf in den Sand steckt, den werden sie mit Sicherheit mit doppelter Wucht ereilen. Wir waren ein Europa der offenen Grenzen. Aus dem grenzenlosen Europa droht ein Europa des Stacheldrahtes und der Grenzkontrollen zu werden. Wir sollten aufpassen, dass wir uns nicht auf ein Ende der Freiheit zubewegen. Daran muss nicht zuletzt die jüdische Gemeinschaft ein vitales Interesse haben.

Meine Damen und Herren, ich habe nur einige wenige Themen herausgegriffen, die derzeit auf das Engste mit der jüdischen Gemeinschaft verwoben sind – ob wir das wollen oder nicht. Ich könnte auch auf Themen wie die Familienpolitik, Sozialpolitik und das Gesundheitssystem eingehen. All dies sind Themen, die uns alle angehen. Ob Minderheiten oder Mehrheitsgesellschaft.

Wofür ich werben möchte, ist, unsere Stimme auf all diesen Gebieten noch hörbarer zu machen. Sich gemeinsam und mit Gleichgesinnten zu engagierten und die Herausforderungen, die ganz sicher auch 5777 auf uns warten, anzunehmen.

Diese unsere jüdische Gemeinschaft in Deutschland muss sich wahrlich nicht verstecken. Und es gibt keinen Grund zu verzagen. Wir können und sollten uns selbstbewusst in diese Gesellschaft einbringen.

Wir haben viel zu bieten! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein herzliches Shana Tova!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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