Niemals nachlassen



Von Dieter Graumann | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2012

Die Bilder sahen nach Bürgerkrieg aus. Die skandierten Parolen ließen uns das Blut in den Adern gefrieren: Vor 20 Jahren, vom 22. bis 24. August 1992, kam es in Rostock-Lichtenhagen zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen, die gerade uns Juden an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erinnerten. Angestachelt von Tausenden Schaulustigen, begann ein Mob aus Rechtsextremisten eine Hetzjagd auf Asylbewerber.

Rostock war aber nur der Auftakt. Es folgten die ausländerfeindlichen Anschläge von Mölln und Solingen. Dabei kamen insgesamt acht Menschen ums Leben. Ignatz Bubis, der damalige Zentralratspräsident, war seinerzeit sofort zur Stelle. Umgehend fuhr er nach Rostock, nach Mölln und nach Solingen, um den betroffenen Familien seine Anteilnahme und Solidarität zu erweisen und der deutschen Gesellschaft eindringlich zu zeigen, wie wichtig der Kampf für die Menschlichkeit und gegen den Hass bleibt. Um zu zeigen: Es geht uns alle an, wenn Menschen in unserem Land aufgrund ihrer Nationalität oder Religion angegriffen werden! Obwohl keine Juden betroffen waren, zeigte Ignatz Bubis sofort einen persönlichen Einsatz, der viele Menschen im Land besonders beeindruckte. In dieser Tradition setzt der Zentralrat der Juden sein Engagement des Herzens für die Menschlichkeit bis heute entschlossen fort: Immer sind wir bereit, uns mit ganzer Kraft für Menschen einzusetzen, die ausgegrenzt und verfolgt werden.

Und nötig bleibt dieser Einsatz allemal. Denn, wie schön wäre es doch, sagen zu können: Die Zeiten haben sich geändert. Haben sie leider nicht. Ende Juli verübten Unbekannte in Bremen einen Brandanschlag auf die Wohnung einer Einwandererfamilie. In Köln warfen Unbekannte Molotowcocktails in eine türkische Teestube. Im niedersächsischen Bad Nenndorf, Schauplatz eines jährlichen Neonazi-Aufmarsches, wurde ein kiloschwerer Stein in das Schlafzimmer der Zweiten Vorsitzenden des Bündnisses „Bad Nenndorf ist bunt“ geworfen.

Wir dürfen die Augen davor nicht verschließen: Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus sind keine Randphänomene in unserer Gesellschaft. Sie finden nach wie vor auch in bürgerlichen Kreisen Zuspruch. Die rechtsextreme Bewegung „Pro NRW“ macht sich heute die Vorurteile gegen Muslime zunutze. Und wie schnell und heftig sich alte antijüdische Ressentiments wieder abrufen lassen, hat uns die Debatte über die Beschneidung mit ihren teilweise widerwärtigen Nebengeräuschen stärker vor Augen geführt, als uns lieb ist.

Für die größte Erschütterung in jüngster Zeit hat zweifellos die Aufdeckung der NSU-Mordserie gesorgt. Polizei, Verfassungsschutz und viele Medien haben sich selbst und uns alle zu lange in falscher Sicherheit gewiegt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Warum müssen Projekte gegen Rechtsextremismus heutzutage eigentlich immer wieder ums Geld kämpfen? Warum wird die NPD nicht endlich verboten? Warum wird vielmehr weiterhin die Hasspropaganda der NPD mit Steuermitteln gepäppelt, mit Geld, das dann oft sinnigerweise wieder fehlt, wenn es um die Bekämpfung von Rechtsextremismus geht?

Wir dürfen im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht nachlassen. Gerade jungen Menschen muss vermittelt werden, wie kostbar die Werte von Freiheit und Toleranz sind. Einwanderer als Bereicherung zu verstehen heißt zwar nicht im Umkehrschluss, die Augen vor allen Problemen der Integration zu verschließen. Die Frage ist doch aber, worauf wir den Schwerpunkt setzen. Empfinden wir Einwanderer als Fremde und andere Kulturen und Religionen etwa als Bedrohung? Wir müssen gemeinsam eine neue Willkommenskultur entwickeln - gerade die jüdische Gemeinschaft mit ihrer großen Integrationsleistung seit 1990 kann hier wertvolle Erfahrungen beisteuern. Vor zwanzig Jahren ahnte noch niemand, dass Rechtsextremisten durch das Internet ganz neue Möglichkeiten haben, Menschen für sich zu gewinnen. Mit scheinbar harmlosen Seiten auf Facebook locken Rechtsextreme vor allem junge Leute in ihre Falle. Immer mehr Knowhow und personelle Kapazitäten sind notwendig, um Kinder und Jugendliche aufzuklären, um sie zu schützen. Politik, die ausgerechnet an diesen Stellen spart, macht sich mitschuldig.

Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen - es ist richtig und notwendig, an diese schrecklichen Ereignisse zu erinnern. Doch ebenso wichtig ist der Blick auf die Gegenwart. Hier und heute müssen wir uns einsetzen für eine Gesellschaft, die offen ist und tolerant, in der Menschen mit verschiedenen Kulturen und Religionen ihren Platz finden - niemals in einem kalten Gegeneinander, auch nicht in einem gleichgültigen Nebeneinander, sondern in einem würdevollen und respektvollen Miteinander.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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