Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Rede zur Abschlussveranstaltung der PT-Convention, 20.11.2016, Nürnberg
Anrede,
„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Diesem Zitat von Wilhelm von Humboldt - kann ich nur zustimmen. Deshalb freut es mich sehr, dass Sie sich in den vergangenen Tagen so ausführlich mit den Nürnberger Prozessen beschäftigt haben.
Im Herbst 1946, als der Internationale Militärgerichtshof der Alliierten seine Entscheidungen über die Hauptkriegsverbrecher verkündete, wurden die Urteile von vielen nichtjüdischen Deutschen als „Siegerjustiz“ abgelehnt. Doch aus jüdischer Sicht waren sie ein erster Meilenstein in der juristischen Aufarbeitung der Schoa.
Eine weitere Wegmarke war der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961. Seine spektakuläre Entführung aus Argentinien durch den Geheimdienst Mossad und das Verfahren in Jerusalem hatten für die israelische Öffentlichkeit eine entscheidende psychologische Bedeutung: Jüdische Richter sprachen Recht über den so genannten „Judenreferenten“ im Reichssicherheitshauptamt – also über einen Mann, der die Endlösung mitorganisiert hatte und bis zum Schluss seine Schuld leugnete, obwohl er die Deportationen von Millionen Juden in die Vernichtungslager arrangiert hatte.
Und schließlich begann 1963 in Frankfurt am Main der erste große Auschwitz-Prozess in Westdeutschland -und damit auch eine öffentliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der Bundesrepublik. Auch wenn viele der Urteile aus heutiger Sicht unbefriedigend erscheinen, war dieser Prozess doch für viele nichtjüdische Deutsche ein Anlass, sich zum ersten Mal mit der Schuld der eigenen Väter- und Müttergeneration zu befassen. Ohne diese Aufarbeitung der Verbrechen wäre die Wiederaufnahme deutsch-israelischer Beziehungen im Mai 1965 wohl kaum möglich gewesen.
Doch die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist bis heute nicht abgeschlossen. Immer noch gibt es Täter, Helfer und Helfershelfer der Nazis, die nicht zur Verantwortung gezogen wurden – und die trotz ihres hohen Alters noch vor Gericht gestellt werden können. Ich hoffe sehr, dass es dafür nicht endgültig zu spät ist, und dass noch laufende Ermittlungen gegen einzelne Täter auch zu Anklagen führen. Denn es ist für die Opfer äußerst unbefriedigend zu wissen, dass Mörder ihren Lebensabend in Ruhe verbringen, anstatt für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Was bedeuten die Prozesse, was bedeutet die Auseinandersetzung mit der Schoa für uns Juden heute? Ich möchte dazu den israelischen Historiker Yehuda Bauer zitieren - er ist heute 90 Jahre alt und einer der bekanntesten Schoa-Experten. Im März 1939 konnte er als 13-Jähriger mit seiner Familie aus Tschechien nach Palästina fliehen. Yehuda Bauer schreibt in seinem Buch „Jüdische Reaktionen auf den Holocaust: „Alle Juden sind, ob sie nun wollen oder nicht, Nachfolger, die Erben dieser Generation. Alle Juden, ob sie nun in Marokko, Nordamerika, Irak, Iran oder Südamerika geboren wurden, ob sie nach Israel oder woandershin ausgewandert sind, sie alle waren Hitlers Ziele. Die polnischen Juden erlitten das Schicksal rein zufällig, sie gerieten als erste in die Hände der Nazis. Der Holocaust und die jüdischen Reaktionen auf den Holocaust werden noch lange Einfluss auf das Judentum haben. Wir Juden müssen damit leben und werden noch für Generationen damit leben müssen.“ Soweit Yehuda Bauer.
Zu einer Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gehört aber nicht nur, wie sich die Schoa auf unser Selbstverständnis als Juden heute auswirkt, sondern auch die Frage, was das Verfahren von Nürnberg auf internationaler Ebene bewirkt hat. Die Nürnberger Prozesse erschlossen juristisches Neuland im Völkerrecht, wie Sie sicherlich in den vergangenen Tagen gehört haben. Die Massenvernichtung in den Konzentrationslagern der Nazis wurde dabei als „crime against humanity“ eingestuft. Das Londoner Statut des Internationalen Militärgerichtshofes formulierte diesen Tatbestand 1945 erstmals völkerrechtlich.
Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Ahrendt hat sich eingehend mit dem Begriff „crime against humanity“ befasst – und die gängige Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ scharf kritisiert. Sie nannte diese Formulierung im Epilog zu ihrem Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem „das „Understatement des Jahrhunderts“: „Als hätten es die Nazis lediglich an Menschlichkeit fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten“. Die richtige Übersetzung lautet nach Ansicht von Hannah Ahrendt: „Verbrechen gegen die Menschheit“. Die Philosophin hat auch den Begriff des „industriellen Massenmords für Verbrechen der Nazis an den europäischen Juden geprägt.
Laut Interpretation des Nürnberger Militärgerichtshofs richteten sich die Kriegsverbrechen der Nazis nicht ausschließlich gegen Juden. In Nürnberg wurden die Hauptkriegsverbrecher daher auch nicht explizit wegen des Völkermords an den Juden verurteilt.
Von Nürnberg gehen aus Sicht der Historiker also zwei Erinnerungslinien aus. Zum einen geht es um die historische Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis, zum anderen um den heutigen Umgang mit bewaffneten Konflikten. Ohne die Nürnberger Prozesse wäre die Gründung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) kaum möglich gewesen – und auch nicht die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag im Jahr 2002.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Kann man die Schoa mit anderen Völkermorden vergleichen? Dazu hat die Wochenzeitung des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Jüdische Allgemeine, Yehuda Bauer mehrmals befragt. Die Antwort des Historikers lautete immer gleich: „Natürlich. Vergleichen heißt aber nicht gleichsetzen. Das industrielle, unterschiedslose Töten von Menschen allein aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit gab es so nur in der Schoa. Es gibt aber auch Parallelen. Die wichtigste ist das Leid der Opfer. Alle Opfer in allen Völkermorden erleiden dasselbe. Mord ist Mord, Kindermord ist Kindermord. Da gibt es keine Skala.“
Für uns Juden bedeutet das Erbe von Nürnberg also eine doppelte Herausforderung. Wie können wir die Erinnerung an die Opfer der Schoa, an die Opfer eines singulären Verbrechens, wachhalten für die Zukunft - in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gibt? Eine Antwort darauf ist: indem wir uns selbst intensiv mit der Vergangenheit beschäftigen; indem wir Zeugnis davon ablegen, was unseren Eltern und Großeltern widerfahren ist, wovor sie rechtzeitig fliehen konnten oder wogegen sie als Soldaten gekämpft haben. Das gilt für alle Juden weltweit – ob sie nun in Deutschland, in Russland, in Israel oder anderswo leben. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang, dass alle Schüler in Deutschland, ob jüdisch oder nichtjüdisch, einmal selbst eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten – um sich mit eigenen Augen ein Bild davon zu machen, was Menschen anderen Menschen antun können.
Doch wir Juden verstehen uns nicht nur als Träger der Erinnerung oder als Anwälte einer Gedenkkultur, sondern auch als aktiver Teil dieser Welt, die wir heute zum Besseren verändern wollen. Nicht nur für uns selbst, nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft oder in Israel, sondern auch gemeinsam mit der Umgebung, in der wir hier in Deutschland und in Europa leben. Wir müssen verhindern, dass die Schoa relativiert wird – das wäre eine Verhöhnung unserer Opfer. Aber wir wollen auch sensibel bleiben gegenüber den Verbrechen an anderen Menschen, anderen Menschengruppen und Völkern. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir selbstbezogen und selbstgerecht werden.
Denn eines steht leider fest: Dass Verbrechen gegen die Menschheit seit den Nürnberger Prozessen einen Tatbestand im Völkerrecht darstellen, hat nicht dazu geführt, dass solche Verbrechen nicht mehr verübt werden. Jugoslawien, Ruanda, Darfur – die Liste ist lang. Auch in der heutigen Zeit hören wir in den Nachrichten fast täglich von neuen Gräueltaten an Zivilisten, ob in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder anderswo. Und es sind nicht nur Staaten oder Regierungen, sondern auch Terrororganisationen und Terrormilizen, die solche Verbrechen begehen – wie der sogenannte „Islamische Staat“, die Taliban oder die islamistische Miliz Boko Haram in Nigeria.
Glücklicherweise leben wir heute in Deutschland und im größten Teil Europas in freiheitlichen Demokratien, die sich die Verwirklichung der Menschenrechte jedes einzelnen Individuums, Gerechtigkeit und Verantwortung für die Schwächeren der Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben haben. Wir sind stolz darauf, zum Aufbau des demokratischen Deutschlands beigetragen zu haben. Die jüdischen Gemeinden in diesem Land haben heute wieder rund 100.000 Mitglieder - ein starker Beweis dafür, dass sich das Vertrauen einer Minderheit in die deutsche Demokratie gelohnt hat. Und ich freue mich sehr, dass wir heute hier im neuen Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg zusammenkommen, das erst im Juli eingeweiht wurde. Dieser Neubau ist ein Zeichen dafür, dass wir in diesem Land bleiben wollen und dass wir hier unsere Zukunft sehen.
Doch auch in Deutschland und in anderen Ländern Europas heizt sich das gesellschaftliche Klima auf. Politische und religiöse Extremisten gewinnen an Einfluss, von verschiedenen Seiten werden Hass und Aggressionen geschürt. Auch die Entwicklungen in der Türkei und in Russland sind nicht ermutigend. Autoritäre Führer bauen ihre Macht aus, der „starke Mann“ ist wieder gefragt. Einfache Antworten auf komplizierte Fragen werden populärer. In Deutschland nimmt die Hetze gegen Flüchtlinge zu. Gerade junge Menschen wie Sie sollten solchen Tendenzen aktiv widerstehen. Denn die wichtigste Basis der Demokratie ist und bleibt die Akzeptanz von Andersdenkenden und anders Glaubenden. Der Versuch eines Gesprächs mit dem vermeintlichen Gegner bringt mehr, als ihn zu beschimpfen. Ein starres Freund-Feind-Denken führt in die Irre.
Dies gilt übrigens auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Auch bei uns ist mitunter die Vorstellung verbreitet, dass es im Judentum nur einen richtigen Weg gibt. Aber das stimmt natürlich nicht. Gerade Pluralität und Vielfalt, in der sich alle jüdischen Denominationen und Strömungen unter einem Dach - dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland - vertreten fühlen, machen uns als jüdische Gemeinschaft stark für die Zukunft.
Die Erinnerung an die Vergangenheit bleibt eine wichtige Quelle unserer kollektiven Identität. Wie viel wissen wir über das Vergangene? Ist das Nachdenken darüber nicht allzu oft unbequem? Lassen sich in der Vergangenheit gemachte Fehler heute vermeiden, ist die Menschheit tatsächlich lernfähig? Daran kann man sicherlich zweifeln, sollte aber nicht dabei stehenbleiben. Die Berliner Politikprofessorin Gesine Schwan hat einmal geschrieben: „Aus der Vergangenheit lernen heißt, sich auf die Suche nach historischen Erfahrungen zu begeben, die einer Zukunft in Hoffnung entgegenstehen - ebenso wie nach Potentialen, die sie begünstigen. Aus der Vergangenheit lernen heißt verstehen, wie wir selbst und die anderen geworden sind, um uns besser mit ihnen über eine gelungene Zukunft verständigen zu können. Aus der Vergangenheit lernen heißt, gegenseitiges Vertrauen und Gemeinsamkeit schaffen für eine Welt, die wir auch unseren Kindeskindern noch guten Gewissens überantworten können.“
Und vielleicht kann sogar die dunkelste Vergangenheit Anlass zur Hoffnung geben. Ich habe anfangs in meiner Rede den Historiker Yehuda Bauer zitiert und möchte auch mit einem Zitat von ihm enden. Am Ende seines Buches „Jüdische Reaktionen auf den Holocaust“ stellt Yehuda Bauer klar, dass die Nazis ihr Ziel trotz aller Bemühungen nicht erreicht haben: „Es gelang ihnen nicht, bei allen Menschen ihre Menschlichkeit zu vernichten. Es gelang ihnen nicht, jeden einzelnen Juden zu vernichten – weder als Menschen noch als Individuum mit einer jüdischen Identität. Sie scheiterten an einer Minderheit, und ein totalitäres System scheitert, wenn es ihm nicht gelingt, sich bei allen durchzusetzen. Dies ist nicht nur für das Judentum von Bedeutung, sondern für die Menschheit generell. Wenn es den Nazis nicht gelang, trotz all ihrer Macht, jedermann zu brechen, dann gibt es vielleicht doch noch Hoffnung für die gesamte Menschheit.“ Soweit Yehuda Bauer.
Wir müssen an dieser Hoffnung festhalten – und gemeinsam für eine Welt kämpfen, in der Menschenrechte Standard sind und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen Platz mehr haben. Und gerade deshalb dürfen wir die Opfer der Schoa nicht vergessen – und müssen uns an das schreckliche Leid erinnern, das ihnen zugefügt wurde. Jeder von Ihnen, der noch die Gelegenheit hat, mit Überlebenden und Zeitzeugen über die Schoa zu sprechen, sollte diese Chance nutzen. Denn nur, wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.
"Nur, wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft"
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