„Erde, verdecke nicht das Blut, das auf dir vergossen wurde!“
Diesen Satz wählten die wenigen jüdischen Überlebenden von Bergen-Belsen 1946 für dieses Mahnmal aus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Zeitspanne von 70 Jahren liegt zwischen der Befreiung dieses Konzentrationslagers und uns heute. Wir lesen mit leisem Schaudern diese Mahnung.
Die Erde der Konzentrationslager ist tatsächlich blutgetränkt. Zehntausende Menschen haben allein hier im KZ Bergen-Belsen ihr Leben verloren, ganz zu schweigen von den Millionen Toten in den anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern.
„Erde, verdecke nicht das Blut“ – das ist aber vor allem eine Mahnung an uns, die nachgeborenen Generationen.
Vergesst nicht, was hier einst geschah!
Das ist der Appell, den die Überlebenden uns vor 70 Jahren mitgegeben haben.
Sie, die hier nach dem Krieg im DP-Camp lebten, hatten alles verloren: ihre Familien, ihren Besitz, ihre Heimat. Aber die Erinnerung an ihre Liebsten, an ihr Zuhause – die konnte ihnen niemand nehmen.
Für die Tausenden von Toten gab es hier jedoch keine Grabsteine. Sie wurden in Massengräbern verscharrt. Die Überlebenden fühlten sich dafür verantwortlich, die Erinnerung an die Opfer aufrechtzuerhalten.
Und fassungslos hatten sie schon im Winter 1945/46 zusehen müssen, wie die Überreste des Lagers abgetragen wurden. Das Lagergelände wurde planiert. Damit verschwanden auch die steinernen Zeugen. Schon kurz vor Kriegsende hatte die SS die Lager-Akten und Häftlingskarteien verbrannt, um ihre Spuren zu verwischen.
Auch deshalb war ihnen der Satz so wichtig: „Erde, verdecke nicht das Blut, das auf dir vergossen wurde!“
Es war ein doppelter Appell, den sie auf dem Mahnmal verewigten: Vergesst nicht die Toten!
Und: Zieht die Täter zur Rechenschaft! Lasst sie nicht davonkommen, auch wenn die Spuren verwischen.
Wie weitsichtig dieser Appell war!
Viel zu viele Täter sind ungeschoren davongekommen. Wir wissen, wie unwillig die deutsche Nachkriegsgesellschaft war, sich ihrer Schuld zu stellen. Wie gut die alten Seilschaften funktionierten. Bis heute, oder genauer gesagt, in einem letzten, erneuten Anlauf werden frühere KZ-Wächter aufgespürt. Die Gerichtsverfahren sind mit diesem enormen zeitlichen Abstand nur sehr mühsam zu führen. Ich hoffe, dass einige der noch lebenden Täter verurteilt werden können. Diese schrecklichen Verbrechen zu ahnden, sind wir den Opfern schuldig!
Und auch die Erinnerung an die Schoa ist fragil.
Wie häufig ist inzwischen zu hören: Es reicht! Man kann uns das doch heute nicht mehr vorhalten!
In einer Umfrage der Zeitschrift „Stern“ im Jahr 2012 konnte jeder Fünfte der 18- bis 29-Jährigen mit dem Begriff „Auschwitz“ nichts anfangen. 43 Prozent der Befragten hatten noch nie eine KZ-Gedenkstätte besucht.
Mit den historischen Fakten wird immer nachlässiger umgegangen. Die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten war einzigartig und präzedenzlos. Selbst in einer Institution wie der Kultusministerkonferenz kämpfen wir derzeit darum, dass dies in den Schulen weiterhin so vermittelt wird.
Wie notwendig diese Vermittlung ist, zeigt eine gerade veröffentlichte neue Umfrage des „Stern“: Nur gut die Hälfte der Bürger, nämlich 58 Prozent, sprachen sich gegen einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit aus.
Der Appell der Überlebenden von Bergen-Belsen war dennoch nicht vergeblich.
Mitte der 1980er-Jahre wurde beschlossen, das Dokumentationszentrum auszubauen und die Geschichte des Lagers genauer zu erforschen. Heute haben wir hier eine moderne Gedenkstätte, die jedes Jahr von mehr als 300 000 Menschen besucht wird.
Dieses Mahnmal, vor dem wir stehen, belegt aber auch eindrucksvoll: Die Menschen, die damals in diesem Lager gelitten hatten, hatten fast alles verloren, aber nicht ihre Hoffnung!
Gleich nach der Befreiung gründeten sie das jüdische Camp-Komitee, aus dem im September 1945 – durch demokratische Wahlen! – das „Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone“ hervorging.
Diese Tatkraft ist bis heute bewundernswert!
Bis September 1950 bestand das jüdische DP-Camp, in dem bis zu 12 000 Menschen lebten. Allein in den ersten zwei Jahren nach der Befreiung heirateten in Bergen-Belsen mehr als 1000 jüdische Paare. Bis zur Auflösung des Camps wurden weit über 1000 jüdische Kinder geboren.
Die Entschlossenheit, die Willenskraft und der Mut dieser Menschen sind für uns bis heute vorbildlich.
Bergen-Belsen ist gleichermaßen ein Ort der Trauer und ein Ort der Stärke für die jüdische Gemeinschaft.
Heute, 70 Jahre nach Kriegsende, sprechen wir den Befreiern des Lagers, der britischen Armee, erneut unseren tiefen Dank aus!
Wir gedenken mit Respekt und Trauer der mehr als 80 000 Menschen, die in Bergen-Belsen ums Leben kamen.
Ihr Tod ist uns Mahnung bis heute!
Wir werden sie nie vergessen!
Ort der Trauer und der Stärke
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