Rede von Dr. Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrates der Juden, anlässlich der Gedenkstunde zum 9. November 2010 in der Paulskirche in Frankfurt am Main
Alle Jahre wieder: Den 9. November begehen, denn: feiern kann man ja doch hier nur sehr schwer sagen, wir Juden und Nicht-Juden in Deutschland, gemeinsam nun inzwischen würdig schon seit Jahrzehnten.
Weshalb eigentlich den 9. November 1938 ?
Juden wurden doch schon vorher in Nazi-Deutschland ausgegrenzt, entrechtet und geächtet. Und die Pogromnacht war ja auch keineswegs der Höhepunkt des Schreckens. Denn erst danach wurden doch die Mordfabriken etabliert und die Massentötungen inszeniert. Aber der 9. November war denn doch eine bis dahin noch nicht dagewesene neue Dimension von Aggression und Vandalismus. Überall in Deutschland. Auch hier in Frankfurt am Main, in unserer Stadt.
Hier wurden in jener Nacht und am nächsten Morgen mehr als 2000 jüdische Männer willkürlich verhaftet, oft brutal aus dem Kreis ihrer Liebsten heraus gerissen, herzzerreißende Szenen spielten sich ab. Sie wurden in die Festhalle, wo heute doch so schöne, fröhliche Konzerte veranstaltet werden, gebracht, und dort mit sadistischer Freude stundenlang gedemütigt und gequält, verlacht und verspottet. Dann wurden sie in offenen LKWs durch die Stadt gekarrt, an der oft hämisch grinsenden, ja: oft auch auf sie spuckenden Menge vorbei. Und das war dann vielleicht doch das Allerschlimmste: Dieser Spießrutenlauf, und dass so viele Menschen offenbar gerne zusahen, wie andere Menschen, die doch oft jahrelang ihre Kameraden, Kollegen, Nachbarn, Freunde gewesen waren, an ihnen vorbei gefahren wurden. Die Männer wurden dann zum Südbahnhof gebracht. Und von dort aus deportiert. Fast alle nach Buchenwald, einige nach Dachau.
Nun, das war damals.
Und heute sehen wir gerade auch an einem solchen Tag, wie sehr sich die jüdische Gemeinschaft inzwischen hier verändert hat - dass sie inzwischen zu 90 % aus Menschen besteht, die erst in den letzen zwanzig Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns gekommen sind. Diese Menschen mögen sich hier gewiss verändern, aber mehr noch, viel mehr, noch verändern sie uns. Wir müssen nunmehr gemeinsam eine ganz neue jüdische Gemeinschaft in Deutschland aufbauen - und sind doch schon längst, längst mittendrin.
Und während wir, die wir hier schon hier waren, den 9. November begehen, der unseren neuen Mitgliedern doch oft so wenig sagt, feiern sie ihrerseits - und hier kann man dann wahrlich von „feiern" sprechen - den 9. Mai, den Tag des Siegs über den Faschismus.
Und: Während wir immer den jüdischen Opferstatus betonten, und das aus guten Gründen, wenn man sich unsere eigenen Familienbiografien ansieht, sehen sich unsere neuen Mitglieder oft ganz anders:
Als Sieger und als Kinder und Enkelkinder von Siegern.
Und das gleichfalls aus guten Gründen.
Wissen muss man dazu: In der Roten Armee, die den Nazi-Faschismus damals unter unsäglichen Opfern besiegte, natürlich gemeinsam mit den Westallierten, kämpften circa 500.000 Juden.
Etwa 200.000 von ihnen fielen im Kampf.
Etwa 160.000 Juden erhielten Orden und Medaillen.
Und mehr als 500 Juden wurden sogar zu „Helden der Sowjetunion" ernannt –was die allerhöchste Auszeichnung bedeutete.
Daran alleine sieht man schon exemplarisch die große Veränderung, die sich vollzieht. Die jüdische Erinnerungs-Kultur in Deutschland verändert sich gerade: Die sehr verschiedenen Familienbiografien werden abzugleichen sein, die bisherige Erinnerung wird gewiss nicht nahtlos ersetzt durch eine ganz andere, aber doch wesentlich erweitert und bereichert.
Und wenn sich nun bei uns nun auch noch zusätzlich und obendrein ein zeitlicher Übergang vollzieht von der Zeitzeugen-Generation zur Nachfahren-Generation, so wäre es dennoch ganz falsch, wenn nunmehr vermutet würde – gelegentlich scheint es sogar fast schon regelrecht herbeigesehnt zu werden - dass in Zukunft die Erinnerung an die Schoah bei uns selbst nachließe. Das wird sie nicht. Wir Juden haben ein viel zu gutes Gedächtnis.
Wir erinnern noch heute an Anlässe, die zum Teil schon zweitausendfünfhundert Jahre und länger zurückliegen. Wie könnten wir selbst dann die Schoah vergessen, die doch erst vor knapp siebzig Jahren Millionen jüdische Menschen verschlang? Daher: An uns, an der Zweiten Generation – und nun zunehmend an der Dritten Generation - ist es doch, nun dafür zu sorgen, dass die wichtige Stafette der Erinnerung weiter getragen wird.
Dabei geht es auch um Gefühle, um ganz große Gefühle sogar: Um Kummer und Leid, um Scham und Schmerz, um Ohnmacht und Verzweiflung, um Trauer und um Tränen – Gefühle pur. Die Schoah – das ist ein ganzes Meer von Tränen, ein Ozean von enormen Emotionen.
Gerade wir, die wir im Schatten des Leids unserer Eltern aufgewachsen sind, mit ihren Träumen und Alpträumen, ihren Brüchen, Verwundungen und Verletzungen, mit ihren gebrochenen Herzen und mit ihren zerbrochenen Seelen – gerade wir werden doch ganz bestimmt kein Vergessen zelebrieren.
WIR WAREN ZWAR NICHT SELBST IN DER SCHOAH. ABER DIE SCHOAH IST DOCH IMMER IN UNS.
Und Doch – und Dennoch und Trotzdem: Die Schoah darf denn doch niemals zu unserer neuen jüdischen Ersatzidentität werden. Denn wir dürfen doch nicht zu Gefangenen und Marionetten unserer eigenen Katastrophen werden. Immer Holocaust-bewusst – und doch nicht immerzu Holocaust-zentriert. Und ja: Wir müssen auch heraus aus der Holocaust-Nische und mitten hinein ins Leben finden.
Auf keinen Fall dürfen wir selbst uns etwa über die Opfer-Rolle definieren. Wir Juden dürfen uns selbst eben nicht reduzieren auf eine düstere Opfergemeinschaft oder auf eine trübsinnige Trauergemeinschaft. Das wäre doch ganz und gar verkehrt.
Vielmehr müssen wir doch unsere eigene Zukunft jetzt selbst gestalten mit den vielen positiven Dimensionen, die das Judentum zu bieten hat, im frischen Geist, mit dem lebendigen SPIRIT von neuer Kraft und erneuerter Zuversicht.
Als Juden in Deutschland und als Zentralrat der Juden, brauchen wir die kluge Kombination von Kontinuität und Wandel.
Und eine Prise, oder: eine Brise von frischem Wind. Es muss ja nicht gleich ein rasender Orkan sein.
Wir müssen uns auch selbstkritisch fragen, ob wir denn wirklich immerzu in der Rolle des chronischen Kritikers verbleiben wollen.
Denn: Wer trotzig in der Dauer-Mecker-Ecke hockt, hat noch selten eine besonders glückliche Figur abgegeben.
Das jüdische Dauer-Abonnement von Warnen und Mahnen und Tadeln und Rügen und Missbilligen müssen wir daher selbst nicht endlos verlängern.
Mehr Kreativität, mehr Phantasie – statt Empörungsrituale.
Munterer Impulsgeber, quicklebendiger Antreiber – statt dröger Dauer-Mahner.
Muss es denn wirklich unbedingt und für alle Zeit zwangsläufig das jüdische Mahnwesen, den jüdischen Mahnsinn geben in Deutschland? Mauern wir uns so denn nicht selbst letztlich ein in einer Ecke, aus der wir kaum noch herauskommen?
Wir dürfen doch ganz bestimmt nicht nur deshalb Juden sein, weil es Antisemiten gibt.
Und wir müssen auch feststellen: Juden werden viel zu oft leider nur wahrgenommen entweder als traurige Opfer von früher oder als lästige Dauermahner von heute. Das kann doch bestimmt nicht in unserem eigenen Interesse sein.
Freilich: Wir setzen uns weiter ein, kämpferisch und energisch und konsequent und mit Feuer und Leidenschaft und Herzblut für all das, was wir für richtig halten - wie wir das alle noch selbst von Ignatz Bubis persönlich gelernt haben.
Niemand möge fürchten, oder gar hoffen, dass unsere Konfliktbereitschaft unterwegs verloren ginge.
Denn eins ist und bleibt wirklich sicher: Die engagierte Stimme des Zentralrats im Land.
Nichts, gar nichts darf sich, nichts wird sich daran ändern.
Und reichlich Konflikte gibt es doch weiterhin.
Wobei gilt: Wir suchen ganz gewiss nicht die Konflikte. Vielmehr suchen, und finden, die Konflikte uns schon – und das viel zu oft.
Nehmen wir etwa unser Verhältnis zur Katholischen Kirche, zum Vatikan, Es hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert. Viele gutwillige Menschen auf allen Seiten haben daran großen Anteil. Ganz besonders der verstorbene Papst, Johannes Paul II. Seine Worte und Taten wärmen unsere Herzen bis heute.
In den allerletzten Jahren gibt es aber leider neue Konflikte. Es gibt sozusagen den düsteren, dissonanten Dreiklang:
Die Wiederzulassung der alten Karfreitagsfürbitte - aus unserer Sicht ein Zeichen von Missachtung und Respektlosigkeit.
Die fatale Re-Exkommunikation der schrecklichen Pius-Brüder, darunter des unsäglichen Holocaust-Leugners Bischof Williamson, ein Konflikt, der noch immer drohend schwebt. Zumal die Pius-Brüder uneinsichtig bleiben und wiederholt ankündigen, nun ihrerseits den Vatikan überzeugen zu wollen von ihren Ansichten, die wirklich fürchterlich sind, fanatisch, fundamentalistisch, strikt und offen judenfeindlich, frauenfeindlich obendrein. Das kann so nicht ewig ungelöst weiter gehen.
Und schließlich: Die offenbar denn doch näher rückende Seligsprechung von Papst Pius XII. , der für uns noch immer der Papst ist, der zu laut und zu kalt schwieg angesichts der Schreie der Schoa.
Dass diese neuen Konflikte ausgerechnet unter dem Pontifikat einen deutschen Papstes entstehen, dessen persönliches Engagement für die Versöhnung völlig unbestreitbar ist, schmerzt uns ganz besonders. Umso wichtiger, dass wir alle uns bemühen, dass neues Vertrauen wachsen kann. Wir jedenfalls sind von Herzen dazu bereit.
Dass die NPD in Deutschland nahezu ungehindert ihr Gift verbreiten kann, dafür noch öffentliche Gelder kassiert und öffentlichen Raum zur Verfügung gestellt bekommt - ist eine Quelle von Schmerz und Schande und einfach niemandem zu vermitteln. Freiheit für die Todfeinde der Freiheit, Steuermittel für die Faschisten - wer soll das denn noch verstehen?
Wir brauchen aber: Statt großes Lamentieren - beherztes Agieren.
Wir brauchen einen kämpferischen demokratischen Staat, der offensiv argumentiert und entschlossen reagiert, einen intelligenten und resoluten Mix aus Information und aus Intervention.
Und ja: Ich bin auch dafür, wieder das NPD-Verbot auf die politische Agenda zu setzen. Das mag schwer sein, zugegeben. Aber gar nichts zu tun und die Faschisten einfach nur machen zu lassen – das erscheint mir noch sehr viel schwerer zu sein.
Das Mullah-Regime in Teheran ist eines der schlimmsten auf der ganzen Welt. Und der dortige Präsident ist der schlimmste Hassprediger und Hetzer in der gesamten internationalen Politik. Wir wissen inzwischen alle, mit wem wir es dort zu tun haben: Das iranische Regime unterdrückt zynisch die eigene Bevölkerung, fälscht systematisch Wahlen, leugnet dreist den Holocaust und tritt die Menschenrechte jeden Tags aufs Neue mit Füßen. Außerdem bedroht es Israel Tag für Tag direkt mit der Auslöschung.
Und: Israel liegt uns im Sinn und am Herzen. Das wird auch immer so sein.
Nun ist das Regime auch noch drauf und dran, sich Atomwaffen zu beschaffen. Wehe uns allen, wenn dieser Alptraum tatsächlich Wirklichkeit würde - die Atombombe in der Hand der fanatischen Mullahs wäre eine massive Bedrohung für uns alle.
Die Politik in Deutschland ist hier engagiert und müht sich nach Kräften, um hier international einiges zu bewegen.
Aber in der deutschen Wirtschaft sieht es leider ganz anders aus:
Denn viel zu viele deutsche Firmen betreiben noch immer eifrig und übereifrig ihre Geschäfte mit diesem Horror-Regime. Geld mögen diese Firmen so verdienen, in Wahrheit verdienen sie dafür aber bloß Schande und Verachtung. Die Geschäfte blühen, während die Moral verkümmert. Diese deutschen Firmen handeln gewinnbesessen und gewissenlos. Diese faktische Komplizenschaft ausgerechnet von deutschen Firmen mit dem amtierenden Weltmeister in Sachen Antisemitismus ist eine Schande und muss ein Ende haben. Wann eigentlich - wenn nicht schon längst?
Und außerdem: Die Wirtschaftsverbände in Deutschland äußern sich gerne häufig und heftig. Das ist ihr gutes Recht. Hier aber schweigen sie nur kühl und kalt. Wo bleibt denn der deutsche Wirtschaftführer, der seinen hier so schamlos handelnden Kollegen einmal ins offenbar zu oft gar nicht vorhandene Gewissen redet?
Und einige Sätze zu den Muslimen im Land.
Darüber zu sprechen ist für einen jüdischen Vertreter heute leider gar nicht so ganz einfach. Dabei setzen wir uns immer resolut für die Freiheitsrechte der muslimischen Menschen ein und wenden uns stets energisch dagegen, wenn wir hier Diskriminierung sehen. (Zuletzt erst vor zwei Monaten, als ein zu Recht höchst umstrittenes Buch publiziert wurde.) Schon Ignatz Bubis selig hat sich entschlossen für die Freiheit der Muslime in Deutschland engagiert - und wir machen das heute, und künftig, nicht weniger konsequent. Ihre Freiheit ist auch unsere Freiheit. Und wer sie bedroht, bedroht auch uns. Und auf keinen Fall dürfen Muslime hier der Herabwürdigung oder der Respektlosigkeit ausgesetzt werden, denn die allermeisten von ihnen – nahezu alle - bereichern uns wirklich und sind auch absolut friedfertig und gesetzestreu - und genießen im Übrigen auch sehr gerne hier die Vorzüge und die Chancen einer liberalen, toleranten Demokratie.
Gerade weil wir das wissen, muss aber auch klar und fordernd gesagt werden: Von den offiziellen muslimischen Communities hier müssen wir erwarten, dass sie endlich und rasch sehr viel offensiver und resoluter gegen Hass und Fanatismus in den eigenen Reihen vorgehen. Vor allem gegen den immer stärker, aggressiver und heftiger werdenden Antisemitismus, speziell unter muslimischen Jugendlichen. Dieses Problem darf nicht mehr einfach tabuisiert, trivialisiert und bagatellisiert werden. Vom Wegsehen ist bisher noch selten ein Problem gelöst worden. Freundliches Fernseh-Lächeln und unverbindliche Statements genügen hier inzwischen schon längst nicht mehr:
Die Verantwortlichen der muslimischen Gemeinden müssen bereit sein, selbst energischer, kämpferischer und auch glaubwürdig in den eigenen Reihen gegen den Hass vorzugehen, selbst wenn und GERADE wenn das nach innen zunächst unpopulär sein mag. Aus dieser Verantwortung dürfen und werden wir sie niemals entlassen. Sie würden mit einem solchen Engagement auch nur an Glaubwürdigkeit und Respekt gewinnen.
Zwischen dem Zentralrat und muslimischen Organisationen gibt es im Moment immerhin Ansätze von Annäherungen. Es sind aber zunächst erste zarte Pflänzchen - bevor daraus ein blühender Garten von Nähe und Freundschaft wird, werden wir noch ein wenig warten müssen und uns gemeinsam noch ordentlich darum zu bemühen haben. Wir wollen das ganz bestimmt.
Bei allen gesellschaftlichen Diskussionen, denen wir uns stellen wollen, müssen wir aber auch unsere eigenen Hausaufgaben machen.
Wir müssen unsere neuen Mitglieder jetzt stärken und werden zugleich von ihnen gestärkt. Wir haben sie doch so sehr gewollt und gebraucht - sie sind für uns ein Segen, ein Glück und Geschenk. Unser Ziel muss es sein, sie auch künftig unbedingt im Judentum zu halten. Wir müssen ihnen daher im neuen Judentum in Deutschland, das wir gemeinsam nun aufbauen, wirklich ein Zuhause bieten, einen ganz festen emotionalen Ankerplatz: ein kraftvolles, ein ganz besonders herzliches Gefühl von Angekommen-Sein.
Wir brauchen hier Felder von Gemeinsamkeit, neue jüdische Nähe, das warme Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, die jeder selbst mit baut und die uns alle gemeinsam auch ein Stück hält und trägt. Wir bauen heute gemeinsam eine neue Gemeinschaft auf, in der unsere neuen Mitglieder auch mehr Gewicht haben müssen, in jeder Hinsicht, nicht nur numerisch und thematisch, sondern natürlich rasch auch politisch und persönlich.
DAS NEUE PLURALE JUDENTUM IN DEUTSCHLAND ist im Wachsen und im Werden. Nun müssen wir dafür sorgen, dass es auch blühen kann.
UND BLÜHEN WIRD ES – MUNTER UND BUNTER.
Die Vielfalt ist inzwischen unsere neue Stärke, freuen wir uns am bunten jüdischen Leben. Im NEUEN PLURALEN Judentum in Deutschland wird dann wohl weniger Goethe und Schiller gelesen als vor der Nazizeit, sondern künftig mehr: Puschkin, Pasternak, Gogol und natürlich auch Tolstoi und Dostojewski. Wäre das denn so schlimm?
Bei allem Engagement in vielen Fragen – wir brauchen aber auch eine neue, positive Perspektive:
Könnte das nicht gerade der Bau des neuen, gemeinsamen, lichtdurchfluteten Hauses von frischer bunter jüdischer Vielfalt sein - gerade und ausgerechnet wieder in Deutschland? Eine Herausforderung, eine wundersame Chance, ein Fenster, das das Schicksal uns unvermutet geöffnet hat.
DIE PLURALITÄT IST DIE NEUE JÜDISCHE NORMALITÄT. Sie macht unser Leben hier zwar manchmal etwas schwieriger und komplizierter. Aber sie bietet uns denn doch eine JAHRHUNDERT-CHANCE. Denn: Sie ist für uns ein Geschenk des Himmels, eine frische Quelle von neuer Lebendigkeit und immenser Bereicherung.
Allerdings: Die Pluralität darf auf gar keinen Fall zur Zersplitterung führen. Die neue Vielfalt darf nicht zur politischen Einfalt werden. Wir dürfen uns nicht selbst aufspalten und uns so politisch selbst atomisieren und marginalisieren. Wir Juden in Deutschland wollen politisch weiter mit einer Stimme sprechen. Bei uns muss politisch zusammen bleiben, was politisch zusammen gehört.
Die Vielfalt wollen wir leben – und das Gemeinsame müssen wir hüten. Die Pluralität wollen wir ausschöpfen – und das Verbindende müssen wir bewahren. Das miteinander, auch angesichts von mitunter temperamentvollen Konflikten und Kollisionen, praktisch in Einklang zu bringen, ist eine spannende Herausforderung, ein gelegentlich nahezu tollkühner Spagat, ja fast sogar schon ein Kunststück.
Die Lebenserfahrung sagt uns zwar: Nicht jedes Kunststück kann gelingen. Wenn es denn aber dennoch glückt – dann ist es um so schöner!
Und daher: Die Einheit des Zentralrats als alleinige politische Vertretung der Juden in Deutschland müssen wir hüten wie einen Augapfel und bewahren – fast unter allen Umständen.
Und bei all dem, was wir auch künftig ganz sicher an Kritischem laut und leidenschaftlich zu sagen haben, wissen wir doch sehr wohl zu schätzen, was sich so positiv bewegt und verändert hat: Das Verständnis für jüdisches Leben ist in Deutschland mittlerweile gehörig gewachsen. Wir treffen inzwischen oft auf so viele offene Ohren und auch auf offene Herzen.
Und es gibt auch ein offenkundiges Missverhältnis zwischen dem, was der Zentralrat oft sagt und meint – und dem, was dann auch öffentlichkeitswirksam wird. Denn: Positive, lobende Stellungnahmen, die es auch gibt, werden in der Regel gar nicht erst transportiert - sie verschwinden zu schnell im schwarzen Bermuda-Dreieck von öffentlichem Desinteresse. Denn: Nur negative Nachrichten haben offenbar einen positiven Marktwert. So besehen sind nur schlechte Nachrichten gute, werthaltige Nachrichten.
Und generell gilt außerdem: JEWS ARE NEWS.
Aus diesem Grund wird der Zentralrat fast immer nur mit kritischen Bemerkungen zitiert. Und je kritischer und je greller und je lauter und je schriller eine Anmerkung ist, um so nachhaltiger findet sie dann in der Öffentlichkeit ein Echo. Manchmal ist aber auch das nötig.
Und bei allen momentanen Dissonanzen, die es auch einmal geben mag, sollten wir auch nicht den Blick für das große Ganze verlieren. Und dazu gehört bestimmt:
JUDEN LEBEN IN DEUTSCHLAND IMMERHIN SCHON SEIT FAST 1700 JAHREN. NOCH NIEMALS IN DIESER LANGEN ZEIT HABEN SIE HIER SO FREI, SO SICHER UND SO GUT LEBEN KÖNNEN WIE GERADE JETZT.
Das wissen wir sehr wohl zu schätzen und zu würdigen. Aber: Nichts ist so gut, als dass es nicht NOCH besser werden könnte.
WIR WOLLEN DEM JUDENTUM IN DEUTSCHLAND EINE FRISCHE PERSPEKTIVE UND EINE STARKE, NEUE ZUKUNFT GEBEN.
Und bei aller Erinnerungsarbeit, die uns weiter und immer natürlich am Herzen liegen wird, bei allem Engagement, das wir auch weiterhin ohne Zweifel leidenschaftlich zeigen werden:
WIR WOLLEN STATT ÜBERKOMMENER KLISCHEES AUCH EIN NEUES, EIN FRISCHES UND MODERNES BILD VON JUDENTUM VERMITTELN.
JUDENTUM BEDEUTET EBEN NICHT NUR IMMER VERFOLGUNG UND ELEND UND KATASTROPHEN, SONDERN AUCH TIEFE, SUBSTANZ, SINN, WISSEN, WERTE, WÄRME, HERZLICHKEIT, TEMPERAMENT, LEIDENSCHAFT, LEBENDIGKEIT, LEBENSLUST UND EINE MUNTER UND MODERN AUSGELEBTE TRADITION - UND DAS ALLES IMMERHIN SCHON SEIT MEHR ALS HUNDERT GENERATIONEN.
MIT VERLAUB: WER KANN DAS DENN SCHON VON SICH BEHAUPTEN?
DAS JUDENTUM VOR ALLEM AUCH ÜBER SEINE VIELEN POSITIVEN INHALTE ZU DEFINIEREN UND ZU PRÄSENTIEREN, DIE SCHÄTZE DES JUDENTUMS ZU HEGEN UND ZU PFLEGEN, SIE WEITER ZU TRAGEN, SIE MIT LEBEN, KRAFT, MIT HERZ UND SEELE UND INHALT UND SUBSTANZ UND MIT ZUKUNFT ZU FÜLLEN – DAS IST EINE GEWALTIGE HERAUSFORDERUNG. ABER AUCH: WAS FÜR EINE GROSSARTIGE, GRANDIOSE CHANCE !
Judentum verfügt über ganz spezielle Stärken. Judentum ist eine religiöse, eine philosophische, eine politische und moralische, eine spirituelle, eine emotionale Kraftquelle ganz besonderer Art. Gerade unseren jungen und neuen Mitgliedern, aber auch allen anderen wohlmeinenden Menschen im Land, wollen wir die Botschaft zu vermitteln:
JUDENTUM IST KEINESWEGS NUR TRÜBE UND TRAURIG, KEINESWEGS NUR FORTWÄHREND MECKERND UND MIESEPETRIG, SONDERN DURCHAUS AUCH FRÖHLICH, HEITER, OPTIMISTISCH, PULSIEREND, SPANNEND, HERZLICH UND IMMERZU BEGEISTERT DEM LEBEN ZUGEWANDT.
Gerade an einem 9. November, an dem wir gemeinsam an die geplante Explosion von Judenhass in Deutschland denken, an den Vorhof der Vernichtung, ist es doch um so schöner, hier eine Rede so beschließen zu können:
Trotz allem - Gerade und ausgerechnet wieder in Deutschland:
JUDENTUM HAT ZUKUNFT –
Und:
JA: JUDENTUM IST AUCH EIN STÜCK ZUKUNFT!
- Es gilt das gesprochene Wort -
JUDENTUM HAT ZUKUNFT - MUNTER UND BUNTER
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