Jüdisches Leben in Deutschland – Ist es gefährdet?



Foto: Thomas Lohnes

Rede von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster bei einer Tagung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 20. Mai 2015 in Berlin

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein und hier einige Worte an Sie richten zu dürfen.

Lieber Herr Minister de Maizière, ich danke Ihnen erst einmal für Ihre unterstützenden Worte. Sie bedeuten uns, der jüdischen Gemeinschaft, sehr viel. Ich weiß, wir wissen, dass wir uns beim Kampf gegen Antisemitismus auf die Bundesregierung und die Unionsfraktion verlassen können.

Alleine, dass Sie diese Tagung hier initiiert und organisiert haben, zeigt, dass es Ihrer Fraktion ein wahres Anliegen ist, das Thema Antisemitismus aufzugreifen und anzugehen. Es zeigt auch, dass Sie die insbesondere seit dem letzten Jahr stärker und häufiger auftretenden Sorgen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ernst nehmen, aber nicht hinnehmen wollen - und dafür danke ich.

Ich gebe aber auch zu, dass ich mir viel lieber gewünscht hätte, dass solch ein Kongress, wie er heute hier stattfindet, gar nicht erst erforderlich gewesen wäre. Denn sich die Frage überhaupt erst stellen zu müssen, ob die eigene Zukunft und die seiner religiösen Gemeinschaft in einem demokratischen Staat, ja in seinem eigenen Heimatland gefährdet ist, verursacht ein doch sehr bedrückendes Gefühl.

Das Thema des heutigen Kongresses trifft also den oder sagen wir einen Puls der Zeit und natürlich die jüdische Gemeinschaft mitten ins Herz. Über jüdisches Leben hierzulande zu sprechen ist in Zeiten, wie wir sie gerade leider europaweit erleben, sicherlich ganz besonders wichtig. In den Gemeinden, in der Politik und in den Medien hat man in den letzten Monaten immer wieder über die Frage der Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland diskutiert und mitunter auch gerätselt, ob eine solche denn überhaupt herzustellen oder gar zu garantieren sei.

„Hat jüdisches Leben in Deutschland überhaupt eine Zukunft? Wie sieht diese Zukunft denn aus? Können wir von einer positiven Zukunft sprechen?“ Auch das hörte man immer wieder. Solche Fragen sind nichts anderes als ein deutlicher Indikator dafür, dass etwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft. Es ist eine Warnung, ja ein Alarmsignal, dass wir alle hören und vor allem ernst nehmen sollten.

Die Unionsfraktion hat mich wohl nicht zuletzt deswegen gebeten, hier einen Vortrag zur aktuellen Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu halten.

Eins möchte ich aber gerne, ohne die Spannung aus meinem Vortrag frühzeitig nehmen zu wollen, vorab sagen: Einen Zweifel an jüdischem Leben in Deutschland gibt es nicht und wird es auch in Zukunft nicht geben!

Ein Fragezeichen am Ende des Satzes „Jüdische Zukunft in Deutschland“ wollen wir, die jüdische Gemeinschaft, und sollten wir, die Gesamtgesellschaft niemals akzeptieren. Am Ende dieses Satzes muss und wird auch in Zukunft ein deutliches Ausrufezeichen stehen. Und dafür müssen wir alle sorgen.

Wohl aber gibt es Bedenken und Sorgen, die man keineswegs tabuisieren darf und die sich gerade in dem letzten Jahr auf fast erschreckende Art und Weise in Teilen der jüdischen Gemeinschaft breit gemacht haben. Sorgen, die wir alle ernst nehmen und daher auch klar benennen müssen: Ein seit Jahren stabiler Wert an latentem und offenen Antisemitismus, der durch Umfragen immer wieder attestiert wird. Die Rede ist von über 20%.

20%, das sind umgerechnet über 16 Millionen Menschen. Dabei sei erwähnt: Die jüdische Gemeinschaft macht hierzulande mit ihren knapp über 100.000 Mitgliedern gerade einmal 0,128% der Gesamtbevölkerung aus. Auch wenn es im Ländervergleich immer heißt, Deutschland schneide gut ab, gerade im Vergleich zu Staaten wie Polen oder Ungarn, so darf uns das nicht beruhigen oder unseren Maßstab ausmachen. Unser Maßstab bei der Bewertung von Antisemitismus muss für immer heißen: Auch nur ein Antisemit ist ein Antisemit zu viel.

Und auch Sie, verehrter Herr Bundesinnenminister zeigten sich besorgt über die neueste, von Ihnen vorgestellte Kriminalstatistik, die besagt, dass die Zahl antisemitischer Übergriffe in Deutschland binnen eines Jahres um 25 Prozent zugenommen hat. Eine Untersuchung der Tel Aviver Universität spricht sogar von einer Verdoppelung antisemitischer Übergriffe im vergangen Jahr.

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sieben Jahrzehnte nach dem größten Menschheitsverbrechen, der Shoa, stehen wir also an einem Punkt, an dem wir wieder über Antisemitismus und die Sicherheit der jüdischen Menschen in Deutschland und Europa sprechen müssen. Und immer wieder stellt sich mir die Frage: Wie konnte Antisemitismus Auschwitz überleben? Wie kann dieser irrationale Judenhass auch noch heute Menschen für sich einnehmen? Im Jahre 2015 ist dies immer noch Thema, was man im Jahre 1945 als für besiegt geglaubt hielt. Es ist bewegend, erschreckend und einfach rational nicht nachzuvollziehen und schon gar nicht zu akzeptieren.

In den letzten Wochen habe ich an vielen Gedenkveranstaltungen an den authentischen Orten anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager und des Ende des 2. Weltkrieges teilgenommen. Diese Orte des Schreckens sind eben nicht nur Alpträume, sondern historische Realitäten und stumme Zeugen davon, was Menschen anderen Menschen antun können. Sie erinnern und mahnen uns, zu was es führen kann, wenn das Böse die Oberhand erhält und viele, viel zu viele es hinnehmen und sogar mitmachen.

Wir haben sechs Millionen jüdische Menschen verloren in der Shoa. Wir haben damit auch eine Zukunft verloren, wie sie hätte sein können, ja wie sie hätte sein sollen. Diese Menschen werden wir immer im Herzen tragen und uns ihrer erinnern, und zwar nicht bloß als Opfer, zu denen sie von den Nazis gemacht wurden, sondern als Menschen. Als Individuen, die sie waren, mit ihren eigenem Wirken und Schaffen. Ihnen sind wir es schuldig, dass wir es heute nicht mehr zulassen, dass sich jemals wieder irgendwo ein jüdischer Mensch unsicher fühlen muss, nur weil er Jude ist.

Das Gedenken an das Geschehene muss uns daher immer am Herzen liegen und sollte daher auch in den Köpfen der Menschen verankert sein. Wie erschreckend ist es doch, dass über 20% der unter 30jährigen mit dem Begriff „Auschwitz“ nichts anfangen können. Wir dürfen es nicht riskieren, dass das Unwissen noch größer wird. Daher plädiere ich dafür, dass jede Schulklasse einmal ein Konzentrationslager oder eine Gedenkstätte besuchen soll. Dies sollte auch für die Ausbildung der Polizisten und Berufssoldaten gelten. Nur so kann eine aufrichtige Sensibilisierung geschaffen werden.

Ich plädiere dafür, dass wir die Zeitzeugen, die wenigen, die es heute noch gibt, einladen und ihnen zuhören. Für sie ist das Geschehene nicht „Geschichte“, für sie ist es ihre Biographie! Eine authentischere Vermittlung dessen, was in Deutschland geschah und von Nazi-Deutschland ausging, werden wir in Zukunft vergeblich suchen und nie mehr finden. Wir müssen es als Privileg empfinden, diesen Menschen noch begegnen zu können, und vor allem sollten wir ihnen ganz genau zuhören, um in Zukunft ihre Stimme zu sein.

Dies gilt übrigens auch für Menschen und Schüler, deren familiäre Biographie nichts mit dem Deutschland der 30er Jahre zu tun hat. Die Menschen, die hier leben, egal welcher Herkunft oder Religion sie angehören, teilen nämlich nicht nur die Zukunft Deutschlands, sondern auch die Vergangenheit. Die Verantwortung aus der Geschichte zu lernen ist universell und gilt daher auch für alle, die hier leben. Ich möchte es explizit betonen: es geht nicht um Schuld, es geht um die Lehren und die Verantwortung daraus, sowie die moralische Verpflichtung, dass so etwas niemals wieder geschehen darf. Deswegen ist gerade die Jugendarbeit von so enormer Bedeutung. Denn es die Jugend von heute, die das Deutschland von morgen gestaltet.

Und es gibt mehr als sechs Millionen gute Gründe, Antisemitismus auf das allerhärteste zu bekämpfen, egal von welcher Seite er kommen mag.

Und ja, es gibt Antisemitismus, wie ich es eben schon erwähnte. Ich möchte hier nichts schönreden. Wir haben es mit rechten Straftaten und Gedankengut zu tun, und wir alle waren und sind Zeuge des neo-faschistischen Windes, der durch viele Länder Europas weht und nicht zuletzt mit dem Erstarken der rechten Parteien im EU-Parlament deutlich wurde.

Von Zeit zu Zeit werden wir auch mit einem linken Antisemitismus konfrontiert, der im Gewand einer vermeintlichen Israel-Kritik daherkommt. Und ein nicht gerade neues Phänomen, aber ein sich immer deutlicher zeigendes ist der Antisemitismus aus der radikal-islamischen Gemeinschaft.

Seit dem letzten Sommer ist der uns Juden nicht unbekannte islamistische Antisemitismus auf ganz widerliche Weise in Erscheinung getreten, in einer Dimension, die wir selbst hier kaum für möglich gehalten haben. Unter den vermeintlich legitimen Deckmantel der Israel-Kritik, wurden auf pro-palästinensischen Demonstrationen antisemitische Parolen skandiert. Rufe wie „Juden ins Gas“ oder „Judenschwein, kämpf allein“ wurden gerufen - auf Straßen in Deutschland. Synagogen waren im Visier von Brandanschlägen, jüdische Menschen wurden auf offener Straße angegriffen. Ein tief brodelnder Judenhass aus fanatischen Teilen der muslimischen Gemeinschaft brach sich Bahn. Und schockierte uns alle. Überraschte er uns auch? Nein, oder vielmehr leider nein. Denn schon seit Jahren haben wir, gerade auch der Zentralrat der Juden in Deutschland, auf den tiefsitzenden Antisemitismus in Teilen der muslimischen Community aufmerksam gemacht.

Eine neue Studie des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin besagt, dass das Ausmaß von antisemitischen, antiisraelischen und antizionistischen Einstellungen und Meinungen unter muslimischen jungen Menschen höher ist als anderswo. Dies ist etwas, dass man nicht aufgrund vermeintlicher political correctness ignorieren darf.

Ganz klar und deutlich möchte ich hier sagen, dass die meisten Muslime sicherlich friedlich ein Miteinander wollen und man durch vereinzelte Teile, die antisemitisch denken und teils agieren, auf gar keinen Fall auf die gesamte muslimische Gemeinschaft schließen darf. Dies wäre falsch und würde unseren muslimischen Freunden großes Unrecht tun. Dennoch heißt es im Umkehrschluss wiederum nicht, dass man diese besagten Teile und den dort tatsächlich herrschenden Antisemitismus nicht benennen darf. Im Gegenteil, man muss ihn benennen und zwar auch von der muslimischen Community selbst.

Wenn wir auf diese Missstände hinweisen, prangern wir – und das möchte ich nochmals explizit hervorheben – niemals die muslimische Mitmenschen oder den Islam an. Wir prangen den dort in Teilen vorzufindenden und geförderten Antisemitismus an – und das ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere Pflicht. Ob man nun von einem „importierten Antisemitismus“ sprechen mag, ist in diesem Falle – bitte sehen Sie es mir nach – für mich zweitrangig. Judenhass bleibt Judenhass, ganz gleich woher und von welcher Seite er kommen mag.

Sicherlich spielt für die Bekämpfung dieses Phänomens, das sich zunehmend auch in Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bemerkbar macht, der Gesamtkontext, wie dieser Antisemitismus vermittelt wird, eine Rolle. Schließlich wird kein Kind mit antisemitischen Vorurteilen geboren. Wenn also, wie in diesen Fällen, der Nahost-Konflikt, dafür verwendet wird, Hass gegen Juden weltweit zu schüren , liegt es auch an den muslimischen Verbänden hier ganz klar diesem „Import“ ein Einreiseverbot zu erteilen. Auch dass antisemitische Serien und Filme zur Hauptsendezeit auf hier empfangenen ausländischen TV-Kanälen gezeigt werden, führen zu Agitationen gegen die jüdische Bevölkerung. Ebenso wird durch das Internet und alle dazugehörigen sozialen Medien dieser irrationale Judenhass weiter befördert. Aber auch wenn Konferenzen in Berlin stattfinden, deren Urheber laut Verfassungsschutz und Berliner Senat der Terrorgruppe Hamas nahestehen, welche wiederum als Ziel die Vernichtung des Staates Israel angibt oder aber auf den „Al-Kuds-Tagen“ „Kindermörder Israel“ geschrien und Davidsterne verbrannt werden, dann fördert dies alles andere als ein Klima der Aufklärung und des friedlichen Miteinanders. Kleine Kinder werden auch hier in Deutschland dadurch indoktriniert mit einem Hass gegen Israel und Juden, welches sie nur zu oft ein Leben lang prägt.

Es ist daher umso wichtiger, gerade junge Menschen gegen solch einen Hass zu immunisieren. Dies schafft man durch Aufklärung und Begegnung. Und hier ist es auch an uns, vorbildliche Multiplikatoren, wie beispielsweise unser Paul-Spiegel-Preisträger, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus zu fördern und zu unterstützen und seitens der Politik ideelle, aber auch finanzielle Hilfe zu garantieren.

Gerade weil es uns als Zentralrat der Juden ein Herzensanliegen war und weiterhin ist, den interreligiösen Dialog auch mit der muslimischen Gemeinschaft fortzuführen und zu festigen, haben wir immer wieder auf diesen Missstand aufmerksam gemacht und um Handeln gebeten. Schöne Reden, die Antisemitismus verurteilen sind gut, aber nicht ausreichend. Hier muss gehandelt werden, ganz entschieden, ganz resolut und deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass der Missbrauch des Islams für antisemitische Propaganda von Muslimen selbst nicht geduldet wird. Und generell, so wie zwischen Juden und Christen auch, sollten nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten im Fokus der Begegnung stehen.

Aber wenn das Wort „Jude“ gerade in Schulen mit einem hohen Anteil an muslimischen Kindern als gängiges Schimpfwort benutzt wird und es keinen mehr interessiert, dann ist nicht nur die Grenze zum Schweigen längst überschritten, dann ist sogar die Grenze zum Reden überschritten. Hier sind Taten gefragt, Worte alleine reichen nicht mehr aus. Und die Verantwortung liegt eben auch bei den Vertretern der muslimischen Community. Sie liegt aber letztendlich bei uns allen: Keinen Antisemitismus akzeptieren, keinen Antisemitismus dulden, denn auch vermeintlich beiläufiger Antisemitismus bleibt purer Judenhass. Und den gilt es mit all unserer Kraft zu bekämpfen.

Und lassen Sie uns doch einmal über unseren Tellerrand hinwegschauen:

Vor zwei Jahren hat die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte jüdische Menschen in Europa zu dem Thema Antisemitismus befragt. Zwei Drittel der Befragten gaben an, Antisemitismus als großes Problem im eigenen Land zu empfinden. Antisemitismus, so muss allen klar sein, ist jedoch nicht nur eine Gefahr für Juden, sondern für uns alle, die die demokratischen Werte leben und verteidigen.

Die neuen Medien spielen bei der Verbreitung von Antisemitismus eine entscheidende Rolle. Freie Meinungsäußerung ist wichtig, aber sie endet dort, wo gegen Minderheiten und Religionen gehetzt wird. Auch hiergegen müsste man strenger und effektiver vorgehen. Die Judenfeindschaft wird im virtuellen Raum transportiert, aber im realen Leben zum Ausdruck gebracht, sei es in rechten Jugendcamps oder aber in islamistischen Moscheen.

Einer neuen Umfrage zufolge der World Zionist Organisation fühlten sich während des Gaza-Krieges 55% der in der Diaspora lebenden Juden nicht mehr sicher. Es gab in den Monaten Juli/August 2014 eine 400% Steigerung antisemitischer Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr in Europa, wie das israelische Ministerium für Diaspora Affairs und Public Diplomacy erst kürzlich veröffentlichte. In Frankreich gab es eine 100% Steigerung der antisemitischen Vorfälle. Die Hälfte aller rassistischen Straftaten dort insgesamt, ist antisemitisch motiviert. Und dabei machen Juden nur gerade einmal 1% der Bevölkerung aus. 7000 Juden aus Frankreich haben im vergangenen Jahr Alijah gemacht, sind also nach Israel eingewandert. Hier kann man zwar nicht von einem Exodus der jüdischen Bevölkerung Europas sprechen, aber immerhin waren es doppelt so viele wie im Vorjahr.

Ich könnte Ihnen leider noch viele weitere Beispiele nennen: Belgien, Schweden, Ungarn, Polen. Und sehr ernst zu nehmen ist dabei, dass vielerorts antisemitische Übergriffe gar nicht erst von den Betroffenen angezeigt werden und es dadurch eine sehr hohe Dunkelziffer gibt.

Was bedarf es noch, um die Menschen aufzurütteln, dass Antisemitismus nicht in den Annalen der Geschichtsbücher versunken ist, sondern präsent ist, auch hier bei uns.

Die fürchterlichen Anschläge in Paris und Kopenhagen waren traurige Höhepunkte von einem immer stärker werdenden Problem. Und dass der fürchterliche Anschlag auf Charlie Hebdo ein Anschlag auf unsere Demokratie und unsere Freiheit war, steht außer Frage. Dass danach Millionen von Menschen aus Solidarität auf die Straße gegangen sind, ist absolut beeindruckend. Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle die Frage: Waren die Anschläge von Toulouse, von Burgas oder Brüssel nicht ebenso Anschläge auf unsere Demokratie und unsere Freiheit? Dort nahm man jüdische Menschen ins Visier alleine aus dem Grund, dass sie jüdisch waren. Ebenso wie bei dem Pariser Anschlag auf den jüdischen Supermarkt. Aber auch diese Anschläge sind und bleiben doch Anschläge auf uns alle. Wo waren die Millionen Menschen, die damals auf die Straße hätten gehen sollen? Wo waren die Tausenden von Menschen, die bei der Demonstration gegen Antisemitismus vor dem Brandenburger Tor hätten dabei sein müssen im vergangenen September? Übrigens organisiert wurde diese Demo vom Zentralrat, also von einer jüdischen Institution selbst, was einem auch zu denken geben muss.

Diese Indifferenz, die wir immer wieder erleben, wenn es um Antisemitismus geht, besorgt mich in der Tat. Und sicherlich, in den letzten Wochen wurde nochmals besonders stark über die Sicherheitslage der jüdischen Gemeinschaft auch hierzulande gesprochen: Wie wünschenswert wäre es doch, wenn eine Kippa oder eine Davidsternkette nicht in bestimmtem Stadtteilen als „Provokation“ empfunden werden würde, die mitunter zu handgreiflichen Übergriffen führen kann.

Wie schön wäre es, wenn jüdische Institutionen, jüdische Kindergärten nicht mehr von Polizisten bewacht werden müssten. Diese absurde Realität ist leider zu unserer jüdischen Normalität geworden, mit der wir uns aber nicht abfinden dürfen und es auch nicht wollen. Sicher, die physische Sicherheit der Juden in Deutschland muss gewährleistet werden. Dies ist Aufgabe der Politik und der Sicherheitsbehörden, aber die emotionale Sicherheit muss aus der Zivilgesellschaft geschaffen werden. Ebenso ist der Kampf gegen Antisemitismus nicht etwa alleinige Sache der Politik oder der Kirchen oder gar der Juden, sondern es ist Aufgabe von uns allen, der demokratischen Gesellschaft in Deutschland.

Einen Appell möchte ich an dieser Stelle aber auch gerade an Sie, die Sie die Politik dieses Landes tagtäglich gestalten, richten: Hören Sie uns, der jüdischen Gemeinschaft, weiterhin zu. Wenn wir auf den Antisemitismus in unserer Gesellschaft aufmerksam machen, dann nicht etwa weil wir sensibel im Sinne der Überempfindlichkeit sind. Nein - wir sind sensibel im Sinne der wachsamen Aufmerksamkeit. Wenn wir Antisemitismus anprangern, dann eben nicht, weil wir übervorsichtig sind, sondern weil wir wortwörtlich vor – sichtig sind und wir durch unsere lange tragische Erfahrung vorausschauendes Übel verhindern wollen. Denn wir tun dies nicht aus Reflex, sondern weil er zu spüren, zu erleben, zu hören und zu greifen ist.

Lassen Sie mich zur aktuellen Ereignissen kurz etwas sagen: Wir feiern dieses Jahr 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Dies ist auch für uns, der jüdischen Gemeinschaft etwas ganz Besonderes. Lieber Herr Kauder, Sie sagten, dass die Tatsachen, dass es Israelis waren, die vor 50 Jahren den Deutschen die Hand austreckten, etwas „unglaubliches, unfassbares und wunderbares“ gewesen sei. Dass diese Beziehung zwischen den beiden Ländern für immer in einer ganz besonderen Weise zueinander stehen werden, steht auch für mich auch außer Frage. Ja, ich glaube, ich bin davon überzeugt, dass diese beiden Länder durch die Vergangenheit auch für immer in der Zukunft miteinander verbunden sein werden. Israel ist und bleibt auch für uns Juden, und zwar weltweit, unser sicherer Hafen, unsere Lebensversicherung. Dass unsere Bundeskanzlerin die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärte, trägt daher auch zur Verantwortung Deutschlands gegenüber der jüdischen Gemeinschaft bei.

Deshalb ist dieses Jubiläum, das die Unionsfraktion in verschiedenen Veranstaltungen gewürdigt hat, für uns alle wichtig. Deutschland und Israel teilen eine Wertegemeinschaft und eine unverbrüchliche Freundschaft. Mit Ups and Downs, die in den besten Familien vorkommen, die diese Familie aber nie auseinander zu reißen vermag – so will ich zumindest hoffen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, sowie die gesamte Bundesregierung, aber auch die Union selbst hat durch Worte und Taten dieser Hoffnung stets weiteren Optimismus verliehen.

Daher: Oft wurde in letzter Zeit über die Auswanderung nach Israel gesprochen: dass Juden ihre Heimatländer verlassen, mag aus zionistischen Gründen oder aus wirtschaftlichen oder aus ganz anderen privaten Gründe, völlig legitim sein. Aber dass Juden ihre Heimatländer verlassen und ich sage bewusst Heimatländer, denn wir sind hier zuhause! - Dass sie diese verlassen aus Angst um ihre Sicherheit – das dürfen wir nicht akzeptieren! Wir dürfen es nicht zulassen, dass sich jüdische Menschen unsicher fühlen, weil sie jüdisch sind. Und glücklicherweise, trotz Bedenken und Sorgen, sind wir in Deutschland auch nicht so weit, dass dies der Fall ist.

„Zusammen sind wir stark“ – so heißt es bekanntlich. Lapidar verwendet im Alltag, trifft jedoch dieser Satz genau die Quintessenz. Gemeinsam im Kampf gegen Antisemitismus. Gemeinsam heißt die Devise. Wir mögen mitunter unterschiedliche Meinungen bei anderen Themen vertreten, aber wir haben ein und das gleiche demokratische Herz, das für Toleranz, Freiheit und Gleichheit schlägt.

Wie gestaltet sich also die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland? Noch nie sind mir so oft Fragen nach dieser Aussicht gestellt worden. Und als Arzt vermag ich Diagnosen und auch Prognosen zu erstellen und eigentlich gilt es wie in der Medizin: Je eher wir die Symptome bekämpfen, desto besser ist die Prognose. Und die Ursachen habe ich vorab zu Genüge diagnostiziert.

Fest steht: Es muss eine Null-Toleranz gegenüber Antisemitismus geben. Denn dieser ist und bleibt mit und durch nichts zu rechtfertigen. Bei rechtsextremen Antisemitismus fängt es bei einem NPD-Verbot an, endet aber nicht dort. Hier muss man weiter gehen und beispielweise auch stärker gegen antisemitische Hetze in rechten Jugendcamps oder der Musikszene vorgehen. Wir dürfen einzelne Orte in Deutschland nicht im braunen Sumpf versinken lassen. Und müssen diejenigen stärken, die dort oft ganz alleine und unter massiver Bedrohung die Flagge der Demokratie und unserer Verfassung aufrechterhalten.

Es muss eine Null-Toleranz gegenüber vermeintlichen Analogien geben, die die Singularität der Shoa abschwächen und sie als Ganzes relativieren. Wenn Israel mit den „Tätern von damals“ oder aber die Palästinenser mit den „Opfern von damals“ verglichen werden, dann geht es weit über eine sachliche Kritik an israelischer Politik hinaus. Gerade auf der linken Seite sollte man hiermit sensibler umgehen.

Und last but not least muss es eine Null-Toleranz gegenüber Antisemitismus aus der muslimischen Community geben. Große Hoffnung lege ich in die Arbeit der unabhängigen Expertenkommission, die vom Bundestag ernannt wurde, in der Identifizierung all dieser Antisemitismusursachen und der Bereitstellung von Bekämpfungsstrategien. Klar aber muss sein, dass es nicht nur bei einem Bericht bleibt, der einen weiteren Ordner inmitten zahlreicherer anderer darstellt, sondern dass die dort herausgearbeiteten Handlungsempfehlungen auch tatsächlich umgesetzt und als effektives Mittel im Kampf gegen Antisemitismus genutzt werden.

Wir, die jüdische Gemeinschaft haben Bedenken, ja, aber wir unterwerfen uns ihnen nicht. Wir sagen: jetzt erst recht. Aber nicht etwa aus Trotz oder um anderen etwas zu beweisen. Nein, wir sagen, jetzt erst recht bauen wir weiter an unserer jüdische Zukunft in Deutschland um unser Willen. Wir resignieren nicht, und wir werden uns auch von niemanden einschüchtern oder verdrängen lassen. Wir wollen unser Potential weiter einbringen und somit die jüdische Identität und jüdisches Leben in Deutschland weiter stärken. Deswegen werden wir auch weiterhin Rabbinerinnen und Rabbiner ordinieren, es wird weiterhin bundesweit jüdische Kulturtage geben, wir werden weiterhin Projekte haben, die Brücken bauen und Freundschaften schaffen.

Wir glauben daran, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht nur Zukunft hat, sondern ein Teil der Zukunft ist! Eine Zukunft, die kulturell bereichernd, kreativ, pluralistisch wirkt – eine diverse Gesellschaft, die im gegenseitigen Respekt miteinander lebt. Ich sage bewusst miteinander lebt - und nicht etwa nebeneinander. Miteinander und füreinander – um unsere Gesellschaft zu formen, um unsere moralischen und demokratischen Werte zu leben, um unsere Welt ein klein bisschen besser zu machen. Das fängt hier bereits an.

Und deswegen sage ich: Jüdische Gemeinschaft in Deutschland - gerade heute, gerade hier!

Vielen Dank!

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