Im Redemanuskript stand natürlich nicht das Lied "Ach, die erste Liebe ..." , das ich zu Beginn ja nur improvisierte, weil mir am Vortag mein ostberliner Freund Ekke Maaß Eizes gegeben hatte: „Die Merkel liebt die Lieder des "russischen Biermann": Bulat Okudshava.
Ich kannte diesen "Barden" (so nennt man einen songwriter oder Liedermacher oder poète chanteur in Russland). Ich besuchte Bulat zweimal in Moskau, und er mich später auch in Hamburg. Ich sang ihm in seiner Datscha bei Moskau meine DDR-deutsche Version seines wahrscheinlich populärsten Liedes vor und war gespannt, wie er auf meine Fälschung der dritten Strophe reagiert, ("fartaitscht un farbessert", wie die Jidden sagen) - denn im russischen Original heißt der Text des Liedes wortwörtlich, soweit ich mich erinnere:
Ach, bei der ersten Untreue
Im Nebel kommt die rote Sonne nicht hoch.
Und bei der zweiten Untreue
Im Abenddämmer betrunkenes Schwanken...
Doch die dritte Untreue (russisch: "obman")
Ist schwärzer als Nacht, schlimmer als Krieg
Als Okudshava also meine dritte Strophe gehört und unser Dolmetscher es ihm wortwörtlich übersetzt hatte, da grinste er und knurrte (zu meiner Verblüffung, Erleichterung und Freude): "Ja, ja, Biermann, so wollte ich es eigentlich schreiben."
Der Unterschied zwischen uns lag wohl nicht im Talent oder im poetischen Stil, oder in der Haltung, sondern hat ganz andere und banale Gründe: Die politischen Preise waren damals in der Sowjetunion einfach viel höher. Wofür man in der DDR nur eingesperrt wurde, dafür wurde man in der UdSSR schon totgeschlagen. Wofür man in der DDR nur verboten wurde, dafür wurde man in der SU schon eingesperrt, so wie etwa die beiden Schriftsteller Julij Daniel und Andrej Sinjawski in Moskau, Mitte der 60er Jahre.
Wenn Bulat Okudshava oder sein rabiaterer Kollege Wladimir Wyssotzki jemals solche politischen Pasquille wie „Die Stasi-Ballade“ oder „Die hab ich satt!“ oder „Ah-jaa!“ oder „Populärballade“ oder „In China hinter der Mauer“ geschrieben und dann auch noch in den Hinterzimmern der Dissidenten gesungen hätten, so wie ich es tat in den elf Jahren meines Totalverbots bis zur Ausbürgerung, dann wären diese "Barden" unter dem poststalinistischen Regime von Breshnew & Co. zehn mal totgeschlagen worden. Also konnte ich damals als DDR-Bürger in Ostberlin deutlicher - wie die Juden sagen: Tacheles - reden und singen. Und also musste ich es auch tun. Dass der Dichter immer wieder „zu weit gehn“ muss, das ist klar. Aber wie weit, zu weit gehn und wann - das ist eine variable Größe, hängt wesentlich vom Zeitpunkt und vom Ort ab im Streit der Welt, den Heine den ewigen „Freiheitskrieg“ nennt.
Ach, die erste Liebe
Ach, die erste Liebe macht das Herz mächtig schwach
Und die zweite Liebe weint der ersten nur nach
Doch die dritte Liebe: Schnell den Koffer gepackt
Schnell den Mantel gesackt und das Herz splitternackt
Ach, der erste Krieg, da ist keiner schuld
Und der zweite Krieg, da hat einer schuld
Doch der dritte Krieg ist schon meine Schuld
Ist ja meine Schuld: meine Mordsgeduld
Ach, der erste Verrat kann aus Schwäche geschehn
Und der zweite Verrat will schon Orden sehn
Doch beim dritten Verrat mußt du morden gehn
Selber morden gehn - und das ist geschehn
Beim Singen dieser Verse im Hotel Adlon - vor all diesen hochkarätigen Politikern und Funktionären, vor den mächtigen Medienmenschen und vor etlichen Überlebenden der Shoa und vor ein paar Rabbinern und sonstigen Geistlichen und Militärs und Diplomaten diverser Länder - da merkte ich erst, wie gespenstisch gut die zweite Strophe auf das brennende Problem mit dem Iran des Atombombenbauers Achmedineshad paßt: Der Dritte Krieg. Das verblüffend genaue Wort "Mordsgeduld" ist natürlich ein Gratisgeschenk unserer starken deutschen Sprache, das mir die Muse Erato zusteckte, als ich die Übersetzung anfertigte. Im Russischen gibt es solch eine erhellende Wortkombination nicht. (the day after, zuhause in Hamburg-Altona)
Liebe Angela Merkel,
verehrte Bundeskanzlerin und gelernte Physikerin, soll heißen: gestandene Christin, promovierte FDJlerin und gut geratenes Kind der DDR - und unterdes machen Sie auch noch eine Karriere als Kämpferin in dem, was Heinrich Heine in seinem Gedicht „Enfant Perdu“ den ewigen Freiheitskrieg der Menschheit nannte - mich freut, dass grade Sie mit dem Leo Baeck-Preis ausgezeichnet werden. Dieser Preis schmückt Sie, denn er schmückt sich mit dem Namen des vielleicht deutschesten aller Rabbiner und gilt als die höchste Ehrung, die der Zentralrat der Juden in unserem Land zu vergeben hat. Ihnen die obligate Lobrede zu liefern, ist mir eine peinliche, soll heißen: schmerzhafte Ehre - ja, Ehre sage ich und gebrauche dieses heikle Wort ohne ironisches Augenzwinkern - etwa zur Besänftigung für mein links-alter-na-ives Klientel. Und schmerzhaft, denn ich bin ein geborener Linker, Sie sind eine geborene Rechte, Sie Christin, ich Atheist. Wir passen schön schlecht zusammen, und das macht die Konstellation interessant.
Aus den Liedern und Gedichten können Sie es erfahren: Meine ganze jüdische Familie aus Hamburg wurde in der Nazizeit nach Minsk deportiert und dort in die Grube geschossen, das war November 1941. Im Februar 1943 wurde dann auch noch mein kommunistischer Vater aus dem Nazi-Gefängnis leider entlassen, entlassen allerdings nach Auschwitz, weil er ja nicht nur Widerstandskämpfer war, sondern nebenbei auch noch Jude, und so geriet er in die Gaskammer und flog durch den Schornstein in werweiß welche Himmel. Weder Sie noch ich, kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Sie sind die Tochter eines evangelischen Pfarrers, der in der DDR-Diktatur dem Kaiser gab, was des Kaisers ist. Aber wenn er Ihnen einen tiefen Glauben an den Christen-Gott eingepflanzt hat, dann ist seine Tochter Angela dem Gott der Juden noch näher als ich Sohn eines gottlosen Juden.
Hier, unter uns, in der paradoxen Intimität der Öffentlichkeit, lassen Sie mich in meiner Lobrede ungeniert Tacheles reden. Ich bin als Laudator heute eigentlich im Wortsinn gar kein Lobredner, sondern fast schon ein Bittsteller, bin für die lebenden und die toten Juden der Überbringer und Dolmetzsch einer Petition. Als einzigen Juden unter den bisherigen Leo-Baeck-Preisträgern entdeckte ich den Schriftsteller Ralph Giordano, meinen versöhnungssüchtigen, aber dennoch streitbaren Freund, der grade in Köln gegen den Bau einer riesigen Moschee anreitet, wie einst Don Quichote von La Mancha gegen eine Windmühle, die er für einen Riesen hielt.
Wenn ich mir die lange Liste der Preisträger anschaue, dann lese ich fast ausschließlich die Namen von höchst einflußreichen Politikern in Deutschland.
Ich hoffe, Sie sehen mir das offene Wort nach: Mir kommt auch Ihre Auszeichnung heute mit dem Leo-Baeck-Preis vor wie eine Bitte um Beistand, ein Appell an Menschen in Deutschland, die Einfluß haben auf die Politik der Bundesrepublik gegenüber den Juden im eigenen Lande und gegenüber dem Staat der Juden im Nahen Osten.
Ich finde auch die Namen so mächtiger Medienmenschen wie Friede Springer und Hubert Burda. Zudem fand ich in der Liste der Leo-Baeck-Preisträger den Namen des Generalbevollmächtigten des Krupp-Konzerns, Berthold Beitz, der im Nazi-Krieg - in der Manier von Oskar Schindlers Liste - „seine“ Juden schützte. Als Beitz in den eroberten Ölfeldern der Beskiden wirkte und in Galizien jüdische Häftlinge für Hitlers Kriegswirtschaft ausbeutete, rettete er damit etlichen dieser Arbeitssklaven zugleich das Leben. Voilà, man wird bescheiden in diesem weltpolitischen Bestiarium und ist dankbar für jede menschliche Geste, sogar für jede Untat, die auf dialektische Weise zum Guten ausschlug.
Der Leo-Baeck-Preis scheint also eine Auszeichnung zu sein, speziell gedacht für Deutsche, die man bei den Ostjuden „a mensch“ nennt, und „a mensch“, das heißt, wenn man es aus der jiddischen Sprache ins Deutsche übersetzt, nicht etwa „ein Mensch“, sondern bedeutet immer genau dies: „ein guter Mensch“. Sie jedenfalls, müssen weder ermahnt, noch genötigt werden. Ihre Reden zum Nahostkonflikt, verehrte Bundeskanzlerin, hören sich in meinem Ohr nicht so sophisticated an wie die Ihres Vorgängers im Amte. Sie bewegen sich in bester Luther-Tradidion: „Eure Rede aber sei Ja, ja; Nein, nein.“ Heilfroh war ich, als ich in diesen Tagen Ihr großes Interview in der Springer-Zeitung DIE WELT las. Ich habe mir die Stelle ausgeschnitten und in mein Arbeitsbuch geklebt wie einen babylonischen Talisman. Sie wurden da zitiert mit einem Statement zum Konflikt mit dem Iran. Nun habe ich es von der Bundeskanzlerin also schwarz auf weiß in meiner Kladde:
„Wir können die Augen vor einer Gefährdung nicht verschließen. Ich trete mit Nachdruck dafür ein, dass wir das Problem auf dem Verhandlungsweg lösen, aber dazu müssen wir auch bereit sein, weitere Sanktionen zu verhängen, wenn der Iran nicht einlenkt. Er bedroht die Sicherheit Israels, die für mich als deutsche Kanzlerin niemals verhandelbar ist. Er bedroht die Region, Europa und die Welt. Das müssen wir verhindern.“
Und neben diesen Zeitungsschnipsel notierte ich mir:
„Im Grunde alles Selbstverständlichkeiten, die aber leider gar nicht selbstverständlich sind. Die deutschen Export-Interessen auf dem arabischen Weltmarkt stehn auf dem Spiel! Die Abhängigkeit vom islamischen Öl lehrt uns das Fürchten! Und gleichzeitig fliegt der kleine Zar Wladimir Putin vom „date“ mit der deutschen Bundeskanzlerin direkt von Berlin nach Teheran zu seinem Freund, dem kleinen Hitler A. (Achmedineshad) und verbündet sich demonstrativ mit diesem fanatischen Todfeind der Juden. Unter uns: Ich halte Russlands Stabilisatoren Putin aus deutscher Sicht für höchst instabil, denn Gasmann Schröders lupenreiner Demokrat kopiert mit solch einer Liaison dangereuse seinen blutigen Vorgänger Stalin, als der sich mit Adolf Hitler 1939 ins Bett legte. Putin vereinbarte grade jetzt ungeniert weitere technische Hilfe und Lieferungen fürs iranische Atomprogramm und verspricht den Mullahs obendrein modernere Raketen, mit denen die Atomsprengköpfe, die der Iran bald haben wird, auch weit genug nach Israel und noch weiter nach Europa transportiert werden können. Und in der UNO sichert der gelernte Geheimdienstler das Milliarden-Geschäft ab durch sein Veto im Sicherheitsrat: Eine perverse Form der Globalisierung. So absurd passieren die Tragödien der Weltgeschichte: Die blinden Helden führen ihr Schicksal herbei, indem sie es abzuwenden trachten.
Aber der grausame Gott des Zufalls wütet im Geschichtsprozess auch manchmal so verrückt, dass manches sich zum Guten wendet.
Sie, Angela Merkel, kommen mir vor, wie solch ein gelungenes Zufallsprodukt der Weltgeschichte. Der Philosoph Hegel würde sich schieflachen! Was für´n wunderbar meschuggener Weltgeist: Ausgerechnet das Menschenkind Angela aus dem Pfarrhaus, das prima Russisch gelernt hat in der DDR, wo kein normaler Schüler Russisch lernen wollte, redet nun Tacheles mit den Russen. Eine Frau, die die Gesetze der Physik studierte in einem Land, wo 2 mal 2 nicht 4 sein durfte - ausgerechnet sie bringt den Großkopfeten der Europäischen Union lebensklug wie eine erfahrene Grundschullehrerin das kleine Einmaleins der politischen Moral bei - und dazu das große Einmaleins einer moralischen Politik. Ausgerechnet eine Frau aus der größten DDR der Welt zeigt den Machtmännern, dass unsere Erde tatsächlich immer kleiner wird, dass unser Planet in Bälde eine globale Dorfregierung braucht und dass also die verteufelte Globalisierung die einzige Chance für uns ist, als Menschheit womöglich noch ein paar Jahrtausende auf diesem Erdball durchs Universum zu rollen.
Warum hassen so viele Europäer dermaßen maßlos die Juden? Warum halten sie das bedrohte Israel, die einzige Demokratie in der arabischen Region, für den gefährlichsten Kriegstreiber in der Welt? Und woher kommt dieser hysterische Haß gegen die USA? Ich wüßte gern, verehrte Angela Merkel, Ihre Meinung. Eine mögliche Antwort: Die Deutschen haben zwei verbrecherische Kriege vom Zaun gebrochen und verloren, also ziehen sie daraus die dummschlaue Lehre: Pfoten weg! Ich kriegsgebranntes Kommunisten- und Judenkind war immer für den Frieden, konnte aber niemals ein Pazifist sein. Also hat es mein Herz gefreut, als ich las, was Sie zu diesem heiklen Thema öffentlich äußern:
„Ein Blick zurück in unsere eigene Geschichte mahnt dazu, den Frieden als wertvolles Gut zu erhalten und alles zu tun, um kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. […] Ein Blick in die gleiche Geschichte mahnt aber auch, dass ein falsch verstandener, radikaler Pazifismus ins Verhängnis führen kann und der Einsatz von Gewalt trotz des damit einhergehenden Leides – in letzter Konsequenz unausweichlich sein kann, um noch größeres Übel zu verhindern. Auch die jüngere europäische Geschichte zeigt, dass Krieg im Umgang mit Diktatoren zur ‚ultima ratio‘ werden kann. […] Beim Kosovo-Krieg hat eine ‚coalition of the willing‘ durch den Einsatz von Gewalt noch größeres Leid […] verhindert.“
Ich vermute, dass alle Europäer, die Russen eingeschlossen, den USA einfach viel zu viel verdanken. Manchmal kommt es mir so vor, als ob der Mensch Untaten besser aushält als Wohltaten. Es klingt paradox - aber wir alle wollen doch uns dankbar erweisen für unsere Helfer und Retter. Der Mensch schämt sich aber, und er wird aggressiv vor allem dann, wenn er keine Chance sieht, sich jemals zu revanchieren. Ohne die großherzige Hilfe der USA hätte Hitler in Westeuropa und dann gegen Stalins Sowjetunion den Weltkrieg wahrscheinlich gewonnen. Übermächtige Gründe zur Dankbarkeit machen womöglich auch die Völker seelenkrank. Und der Judenhaß? Er ist so alt, so grauenhaft gediegen. Denken Sie an den genialen Luther , den geifernden Todfeind der Juden. Ja, die Opfer können wohl ihren Tätern verzeihn. Aber die Juden werden vor allem gehaßt wegen der Shoa, weil umgekehrt die Täter ihren Opfern niemals verzeihen können, was sie ihnen antaten.
Sie, Frau Merkel, sind in diesem fatalen Zusammenhang etwas günstiger dran, weil Sie - „in echt“ - die Gnade der späteren Geburt genießen und sich auch nicht noch damit öffentlich berühmen, dass Sie sich beknirschen.
Ihr verblüffender Aufstieg vom belächelten Ostmädchen des Kanzlers Kohl zu Schröders Fiasko und nun zu einer weltweit respektierten Frau, das hat, vermute ich, seinen Grund auch in Ihrer lehrreichen Erfahrung als Unterthan in einem totalitären Regime, wie es die DDR war.
Wer von klein auf in einer totalitären Diktatur lebte, haßt die Freiheit, weil er sie fürchtet, oder aber: er liebt die Freiheit mit umso größerer Inbrunst.
Gewiss, Sie sind ein Ostmensch, aber kamen mir nie wie ein „Ossi“ vor. Sie sind längst eine Deutsche geworden, die in keine West- oder Ost-Schublade reinpaßt. Mit Verlaub, mein Fall ist ähnlich. Unsereins quält die Frage wohl noch tiefer als einen geborenen Demokraten: Wo sind die Grenzen der Freiheit. Darf unsere Toleranz immer wieder so weit gehn, dass die Intoleranz triumphiert? Gelten demokratische Freiheitsrechte auch für Freiheitsfeinde?
Gut, das wäre die Freiheitsfrage - wie aber steht es mit der Judenfrage. Auch diese Erfahrung haben Sie und ich gemein: Wir lebten in einem Staat, dessen Politik nach innen wie nach außen ein praktizierter Antisemitismus war, der allerdings so cool funktionierte wie bei Orwell im Roman „1984“ die Neusprech-Sprache: Offiziell wurde den Bürgern jeglicher Antisemitismus verboten, aber als Antizionismus umgetauft, war der Judenhaß Staatsdoktrin nach innen und außen. Das Ministerium für Staatssicherheit unter Mielke und Markus Wolf baute dem fanatischen Todfeind Israels, einem der eifrigsten Endlöser der Judenfrage, Yassir Arafat, seine diversen untereinander abgeschottet verschachtelten Geheimdienste auf.
Wer den Nahen Osten kennt, der weiß: Wenn die Araber endlich ihre Waffen niederlegen, wird es dort keinen Krieg mehr geben. Wenn aber Israel die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben.
Viele Europäer neigen dazu, Juden und Araber als Streithähne zu sehn, als Raufbolde, die man mit der Rute der Vernunft zur Raison bringen muß. Den Israelis wird zudem raffinierte Hinterlist unterstellt, und den Arabern eine aufbrausende Unmündigkeit zuerkannt.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, brechen mit dieser infamen und infantilen Äquidistanz. Als ich mir Ihre statements zu Israel anschaute, fand ich ein Wort, das mich berührte:
„Wir haben erst spät gelernt - und ich sage das für mich auch persönlich - wie unermeßlich viel Deutschland durch die Shoa verloren hat und wie viel Liebe deutscher Juden zu diesem Land unerwidert geblieben ist.“
Einer von den Juden, die zu Deutschland eine dermaßen tragisch unerwiderte Liebe lebten, war der Rabbiner Leo Baeck. Ja, er war das Musterexemplar eines extrem deutschen Juden. Er liebte Deutschland „über alles“. Und er verkörperte alle deutschen Tugenden, für die so deutsche Juden in Israel bis heute von den lebensklügeren Ostjuden und von den lebenslustigen sephardischen Juden bewundert werden und belächelt und verspottet. So preußisch korrekt, so pflichtbewußt, so pünktlich, so penibel, dermaßen gutbürgerlich und ordnungsliebend bis über den Rand der Lebensdummheit waren nur diese assimilierten und akkulturierten Juden aus Deutschland.
Wäre Leo Baeck bei seinem Besuch noch im Jahre 1936 in Palästina geblieben, dann hätte man ihn dort in Erez Israel als einen dieser typischen „Jekke“-Juden angesehn. Er kehrte von der kurzen Reise aber zurück nach Nazi-Deutschland, weil er, zweitens, so extrem deutsch war und erstens, weil er sich als Seelsorger und als väterlicher Helfer in größter Not den Juden im deutschen Vaterland verpflichtet fühlte. Auch als er 1939 die Gelegenheit hatte, zu Verhandlungen nach London zu reisen, brachte er sich dort nicht in Sicherheit, sondern kehrte zu seinen Leidensgenossen in die Mördergrube Deutschland zurück. Er organisierte die Rettung von jüdischen Kindern ins Ausland, verhandelte mit der Gestapo, besorgte Pässe, Genehmigungen, soziale Hilfe und Geld.
So kam es, dass Leo Baeck 1943 als Nr. 187894 deportiert wurde ins KZ Theresienstadt, ein so genanntes Sonder- oder auch Vorzugs-KZ in der Nähe von Prag, wo die Juden massenhaft starben an Hunger und Krankheiten und von wo die Menschen zur Vergasung nach Auschwitz in Güterzüge gepfercht wurden. Ein Wunder: Im KZ Theresienstadt gehörte der Greis Leo Baeck am Tag der Befreiung zu den Überlebenden. Und ich glaube, er überlebte nur, weil er den Todgeweihten dort mit stoischer Disziplin und treudeutscher Innigkeit die Werke von Goethe und Immanuel Kant und Gottes Tora predigte.
Ja, dieser Leo Baeck war der Typ eines national gesinnten Patrioten. Von meinem Freund, dem Historiker des jüdischen Widerstandes in der Nazizeit, von Professor Arno Lustiger in Frankfurt am Main, weiß ich, dass Leo Baeck freiwillig in den 1. Weltkrieg zog. Als Front-Rabbiner ritt er furchtlos bis zu den vordersten Schützengräben und betreute seelsorgerisch das jüdische Kanonenfutter: deutsche Soldaten, die dort für Kaiser und Vaterland in den sinnlosen Tod gingen. Es wird vom Namenspatron des Preises, der Ihnen heute übergeben wird, berichtet, dass er in letzter Minute vor seinem Abtransport ins KZ, als er im Jahre 1943 die Schlüssel seiner Wohnung und eine vollständige Liste mit dem Inventar an Büchern, Möbeln, Geschirr, Wertsachen und Sparbücher und Bargeld hatte abgeben müssen, noch schnell vorher seine letzte Gasrechnung bezahlt hat.
Es gab vor einiger Zeit Streit um eine Expertise, an der Leo Baeck gearbeitet hat, eine Auftragsarbeit der Gestapo des Reichssicherheitshauptamtes. Er arbeitete von 1938 bis 1941 an dieser Schrift: „Die Entwicklung der Rechtsstellung der deutschen Juden in Europa, vornehmlich Deutschland.“ Nach dem Ende des Krieges hatte Leo Baeck gelogen, dies sei eine wissenschaftliche Arbeit gewesen, die er im Auftrage rechtskonservativer Nazi-Gegner (also im Auftrage des in Plötzensee hingerichteten deutschnationalen Widerständlers Friedrich Goerdeler) verfaßt habe.
Hanna Arendt schimpfte ihn... „the Fuehrer of the german jews“ . Dass Hannah Arendt den Rabbiner Beck im englischen Text als „Führer“ schmähte, zeigt den Grad der Erbitterung in dem Streit um die herzzerreißende Frage: Waren solche Leute wie etwa auch der Vorsitzende des Judenrates im Warschauer Ghetto, der Ingenieur Adam Tschernjakow, Kollaborateure der Nazis oder nicht.
Ich kenne dies Problem ganz gut aus dem Poem des Jizchak Katzenelson „Dos Lid funem ojsgehargetn jidischn volk“. Der jiddische Dichter Katzenelson verurteilt in seinem „Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ den Vorsitzenden des Judenrates im Ghetto Warschau als Kollaborateur der Deutschen. Die historischen Dokumente und überlebende Zeitzeugen wie Marcel Reich-Ranicki beweisen indes, dass dieses vernichtende Urteil zwar verständlich, aber dennoch ganz und gar falsch und ungerecht war.
Soweit die Forschung inzwischen weiß - und soweit ich es beurteilen kann - war der Rabbiner Leo Baeck ganz und gar kein jüdischer Hund Hitlers. Im Gegenteil, er war ein Deutscher, der sein Land und seine Kultur liebte und der also doppelt: nämlich als verfolgter Jude und als deutscher Patriot die Nazis haßte und verachtete und der jede Form des Widerstandes wagte, die ihm möglich war.
Verehrte Angela Merkel, ich kann Sie ohne Falsch so nennen, denn es ehrt Sie, dass Sie sich so behutsam und beharrlich einmischen in dem Konflikt der beiden Söhne des Stammvaters Abraham: den Brüdern Ismael und Isaak. Diese Halbbrüder gelten als die Ur-Väter der arabischen Völker und des Volkes der Juden. Seit Jahrtausenden liegen sie im Familien-Streit. Und dieser Bruderkrieg wird länger dauern als wir dauern. Es ist unsere müh-selige und not-wendige und also zuverlässig undankbare Aufgabe, den Juden und den Arabern zu helfen. Wir können mildern, wir sollen vermitteln, aber nicht als Quacksalber der Weltgeschichte Wunderkuren verordnen.
Bei Gelegenheit will ich Ihnen ein neues Lied vorsingen über genau diesen heillosen Familienkrieg im Nahen Osten, da heißt es am Schluß
Roter Mond über Banyuls sur Mer
....
- wir alle sind ja reingezogen in den Krieg
Der beiden Söhne aus dem Samen Abrahams
Couplet
Das sind Tragödien der andern Art
Da hilft kein gut gemeinter Rat
Da hilft kein Treueschwur
Kein frommer Fluch
Kein kluggeschissnes Friedens-Buch
Da hilft kein Aufschrei in der Welt
Kein feige abgedrücktes Geld
(Schon gaanich Biermann seine Gedichte)
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