Sie sind uns alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen und nachdem ich das glatte Parkett des Begrüßungsprotokolls jetzt betrete, komme ich mit Ihrem Einverständnis zum schwierigsten Part meiner Rede.
Sie gestatten, dass ich vorab alle diejenigen begrüße, die ich als besonders wichtig betrachte, nämlich diejenigen unter Ihnen, die ich leider aufgrund der Fülle der Persönlichkeiten in diesem Raum nicht alle namentlich erwähnen kann. Seinen Sie vergewissert, dass wir uns besonders über Ihre Anwesenheit freuen. Ein herzliches Willkommen Ihnen allen.
Gestatten Sie mir, ein paar Ausnamen zu machen, indem ich einige wenige von Ihnen doch namentlich begrüße, sozusagen stellvertretend für Sie alle.
Mein besonderer Gruß gilt den anwesenden Rabbinern, dem Botschafter des Staates Israel, Shimon Stein, dem Botschafter Frankreichs, Claude Martin, dem Botschafter der Republik Österreich, Christian Prosl und den Gesandten Großbritanniens, Israels und Tschechiens Jeremy Cresswell, Mordechai Lewy sowie Jan Sechter.
Ich begrüße den Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock, den Präsidenten des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Dr. Nadeem Elyas, die Präsidentin des Deutsche Koordinierungsrates der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Frau Eva Schulz-Jander und den Primas der Armenischen Kirche in Deutschland, Erzbischof Karekin Bekdjian.
Wir heißen willkommen den Vorsitzenden des Zentralrates der Sinti und Roma, Herrn Romani Rose mit seiner Gattin.
Mein herzlicher Willkommensgruß gilt den anwesenden früheren Leo-Baeck-Preisträgern Frau Friede Springer, Herrn Dr. Hans-Jochen Vogel und Herrn Otto Romberg.
Ganz besonders freue ich mich über die Anwesenheit von Frau Ruth Galinski sowie Herrn Jerzy Kanal.
Herzlich willkommen seien die Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Frau Kathrin Göring-Eckard, die ehemalige Bundestagspräsidentin, Frau Annemarie Renger sowie der Bundestagsvizepräsident a.D. Herr Dr. Burkhardt Hirsch sowie die Herren Wilhelm Schmidt, erster parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Beck, erster parlamentarischer Geschäftsführer der Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP Prof. Pinkwart sowie die Vorsitzende des Innenausschusses Frau Dr. Cornelia Sonntag-Wolgast und weitere Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Ich begrüße Frau Marieluise Beck, die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend und die Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen, Frau Marianne Birthler.
Wir freuen uns über die Anwesenheit von Frau Karin Schubert, Bürgermeisterin von Berlin und Justizsenatorin für den Senat von Berlin und Frau Ministerin Prof. Dr. Johanna Wanka für die Landesregierung Brandenburg sowie Herrn Rudolf Friedrich, der für Ministerpräsident Koch an der Preisverleihung teilnimmt.
Dr. Herbert Knoblich, der Präsident des Brandenburger Landtages und Stefan Grüll vom Nordrhein-Westfälischen Landtag sowie die Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin sind uns aufrichtig willkommen.
Wir freuen uns über die Teilname an der heutigen Preisverleihung von Dr. Alexander Brenner, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dem ich an dieser Stelle zu seinem Wahlerfolg gratuliere und der Kolleginnen und Kollegen vom Direktorium und Präsidium des Zentralrates.
Wir begrüßen die Repräsentanten der jüdischen Organisationen aus dem In- und Ausland. Wir begrüßen Herrn Dr. h.c. Lothar de Maizière, Herrn Werner Ballhaus, stellvertretend für die Wohlfahrtsverbände, Herrn Prof. Manfred Lahnstein, den Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Herrn Hans Koschnik, Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Herrn Wilhelm Staudacher, Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie die Damen und Herren von Stiftungen, Vereinen, Gesellschaften und Verbänden, sowie die Bevollmächtigten der Länder beim Bund.
Für das Land Niedersachsen begrüße ich Herrn Staatssekretär Wolfgang Gibowski und einen herzlichen Willkommensgruß erbiete ich Frau Dagmar Reim, der Intendantin der Rundfunks Berlin-Brandenburg als Repräsentantin der Öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten, den Vertretern der privaten und öffentlich rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, sowie den Chefredakteuren und Geschäftsführern der Printmedien.
Schließlich heißen wir willkommen die Damen und Herren der Medien, die von der heutigen Verleihung des Leo-Baeck-Preises 2003 Bericht erstatten werden.
Wenn wir an den Namensstifter unseres Preises, Rabbiner Leo Baeck s.A. heute hier begrüßen könnten, würde er, der wegen seiner umfassenden humanistischen Bildung bekannt war – für dieses einzigartige Zusammentreffen von Menschen und Ereignissen vielleicht einen Begriff nennen, der uns aus dem hellenistischen Denken bekannt ist, und zwar den Begriff des „Kairos“.
Ich bin sicher niemand der hier Anwesenden müßte ich an dieser Stelle weitere Erklärungen geben. Wenn ich mich so umblicke, kann ich die PISA-Generation jedenfalls noch nicht unter unseren Reihen entdecken. Und daraus schließe ich, dass Sie mit Sicherheit allesamt des Altgriechischen mächtig sind. Doch eingedenk unseres Spiritus Rector Leo Baeck, der ein begnadeter Pädagoge war, möchte ich das pädagogische Prinzip walten lassen. Und das lautet: Der Langsamste gibt das Tempo vor. Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Ehrengäste, ich bin nicht nur die Vertreterin einer gesellschaftlichen und religiösen Minderheit, sondern vor allem eine integrierte Vizepäsidentin unserer Bundesrepublik Deutschland.
Nach dieser kleinen tour d’horizon durch unseren Bildungsalltag, der ja nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass wir überhaupt jedes Jahr einen Preisträger finden – und meist sogar mehrere zur Auswahl haben, unter denen wir die Qual der Wahl treffen müssen – nach diesem kleinen Ausflug also keine weiteren Spekulationen mehr über die Zukunft unserer Wissensgesellschaft, sondern zurück zu den Grundfesten, dem was uns sicher ist.
„Kairos“ bezeichnet bereits im alten Griechenland – und bezeichnet noch heute jenen günstigen Augenblick, jenen fruchtbaren, entscheidenden Moment, wo sich Gegensätze berühren und Widersprüche auflösen.
Kairos ist der Augenblick der Wende, aber auch der Augenblick des Brückenschlages. Nicht zu verwechseln mit den heute eher verdächtigen Aktivitäten im Umfeld von politischen Wendemanövern. Die hier anwesenden Politiker, aber auch Frau Birthler ahnen, wovon die Rede ist.
Aber wie gesagt, die Griechen waren diesbezüglich gänzlich unbelastet, obwohl der eine oder andere aus ihrer Mitte als politischer Denker sicher auch als IM rekrutiert worden ist und nützliche Dienste geleistet hat.
Widersprüche und Ungereimtheiten waren – wie sie aus früheren Enthüllungen wissen, auch unserem Preisstifter nicht fremd. Und so ist es auch ein Segen, dass „Kairos“ vor allem in der klassisch-hellenistischen Bedeutung einen tiefen Bezug zur Persönlichkeit unseres Preisstifters hat, und dies kann unbedenklich erweitert werden auf die Geschichte Europas.
Leo Baeck hat die Brüche und Wendepunkte des jüdischen Lebens und des jüdischen Geschicks in Europa in geradezu beispielhafter Weise zum Ausdruck gebracht. Und auch ihm ist das immer wieder und in den letzten Jahren öfter – zum Vorwurf gemacht worden. Unser Preisträger weiß, wovon die Rede ist.
Dessen ungeachtet läßt sich ein roter Faden in seinem Leben verfolgen. In seinem Werk, in seinem Denken ist er vom abendländischen Humanismus geprägt, in seinem Handeln und in seinen Werten dagegen stehen vor allem jene Überzeugungen im Mittelpunkt, die von jüdischen Traditionen geprägt sind.
Leo Baeck ist sich der Zeitenwende in seinem Leben bewußt gewesen. Er hat dieses Wissen dazu eingesetzt, Weichen zu stellen. Das Schicksalhafte, von außen aufgezwungene der jüdischen Geschichte, wollte er umwandeln, er wollte die jüdische Geschichte aus dem Sog der Willkür und es Nazismus wegführen; er wollte für die Überlebenden des Terrors und für die jüdische Gemeinschaft in diesem Land Entscheidungen treffen, die weit über seine Lebenszeit hinausreichen. Rabbiner Leo Baeck war der einzige Überlebende, der die Autorität hatte, ein Urteil zu treffen. Und Gegenstand dieses Urteils war nichts weniger als Ende oder Anfang jüdischen Lebens in diesem Land.
Wir wissen, wie er sich entschieden hat. Und wir sind ihm dafür dankbar. Kairos bedeutet für uns hier und heute vor allem eins: Wir stehen heute wieder an einem Scheideweg. Wir stehen derzeit vor einem Wendepunkt des jüdischen Lebens in Deutschland.
Ich komme zu Ihnen aus einer Stadt, in der durch Zufall, und ich möchte dies betonen, durch einen puren, blinden Zufall – , eines der schändlichsten Attentatskomplotte aufgedeckt worden ist, das die deutsche Geschichte je erlebt hätte. Ich komme aus einer Stadt, meiner Heimatstadt München, in der vor 65 Jahren unsere Synagogen brannten, ich komme aus einer Stadt, in der heute, 65 Jahre später, ein neuer Flächenbrand gelegt werden sollte.
Neonazis planten, den Ort zu verbrennen, an dem wir den Grundstein für unsere neue Synagoge, den Grundstein für unser neues jüdisches Gemeindezentrum legen wollten. Neonazis planten die Menschen zu töten, die gemeinsam mit uns daran arbeiten, einen Wendepunkt der unseligen deutschen Geschichte zu bewirken.
Das Attentat ist Dank der bayerischen Polizei- und der Sicherheitskräfte rechtzeitig aufgedeckt worden. Die Verantwortlichen sind verhaftet, die Bundesstaatsanwaltschaft ermittelt. Doch wir können nicht zur Tagesordnung übergehen. Diese Ereignisse stellen für uns einen Wendepunkt dar. Aus unserem Gefühl der Sicherheit in München, der einstigen Hauptstadt der Bewegung, in der wir neues jüdisches Leben etablieren wollen, ist ein Gefühl großer Unsicherheit geworden.
Wir fragen uns. Ist es wieder so weit? Haben wir etwas übersehen?
Wir stehen vor einer neuen Dimension des rechten Terrors gegen jüdische Menschen und gegen jüdische Einrichtungen, aber auch gegen all die Menschen, die uns helfen, gegen all die Menschen, die gemeinsam mit uns Seite an Seite in diesem Land leben. Dieser Attentatsplan hat für die jüdische Gemeinschaft eine symbolhafte Bedeutung.
Der Grundstein für unser neues Leben im Herzen der Stadt München ist noch nicht einmal gelegt worden und schon lastet der Schatten rechter Gewalt, der Schatten der Ewiggestrigen, der Schatten des Antisemitismus wieder über uns allen. Ich muß Ihnen nicht sagen, wie bestürzt, wie erschüttert wir angesichts dieser Ereignisse sind und hier spreche ich für die gesamte jüdische
Gemeinschaft, und sicher spreche ich auch den hier anwesenden Menschen aus dem Herzen. Und wir stehen heute an einem Punkt in der Weltgeschichte, wo terroristische Ereignisse uns an vielen Orten in diesem Land, und auch in anderen teilen Europas und der gesamten Welt bedrohen.
Das Netz der rechten Gewalt ist heute weltweit gespannt. Das Netz der Dummheit, des Antisemitismus, der Israelfeindseligkeit und der dumpfen Weltverschwörungstheorien – ist heute engmaschiger denn je zuvor, seit dem Ende des Naziterrors in Deutschland im Jahre 1945. Auch dies ist ein Wendepunkt. Auch dies zeigt uns, dass sich die demokratischen Gesellschaften nicht ausruhen dürfen, dass wir immer noch und schon wieder in der Gefahr stehen, in den Sog der rechten Gewalt gerissen zu werden. Und dieser Sog ist heute gefährlicher denn zuvor. Wir stehen einer weltweiten Bedrohung durch Terrorismus und Gewalt gegenüber.
Ein früherer Preisträger des Leo-Baeck-Preises, den ich heute auch unter uns begrüßen kann, hat die Dimension dieses Attentatsplanes umrissen. Die Verwerflichkeit dieses Planes liege darin, meint Dr. Hans-Jochen Vogel, dass er sich „gegen einen Akt der wenigstens teilweisen Wiedergutmachung des Unrechtes richten sollte, das uns, den Juden, während der Zeit des NS-Gewaltregimes gerade auch in München angetan wurde.“
Wir sind heute eindringlicher denn je zuvor aufgefordert, uns an den Mut und die Zivilcourage, an die Beharrlichkeit und Rechtschaffenheit unseres Preisstifters Leo Baeck zu erinnern.
Trotz all unserer Erschütterung, müssen wir nach der Verhältnismäßigkeit unserer Reaktion fragen. Was haben wir erlebt angesichts des Unrechts, der Isolation, der Entrechtung, die Leo Baeck widerfahren ist, ohne dass er die Flinte ins Korn warf?
Wir fragen uns: Was würde Leo Baeck uns heute raten? Würde er uns drängen: Kehrt diesem Land und seinen Menschen endlich den Rücken zu? Nein, Leo Baeck hätte dies wohl nicht gefordert. Leo Baeck hätte unsere Verzweiflung, unsere Ernüchterung sicher verstanden. Dies, „Nicht schon wieder“.
All dies hätte Leo Baeck verstanden. Doch die wäre nicht der Rat gewesen, den er uns nach reiflicher Überlegung gegeben hätte. Leo Baeck hätte uns aufgefordert, die Ereignisse und ihre Folgen differenziert
zu betrachten. Er hätte uns davor gewarnt, alles über einen Kamm zu scheren. Doch es ist keine Bagatelle, dass wir als jüdische Menschen immer öfter Ziel von rechter Gewalt und Israelfeindlichkeit werden. Doch Leo Baeck hätte uns dazu aufgefordert, Widerstand zu leisten.
Und genau aus diesem Grund ist in diesem Jahr Ralph Giordano der Träger des Leo Baeck Preises. In Ralph Giordano lebt der Funke jenes großen Mutes weiter, der mit dem Namen Leo Baeck verbunden ist. Ralph Giordano gab einem seiner Bücher den obstinaten Titel: Ich bin festgenagelt an diesem Land. Damit haben Sie, verehrter, lieber Herr Dr. Ralph Giordano, den Nagel auf den Kopf getroffen, um in Ihrer – ein klein wenig masochistischen Begriffswahl – bleiben.
Wir gratulieren Ihnen sehr herzlich zu diesem Preis.
Und wir freuen uns, in Ihnen einen Menschen gefunden zu haben, der immer wieder auf den Fußstapfen des großen Leo Baeck gewandelt ist und viele Brücken gebaut hat, vielen Menschen Türen öffnete, um Ihre, um unsere Geschichte besser zu begreifen, in all ihrer Tragik in all ihren Abgründen, ihren Sackgassen und Einbahnstraßen, aber ebenso in all ihren Möglichkeiten und Chancen.