Jugendkongress 2017 in Frankfurt eröffnet



Rede des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster zur Eröffnung, 2. März 2017

Foto: Gregor Zielke

Zum Auftakt dieses Jugendkongresses möchte ich einfach mal ein paar Namen in den Raum werfen: Bad Sobernheim, Natz, Gatteo a Mare, Bellaria.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand unter den Teilnehmern ist, dem man diese Orte erklären muss. Im Gegenteil. Bei den meisten kommen wahrscheinlich sofort Erinnerungen hoch, wenn sie diese Namen hören.

Es sind die Orte, an denen seit Jahrzehnten die Machanot der ZWST stattfinden. Hunderte jüdische Kinder und Jugendliche haben an diesen Ferienfreizeiten teilgenommen. Allein im vergangenen Jahr waren fast 1.000 Teilnehmer bei den Sommer-Machanot dabei. Und hunderte Kinder und Jugendliche werden in den nächsten Jahrzehnten teilnehmen.

Gemeindevorstände aus dem hohen Norden, sagen wir: aus Pinneberg oder Oldenburg kennen häufig Gemeindevorstände aus Städten wie Freiburg oder Bamberg, weil sie gemeinsam auf Machane waren. Wenn wir uns bei Veranstaltungen häufig wie bei einem großen Familientreffen fühlen, dann liegt das an diesen gemeinsamen Erfahrungen.

Es freut mich daher sehr, dass wir in diesem Jahr beim Jugendkongress der ZWST und des Zentralrats der Juden in Deutschland gemeinsam das 100-jährige Bestehen der Zentralwohlfahrtsstelle feiern können. Gemeinsam – damit meine ich all jene, deren Machane-Zeit doch schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt; jene, die inzwischen als Madrichim mitfahren und jene, die gerade erst ihrer Machane-Zeit entwachsen sind.

Die verschiedenen Generationen sind bewusst auch bei dieser Tagung versammelt. Und wenn die abschließende Podiumsdiskussion provozierend überschrieben ist mit dem Titel „Zurück in die Zukunft. Früher war alles besser!?“, dann müsste ich als Vertreter der älteren Generation selbstverständlich sagen: Ja! Natürlich war früher alles besser.

War es das?

Ich möchte der Podiumsdiskussion am Sonntag nicht vorgreifen. Aber ich möchte ein paar Gedanken dazu einbringen. Denn Jubiläen sind immer ein guter Anlass zurückzublicken und Bilanz zu ziehen.

Wenn ich als Zentralrats-Präsident auf dieses Land und die Situation der jüdischen Gemeinden blicke, könnte ich schnell zu dem Urteil kommen, dass früher alles besser war. Es gab weder die AfD noch Terroranschläge von Islamisten. Es gab kein Internet und damit auch keinen Antisemitismus im Internet. Wir jungen Leute trafen uns noch ganz real in der echten Welt und nicht nur im Chatroom oder auf Whatsapp.

Aber in Wahrheit muss ich sagen: Vieles ist viel besser geworden. Unsere Gemeinden sind viel größer geworden!

Es ist der jüdischen Gemeinschaft gelungen, Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion erfolgreich zu integrieren. Inzwischen dienen unsere Erfahrungen mit der Integration anderen als Vorbild, die heute mit dieser Aufgabe konfrontiert sind.

Mit unseren Gemeinden wuchs auch die jüdische Infrastruktur. Wer hätte denn vor 30 Jahren gedacht, dass wir regelmäßig neue Synagogen einweihen und jüdische Schulen eröffnen?

Wer hätte gedacht, dass es in so vielen Städten jüdische Kulturtage oder Filmfestivals geben würde wie heute?

Unsere Gesellschaft insgesamt ist viel durchlässiger und in vielen Bereichen toleranter geworden. Noch in den 60er Jahren hatte jemand, der sich als jüdisch und schwul bekannte, einen doppelten Makel.

Es gibt viele Errungenschaften, die wir über die Jahrzehnte gewonnen haben. Jetzt müssen wir darauf achten, diese Errungenschaften unserer demokratischen und offenen Gesellschaft auch zu wahren. Denn wir spüren so massiv wie lange nicht: Erschreckend viele Menschen in unserem Land schicken sich gerade an, die Uhr wieder zurückzudrehen. Sie lehnen die Vielfalt in unserem Land ab. Sie hetzen gegen Minderheiten. Sie wollen unser Land spalten. Das dürfen wir nicht mitmachen!

Jeder von uns ist gefordert. Jeder kann seinen kleinen Beitrag leisten für einen respektvolle und solidarische Gesellschaft. Fragen wir uns doch einmal selbstkritisch: Mache ich den Mund auf, wenn auf einer Familienfeier Schwulenwitze erzählt werden? Schreite ich ein, wenn jemand rassistisch beleidigt wird? Was denke ich als erstes, wenn ich eine Gruppe von Sinti und Roma sehe?

Gerade wir Juden wissen, wohin die Ausgrenzung und Diskriminierung einer Gruppe führen kann. Wir sind nicht nur wachsam. Wir werden uns auch immer für andere Minderheiten einsetzen!

Ich bin zuversichtlich, dass die reaktionären Kräfte in unserem Land, die Rechtspopulisten und Rechtsextremisten nicht die Oberhand gewinnen werden. Und diese Zuversicht schöpfe ich daraus, dass Sie hier sitzen, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer!

Sie gehören zu jenen jungen Menschen, die nicht ihren einzigen Lebenssinn darin sehen, die nächste Bestellung bei Amazon zu machen oder auf dem Sofa zu chillen. Sie befassen sich mit politischen Themen, Sie engagieren sich in Ihrer Gemeinde oder an Ihrer Uni, sie spielen nicht einfach Vogel Strauß und stecken den Kopf in den Sand.

Es freut mich daher auch ganz besonders, dass im Rahmen dieses Jugendkongresses die erste Vollversammlung der neuen Jüdischen Studierendenunion stattfindet, die hier am Sonntag ihren ersten Vorstand wählen wird.

Es ist dieses ehrenamtliche Engagement, das wir so dringend in unserer Gesellschaft und in unserer jüdischen Gemeinschaft brauchen. Dieses Engagement erzeugt Wärme. Gerade da wieder ein kälterer Wind durch Deutschland weht, benötigen wir diese Wärme so sehr.

Eine ganz wichtige Unterstützung bei dieser ehrenamtlichen Arbeit leistet die ZWST. Mit ihren Seminaren geht die ZWST auf die Herausforderungen ein, die sich heute in der Gemeinde- und Sozialarbeit stellen. Die ZWST beteiligt sich auch an neuen Projekten wie dem Deutsch-Israelischen Freiwilligendienst. Hier wird eine wertvolle Brücke zwischen den beiden Ländern gebaut. Auch dies ist notwendiger denn je.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass sich junge Menschen freiwillig engagieren, ist nicht selbstverständlich. An dieser Stelle möchte ich Euch allen ganz herzlich dafür danken!

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es kommt eine Lebensphase, da wird es mit dem ehrenamtlichen Engagement wirklich schwierig: Das ist der Lebensabschnitt, in dem man im Beruf Fuß fassen will und - häufig parallel – eine Familie gründet. In dieser Rushhour des Lebens bleibt für anderes nicht viel Zeit.

Doch ich appelliere an euch: Kappt in dieser Zeit nicht alle Verbindungen zu eurer Gemeinde! Behaltet quasi wenigstens einen Fuß in der Tür! Denn für unsere Gemeinden ist selbst ein einfüßiges Engagement hilfreicher und besser als gar keins. Und für euch bedeutet es, ein aktiver Teil der Gemeinschaft zu bleiben. Weiter ein Zuhause in dieser Gemeinschaft zu haben. Das ist ein wichtiger Rückhalt, wenn es im Beruf oder privat einmal nicht so rund läuft. Als Arzt füge ich hinzu: Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, sind im Durchschnitt gesünder als andere Menschen.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, meine sehr geehrten Damen und Herren, im September werden wir das 100-jährige Bestehen der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland mit einem Festakt begehen. Die ZWST leistete mit ihrer Gründung Pionierarbeit. Die Palette ihrer Aufgaben ist größer geworden, vieles hat sich in diesen 100 Jahren verändert. Doch im Kern geht es damals wie heute um das Gleiche: Zedaka. Wohltätigkeit, Hilfe für Bedürftige. Unterstützung für Schwächere. Füreinander da sein.

Zedaka ist eine Mitzwe, die wir gerne erfüllen. Wir schaffen damit einen engen Zusammenhalt in unserer jüdischen Gemeinschaft. Und diese Fürsorge bildet ebenso wie das ehrenamtliche Engagment den Kitt für unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die nicht vom Gegeneinander oder Nebeneinander, sondern vom Miteinander geprägt sein sollte. Der Kitt für ein Land, in dem wir gerne leben.

Ich danke Ihnen!

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