Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, beim Gedenkakt anlässlich des Holocaust-Gedenktags im Hessischen Landtag
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
am Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar werden an vielen Orten in Deutschland Gedenkfeiern abgehalten. Häufig werden zu diesen Gedenkstunden Überlebende der Schoa eingeladen.
Denn der 27. Januar ist ihr Tag. Jene Menschen, die unsäglich unter den Gräueltaten der Nazis gelitten haben, sollten an diesem Tag Gehör und Aufmerksamkeit finden. Sie sollten ebenso im Mittelpunkt wie die Erinnerung an die Millionen ihrer Leidensgenossen, die die Verbrechen nicht überlebt haben.
Es ist ein Privileg, als Nachgeborener Zeitzeugen zuhören zu dürfen. So schwer ihre Berichte zu ertragen sind, so geben sie uns einen so unmittelbaren Eindruck wieder, wie es kein Buch leisten kann. Solche Begegnungen mit Zeitzeugen vergisst man nie wieder.
Elie Wiesel sel. A., der Auschwitz und Buchenwald überlebte und später den Friedensnobelpreis erhielt, hat einmal gesagt:
„Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen werden.“
Dieser Satz hat inzwischen eine besondere Bedeutung gewonnen. Denn die Zahl der Überlebenden ist mittlerweile sehr klein geworden. Und viele sind so hochbetagt, dass sie die Strapaze eines öffentlichen Auftritts nicht mehr auf sich nehmen können. Daher sind auch heute bei dieser Gedenkfeier keine Zeitzeugen unter uns.
In der jüdischen Gemeinschaft betrachten wir es als unsere moralische und religiöse Pflicht, die Erinnerung der Überlebenden zu bewahren und unsererseits weiterzugeben. „Sachor – Erinnere dich“ gehört zu den wichtigsten Geboten im Judentum.
Mehr als 70 Jahre nach der Schoa werden die Kinder und Enkel der Überlebenden – wie Elie Wiesel es gesagt hat – selbst zu Zeugen.
Daher möchte ich Ihnen zu Beginn meiner Rede ein paar persönliche Erfahrungen schildern.
Ich war sechs Jahre alt, als mich mein Vater zum ersten Mal mit nach Dachau nahm. Dort fand die jährliche Gedenkfeier anlässlich des Befreiungstags des Lagers statt. Mein Vater erklärte mir sehr vorsichtig, was hier passiert war. Er zeigte mir Baracke Nummer vier. „Das war meine Baracke“, sagte er mir.
Meine Reaktion damals war eindeutig:
Ich will hier weg!
Ich will hier weg!,
hätte ich immer wieder gesagt, erzählten mir später meine Eltern. Ich selbst erinnere mich daran nicht.
Als Kind wollte ich von diesem unheimlichen Ort weg. Später, als Erwachsener bin ich immer wieder dorthin zurückgekehrt. Bis heute.
Vielleicht habe ich es etwas leichter, als die Kinder anderer Überlebender. Denn mein Vater und mein Großvater hatten sozusagen noch Glück im Unglück.
Sie wurden 1937 verhaftet und im KZ Dachau inhaftiert. Von dort wurden sie nach Buchenwald deportiert.
Da jedoch mein Großvater in Bad Brückenau ein Hotel besaß, das die Nazis gerne zur örtlichen Parteizentrale machen wollten, öffnete sich für meine Familie ein Schlupfloch: Gegen die Zusicherung, dass meine Großeltern, mein Vater und seine Schwestern nach Palästina auswandern durften, traten sie ihren Grundbesitz an die Nazis ab, wurden freigelassen und emigrierten.
Meine Mutter und ihre Schwester wurden von ihren Eltern gerade noch rechtzeitig auf den Weg nach Palästina gebracht. Sie selbst schafften die Flucht nicht mehr. Meine Großeltern mütterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
für die sogenannte zweite Generation, aber auch für die dritte Generation ist diese Zeugenschaft mitunter auch belastend. Manche Kinder von Überlebenden haben unter den Traumata ihrer Eltern gelitten, unter dem bleiernen Schweigen in der Familie. Häufig gewinnen erst die Enkel einen Zugang zu den Überlebenden. Erst der größere Abstand macht es möglich, über das Unsägliche zu sprechen.
Schon allein deshalb wäre das Schlechteste, was wir tun könnten, einen Schlussstrich zu ziehen. Die nationalsozialistische Vergangenheit mit ihren monströsen Verbrechen ist nicht vergangen. Sie reicht bis in unsere Gegenwart hinein.
Was wird in den Familien weitergegeben? Welche Traumata gilt es aufzuarbeiten? Diese Fragen stellen sich auf der Opfer- und auf der Täterseite. Sie stellen sich bis heute.
Und ebenso stellt sich die Frage: Wie können wir die Erinnerung wachhalten - trotz des größeren zeitlichen Abstands zum Geschehen und auch angesichts der veränderten Strukturen in unserer Gesellschaft?
In Deutschland hat sich über die Jahrzehnte eine beeindruckende Erinnerungskultur herausgebildet. Es gilt, Errungenschaften dieser Kultur zu bewahren und zugleich neue Wege zu beschreiten.
Eine ganz wichtige Voraussetzung dafür – und das liegt mir wirklich am Herzen – ist ein profundes Wissen über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Schoa.
Das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald, in dem mein Vater und Großvater eingesperrt waren, ist nur rund 300 Kilometer von hier entfernt. Dort wurden in der Zeit des Nationalsozialismus etwa 56.000 Menschen ermordet. Inzwischen besuchen jährlich knapp eine halbe Million Menschen aus aller Welt die Gedenkstätte, die sich vor allem auch um eine intensive pädagogische Arbeit mit jüngeren Leuten bemüht.
Das Leitmotiv der Gedenkstätte lautet: „Gedenken braucht Wissen und gegenwartsrelevante Reflexion“.
Wie vermitteln wir den jüngeren Generationen dieses Wissen? Und wie ist es um ihr Wissen bestellt?
Hier kommt Schulen und Gedenkstätten eine Schlüsselposition zu. Daher lassen Sie mich auf beide Bereiche etwas intensiver eingehen.
In den Schulen sehen sich die Lehrer einer immer heterogeneren Schülerschaft gegenüber. Sie steigen in das Unterrichtsthema Holocaust ein – und finden sich plötzlich mitten in einer Debatte über den Nahost-Konflikt wieder. Dies geschieht in Klassen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler nicht selten. Die Tatsache, dass in vielen Schulbüchern der Nahostkonflikt mit einer merkwürdigen Einseitigkeit zugunsten der Palästinenser dargestellt wird, macht es für Lehrer nicht leichter.
Umso wichtiger ist es, das Judentum mit seiner ganzen Geschichte und Kultur zu zeigen, und Juden nicht nur als Opfer darzustellen. Nur wenn Schüler zum Beispiel wissen, welche Bedeutung jüdische Wissenschaftler, Künstler und Schauspieler in Deutschland hatten, wie stark die deutsche Kultur über Jahrhunderte vom Judentum geprägt wurde oder wenn sie etwas über jüdische Schtetl in Osteuropa erfahren, dann können sie ermessen, welche Dimension die Vernichtung des europäischen Judentums hatte.
Daher darf sich die Befassung mit dem Judentum in der Schule auf keinen Fall nur auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beschränken. Es gibt nicht wenige Menschen in Deutschland, die entweder denken, nach 1945 gab es überhaupt keine Juden mehr in Deutschland. Oder die die Zahl der heute in Deutschland lebenden Juden auf mehrere Millionen schätzen.
Hier existieren immense Wissenslücken. Der Zentralrat der Juden hat daher gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz im Dezember 2016 eine Erklärung verabschiedet, um die Vermittlung der jüdischen Kultur und Geschichte im Schulunterricht zu verbessern. Derzeit bereiten Fachleute auf beiden Seiten Materialien zu einer kommentierten Sammlung auf, um Lehrern damit Hilfestellung zu leisten für eine realistische und nicht klischeehafte Vermittlung des Judentums. Bei einer gemeinsamen Fachkonferenz im April in Berlin sollen diese Materialien präsentiert werden.
Darüber hinaus setzen wir auch auf direkte Begegnungen, um das Wissen über das Judentum zu vergrößern. Wir haben das Projekt „Likrat – Jugend und Dialog“ wiederbelebt. Dafür haben wir im vergangenen Jahr rund 40 jüdische Jugendliche ausgebildet, die jeweils zu zweit in Schulklassen gehen, um Fragen zum Judentum zu beantworten. Und zwar auf Augenhöhe, unter Gleichaltrigen. Auch diese Begegnungen führen dazu, dass einerseits das Judentum nicht nur auf die Schoa reduziert wird, andererseits das moderne jüdische Leben anschaulicher vermittelt werden kann als über ein Schulbuch.
Noch sind wir nicht so weit, dass wir flächendeckend in ganz Deutschland solche Begegnungen anbieten können, aber auch in diesem Jahr werden wir weitere Jugendliche ausbilden, so dass wir nach und nach in immer mehr Schulen gehen können.
Gerade in einer Migrationsgesellschaft möchten wir so dazu beitragen, Vorurteile abzubauen. Zugleich möchten wir die Lehrer nicht allein lassen. Die Forderung, Antisemitismus zu bekämpfen, ist leicht ausgesprochen. Aber schwer umzusetzen.
Die direkte Begegnung und ein fundierter Schulunterricht zwei wichtige Bausteine der Wissensvermittlung über das Judentum und die deutsche Geschichte.
Einen dritten Baustein bilden meines Erachtens die authentischen Orte der NS-Verbrechen. Derzeit haben wir in Deutschland eine lebhafte Debatte über Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten.
Ich selbst plädiere seit langem dafür, dass alle Schüler der höheren Klassen, und zwar unabhängig von der Schulart, einmal in ihrer Schulzeit eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten. In Bayern ist dies mittlerweile entsprechend in die Lehrpläne aufgenommen worden.
Mir ist bewusst, dass dafür gewisse Voraussetzungen geschaffen werden müssen: Lehrern muss auch Zeit eingeräumt werden, solche Besuche gut vor- und nachzubereiten. Um die Fahrten zu Gedenkstätten zu finanzieren, bedarf es ausreichender Zuschüsse der Länder. Und schließlich benötigen die Gedenkstätten mehr Personal und zum Teil eine bessere Infrastruktur, um mehr Besuchergruppen betreuen zu können.
Wenig Verständnis habe ich jedoch dafür, wenn mir von allen Ecken nur entgegenschallt, warum solche Pflichtbesuche nicht gehen. Können die zuständigen Minister in den Ländern und die Gedenkstätten nicht zunächst einmal prüfen, wie es gehen könnte? Könnten wir nicht erst einmal in Pilotprojekten Erfahrungen sammeln, bevor wir Nein sagen?
Das gleiche gilt für Gedenkstätten-Besuche von Asylbewerbern. Ich bin davon überzeugt, dass dies in den Integrationskursen einen wichtigen Beitrag dazu leisten könnte, den neu bei uns lebenden Menschen unsere Sicht auf die Nazi-Vergangenheit und unsere Werte nahezubringen.
Warum sollte ein Flüchtling, der selbst Krieg und Verfolgung, den Verlust der Heimat erlebt hat, nicht in der Lage sein zu erkennen, wohin Judenhass und Verfolgung geführt haben?
Kritiker wenden ein, dass ein solcher Besuch zu einer Retraumatisierung der Flüchtlinge führen könnte. Diesen Einwand nehme ich ernst. Sicherlich kann es Fälle geben, in denen ein Gedenkstättenbesuch nicht der richtige Weg ist. Muss das aber bedeuten, dass dies generell für sämtliche Integrationskurse abzulehnen ist?
Ich appelliere an alle politisch Verantwortlichen, den Mut zu haben, hier neue Wege zu beschreiten. Letztlich geht es dabei nicht nur um den Wunsch, die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten, sondern um Artikel eins unseres Grundgesetzes. Die Achtung der Menschenwürde und ihre Unverletzlichkeit wurden nie so sehr mit Füßen getreten wie in der Schoa. Wem das eindrücklich vor Augen geführt wurde, wer dies in Buchenwald oder in Auschwitz plötzlich begreift – der wird auch heute für die Menschenwürde kämpfen.
Und das muss unser Ziel sein!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich habe die Schlüsselposition der Schulen und Gedenkstätten genannt. Daneben brauchen wir natürlich auch die Forschung und Wissenschaft. Gerade hier in Hessen haben Sie mit dem Fritz-Bauer-Institut und dem Jüdischen Museum Frankfurt zwei herausragende Institutionen auf diesem Gebiet. Vorreiter sind Sie auch mit dem bundesweit ersten Lehrstuhl für die Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität in Frankfurt. Erwähnen möchte ich daneben die Stiftungsprofessur für Holocaust-Literatur an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Debatten, wie wir unsere Erinnerungskultur weiterentwickeln, werden an den Universitäten und in den anderen genannten Institutionen längst geführt.
Auf zwei Aspekte möchte ich näher eingehen: Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft und Erinnerungskultur in der Internet-Gesellschaft.
Ich hatte bereits erwähnt, dass sich in den Schulen die Themen Schoa und Nahostkonflikt gerne vermischen. Wie die Kinder es von ihren Eltern oder in einigen arabischen Fernsehsendern hören, setzen sie die heutige israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit der Schoa gleich oder versuchen eine Täter-Opfer-Umkehr.
Die Antisemitismus-Forscherin Juliane Wetzel geht davon aus, dass die Jugendlichen genau wissen, welch hohen Stellenwert das Gedenken an die Opfer der Schoa in Deutschland genießt. Jugendliche mit Migrationshintergrund setzten ihre eigenen Erfahrungen als Opfer von Flucht und Verfolgung oder die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern mit der Judenverfolgung in der NS-Zeit gleich, sagt Juliane Wetzel. Damit strebten sie danach, gleichermaßen anerkannt zu werden.
Anstatt solche Vergleiche einfach entrüstet abzuwehren, können Lehrer versuchen, genau über diese familiären Erfahrungen der Kinder das Interesse an der NS-Zeit zu wecken.
Der Soziologe Harald Welzer spricht in diesem Zusammenhang von einer „transnationalen Erinnerungskultur“. Nationale Geschichtsbilder hingegen würden ihre integrierende Kraft verlieren.
Zugleich dürfen die Pädagogen an bestimmten Stellen nicht wanken. Wenn aktuelle Themen in Bezug zur Schoa gesetzt werden, muss der jeweilige Kontext immer deutlich bleiben. Denn nur so kann vermieden werden, dass die Vergleiche in eine Gleichsetzung münden, die die Schoa verharmlosen.
Daneben müssen Lehrer antisemitischen Vorurteilen, die ihre Schüler transportieren, entschieden entgegentreten. Das ist nicht leicht bei Schülern, die sich ohnehin schon als Außenseiter der Gesellschaft fühlen und sich in einer Verweigerungshaltung befinden. Doch bei Antisemitismus darf es keine Toleranz geben!
Die Herausforderungen einer modernen Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft hat der Schriftsteller Navid Kermani jüngst in einer großartigen Rede zum 20-jährigen Bestehen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München sehr treffend beschrieben.
Ich zitiere:
„Man braucht Einwanderer oder ihre Kinder und Kindeskinder nicht als erinnerungspolitischen Störfall zu behandeln. Die Frage, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleibt, wenn die biographischen Bezüge fehlen, stellt sich ebenso, wenn diese Bezüge sich allmählich auflösen, wie wenn es sie nie gab. (…) Schwieriger zu vermitteln wird es künftigen Deutschen sein, Auschwitz nicht nur als Menschheitsverbrechen, sondern als eigene Geschichte zu begreifen (…).“
Zitat-Ende
Auschwitz als eigene Geschichte zu begreifen. Sich als Teil der Verantwortungsgemeinschaft zu sehen – das muss in Deutschland unser Ziel für die nachfolgenden Generationen bleiben, egal wo die familiären Wurzeln liegen.
Der zweite Aspekt, meine Damen und Herren, den ich näher beleuchten möchte, ist die Erinnerungskultur in der Internetgesellschaft.
Jüngere Menschen sind heute ganz anders geprägt als noch vor 20 Jahren. Durch das Internet, die sozialen Netzwerke und mobilen Endgeräte wie Smartphone oder Tablet werden sie sehr viel stärker als früher von visuellen Eindrücken geleitet. Also, in einer KZ-Gedenkstätte zu stehen, wo außer Mauerfundamenten von den Baracken nichts mehr zu sehen ist und nur eine Tafel darauf hinweist, was hier einmal stand – das erreicht viele junge Leute nicht mehr. Sie brauchen wohl noch stärker als frühere Generationen eine andere – wenn ich mal so sagen darf – Aufbereitung der Vergangenheit.
Sie lässt sich ansprechen von Fotos und Filmen, von computeranimierten Rekonstruktionen eines Lagers oder Bildern einer 360-Grad-Kamera.
Auf diese Entwicklungen haben die Gedenkstätten längst reagiert. Sie stehen vor einem Spagat, wie es jüngst der Leiter der niederländischen Gedenkstätte Westerbork, Dirk Mulder, in der „Jüdischen Allgemeinen“ beschrieben hat: „Wie macht man das Grauen anschaulich, ohne in Disneyisierung abzugleiten?“
So wird in Westerbork gerade eine der Baracken des damaligen Flüchtlingslagers rekonstruiert. 1971 war eigentlich die letzte der alten Baracken abgerissen worden. Eine weitere stand in Teilen noch bei einem Bauern, der sie als Scheune nutzte. Er schenkte sie der Gedenkstätte, die jetzt diese Baracke so rekonstruiert, dass sich die Besucher besser vorstellen können, wie das Lager einst aussah. Eine Rekonstruktion, aber kein Disneyland – das ist der Spagat, den die Gedenkstätte leisten will.
In der KZ-Gedenkstätte Dachau wird moderne Computertechnik genutzt, um die Geschichte anschaulicher darzustellen und damit zugleich den Bedürfnissen der Besucher stärker entgegenzukommen. An zwei Medienterminals lassen sich interaktiv die unterschiedlichen Bebauungsarten des Geländes direkt miteinander vergleichen. Lagepläne können quasi übereinander geschoben werden, so dass die Besucher sich besser vorstellen können, was einmal wo stand und wie Gebäude genutzt wurden.
Die Gedenkstätte Auschwitz reagiert ebenfalls auf geänderte Gewohnheiten und versucht, mit einem, wie man so sagt, niedrigschwelligen Angebot auf die Menschen zuzugehen: In einer Wanderausstellung quer durch Europa und Nordamerika werden seit Ende vergangenen Jahres 600 Original-Exponate aus dem Vernichtungslager gezeigt.
Viele Gedenkstätten setzen auch auf Begegnungsprojekte für junge Menschen. So finden zum Beispiel in Buchenwald jedes Jahr internationale Sommercamps statt. Die jungen Leute aus verschiedenen Ländern arbeiten zwei Wochen lang im Archiv und an einem Gedenkweg mit Namen der Opfer. Am Abend fangen die Mitarbeiter der Gedenkstätte in langen Gesprächen die Fragen auf, die die jungen Leute beschäftigen. Es sind auch Trauer, Wut und Fassungslosigkeit, die ihren Platz finden müssen.
Ich könnte Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, wohl aus jeder KZ-Gedenkstätte, die es heute noch gibt, ähnliche Beispiele aufzählen. Es ist eine großartige Arbeit, die an diesen Orten geleistet wird.
Zu begrüßen wäre auch, wenn die neue Regierungskoalition das Gedenkstättenkonzept des Bundes von 2008 weiterentwickeln würde, wie es die große Koalition bereits geplant, aber leider nicht umgesetzt hatte. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hatte 2015 bereits die Richtung aufgezeigt, in die auch meiner Meinung nach die Neukonzeption gehen müsste:
Ich zitiere:
„So erscheint es (…) unabweisbar, dass es (…) künftig verstärkt auch um die Entwicklung neuer didaktischer Konzepte und um eine Stärkung der Gedenkstättenpädagogik gehen muss. Dies folgt aus den großen didaktischen Herausforderungen, vor denen eine zukunftszugewandte Gedenkstättenarbeit steht. Der wachsenden zeitlichen Distanz zum Nationalsozialismus, der ethnisch und religiös zunehmend heterogenen Zusammensetzung der Besuchergruppen und einer wieder wachsenden Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft bis hin zu antisemitischen Haltungen gilt es, mit neuen pädagogischen Konzepten Rechnung zu tragen.“
Zitat-Ende
Übersehen dürfen wir dabei allerdings auf keinen Fall: Diese Arbeit kostet Geld. Ausstellungen immer wieder neu zu konzipieren, neues Archivmaterial zu prüfen, neue Mitarbeiter zu schulen, Gebäude in Stand zu halten, Projekte wie solche Internationalen Begegnungen in Buchenwald – für all diese Dinge müssen die Gedenkstätten mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden.
Für die beiden Medienterminals zum Beispiel in der Gedenkstätte Dachau, die ich eben erwähnte, wurden rund 75.000 Euro investiert. Die Mitarbeiter haben drei Jahre an dem Projekt gearbeitet.
Wir können viele warme Worte finden über die Bedeutung des Gedenkens und eine moderne Erinnerungskultur – das bleibt ohne Wirkung, wenn die Gedenkstätten ihre Ideen schlicht mangels Geld nicht umsetzen können.
Dies sollte bitte auch bedacht werden, wenn über den Ausbau von Täter-Orten wie dem Museum auf dem Obersalzberg nachgedacht wird. Eine kluge Gestaltung dieser schwierigen Orte ist wichtig. Unsere Prioritäten sollten aber – auch finanziell – auf den Stätten liegen, wo wir der Opfer gedenken und wo Hunderttausende Menschen gelitten haben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
am Internationalen Holocaust-Gedenktag steht für mich die Erinnerung im Vordergrund. Deshalb bin ich so ausführlich auf die Fragen einer modernen Erinnerungskultur eingegangen und auf die Rolle der Gedenkstätten.
Ich möchte aber auch ein paar Worte verlieren zu aktuellen Ereignissen und dem wachsenden Antisemitismus, den die jüdische Gemeinschaft verspürt. Und ich tue dies auch um der Überlebenden willen.
Können Sie sich vorstellen, wie es auf einen Menschen wirkt, der Auschwitz überlebt hat, und sich heute sagen lassen muss, wir sollten stolz sein auf die Leistungen der deutschen Soldaten in beiden Weltkriegen?
Oder wie sich ein 84-jähriger Holocaust-Überlebender fühlt, der einem MDR-Fernsehteam am Leipziger Synagogen-Denkmal seine Geschichte erzählt und dabei von zwei Neonazis angepöbelt wird?
Ich beobachte seit einiger Zeit mit großer Sorge, dass in unserem Land zunehmend rote Linien überschritten werden. In den sozialen Netzwerken gibt es häufig überhaupt keine Hemmungen mehr, sich rassistisch oder antisemitisch zu äußern. Daher begrüße ich das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Es erntet viel Kritik. Das weiß ich. Doch selbst wenn einzelne Details nachgebessert werden müssen, so war es höchste Zeit, die Plattform-Betreiber endlich in die Verantwortung zu nehmen!
Die Enthemmung im Internet bekommen auch immer häufiger ausgerechnet jene Menschen zu spüren, die politische Ämter ausfüllen, die also bereit sind, sich für unsere Demokratie zu engagieren. Gerade in kleinen Gemeinden werden Bürgermeister mittlerweile so häufig bedroht, dass der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert, „Politiker-Stalking“ als Straftatbestand einzuführen.
Die verbalen Enthemmungen gehen auch mit Enthemmungen auf der Straße einher. Im vergangenen Jahr gab es im Schnitt täglich vier Attacken auf Flüchtlinge.
Auch antisemitische Pöbeleien, judenfeindliche Gesten sowie direkte Attacken auf Synagogen, jüdische Friedhöfe und Juden selbst gehören leider zum Alltag.
Erst jüngst haben wir wieder bei Demonstrationen im Nachgang zur Jerusalem-Entscheidung von US-Präsident Trump sehen können, wie schnell sich Menschen aktivieren lassen, um ihre Ressentiments auszuleben. Es ist gut, dass der Bundestag mit breiter Mehrheit einen umfassenden Antrag zur Bekämpfung des Antisemitismus verabschiedet hat. Im Berliner Abgeordnetenhaus wird über einen CDU-Antrag für eine Bundesratsinitiative beraten, um das Verbrennen von Flaggen unter Strafe zu stellen. Hier existiert meines Erachtens eine Lücke im Versammlungsrecht, die dringend geschlossen werden sollte. Wer Fahnen oder religiöse Symbole verbrennt, zeigt seine Verachtung. Mit Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun.
Gerade weil die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit hohe Güter unserer Verfassung sind, haben wir die Aufgabe, darauf zu achten, dass diese Güter nicht missbraucht werden.
Bei den eben genannten Demonstrationen nach der Jerusalem-Entscheidung trat eine Form des Antisemitismus zutage, die wir mitnichten nur bei Migranten mit arabischem Hintergrund erleben, sondern bis in die bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft: es ist der Israel-bezogene Antisemitismus.
Dieser Antisemitismus zeichnet sich durch eine völlig überzogene Kritik an Israel und den Juden als Ganzes aus. Dabei werden ausgerechnet von Deutschen an Israel schärfere Maßstäbe angelegt als an andere Staaten. Israel wird allein in der Rolle des Täters gesehen, die Palästinenser ausschließlich als Opfer. Viele Deutsche halten es daher auch für legitim, israelische Waren zu boykottieren. Gerne wird auch der Gaza-Streifen mit einem Ghetto verglichen.
Vielen Menschen scheint nicht bewusst zu sein, wie stark sie mit alten antisemitischen Vorurteilen hantieren oder dass sie Juden pauschal abwerten oder beschuldigen. In manchen Diskussionen brechen diese alten judenfeindlichen Bilder geradezu aus den Menschen heraus – weil sie dort eben seit Jahrzehnten schlummerten.
Leider beobachten wir diese Einseitigkeit gegenüber Israel auch häufig in den Medien. Ob es nun die Dokumentation über Israel-bezogenen Antisemitismus von Arte und WDR war, die nur mit einem sogenannten Faktencheck versehen und begleitet von einer Talkshow ausgestrahlt wurde. Oder ob es Nachrichtenstücke sind, die ausführlich eine israelische Militäraktion im Gaza-Streifen zeigen, aber die Ursache – nämlich den Raketenbeschuss israelischer Städte durch die Hamas – nur ganz am Rande erwähnen. Stets wird Israel in eine Position gebracht, sich rechtfertigen zu müssen. Die palästinensische Seite nie.
Diese Haltung gegenüber Israel macht mir Sorgen. Sie sollte der ganzen Gesellschaft Sorgen machen.
Und ebenso dürfen wir, meine Damen und Herren, die Bedrohung durch Rechtsextremisten nicht aus dem Auge verlieren. Die meisten antisemitischen Straftaten werden nach wie vor Rechtsextremisten zugerechnet. Juden gehören wie Muslime zu ihrem festen Feindbild. Ebenso schüren gerade Rechtsextremisten den Hass auf Politiker und auf unser politisches System. Über das Internet gelingt es ihnen viel leichter als früher, Menschen zu gewinnen, die ihren Hass verbreiten.
Und die Zahl der Rechtsextremisten wächst.
Beobachter der Szene sehen im Übrigen deutliche Schnittmengen zwischen der NPD und der AfD. Mit der „Alternative für Deutschland“ haben wir erstmals in dieser Größenordnung eine rechtspopulistische Partei im Bundestag sitzen. Sie ist auch in fast allen Länderparlamenten vertreten. Dort fällt sie zum Beispiel durch Anträge auf, Zuschüsse zu Fahrten von Schulklassen in KZ-Gedenkstätten zu streichen. Auf leider sehr geschickte Weise versucht die AfD schleichend, den Konsens aufzulösen, den es jahrzehntelang in der Bundesrepublik gab: Dazu gehört die intensive Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In unserem Selbstverständnis stehen die NS-Zeit, der Erste Weltkrieg und zum Beispiel die Befreiungskriege eben nicht auf einer Stufe.
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat es einmal so ausgedrückt: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Genau an diesen Grundfesten rüttelt nach meiner Einschätzung die AfD.
Und dass sie dafür so viel Zustimmung bekommt – auch das sorgt in der jüdischen Gemeinschaft für eine tiefe Beunruhigung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist an uns, den heute Lebenden, die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten und die richtigen Lehren aus diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen. Es ist auch an uns, den vielen Opfern ihren Namen zurückzugeben, soweit das heute noch möglich ist. Dies geschieht überall im Land durch die Stolpersteine. Dies geschieht aber auch durch große und wichtige Institutionen wie Yad Vashem in Jerusalem oder durch die Jewish Claims Conference.
Erst vor wenigen Monaten gab es genau hier in Hessen eine wunderbare Geschichte, die uns zeigt, wieviel noch immer zu tun bleibt, und die zugleich deutlich macht, wieviel wir erreichen können, wenn wir in Europa und mit Israel zusammenarbeiten:
Die Geschichte beginnt mit einem israelisch-polnischen Archäologen-Team, das seit zehn Jahren in Sobibor arbeitet, am Ort eines der grausamsten Vernichtungslager der Nazis. Dieses Team fand vor einiger Zeit bei Ausgrabungen ein kleines silbernes Amulett. Darauf ein Geburtsdatum, der Name Frankfurt am Main und eine hebräischen Inschrift. Solche Anhänger wurden gerne zur Geburt verschenkt. Sie fanden heraus, dass an dem Datum, dem 3. Juli 1929 nur ein jüdisches Mädchen in Frankfurt geboren wurde: Karolina Cohn.
Mit Hilfe von Yad Vashem und der Claims Conference begann die Forschung nach der Familie. Schließlich gelang es, Nachfahren in den USA, in Israel, in Italien, Großbritannien und Japan ausfindig zu machen.
Im vergangenen November wurden in Frankfurt vier Stolpersteine für die Familie Cohn verlegt. Einige Angehörige waren eigens angereist. Manche hatten bis dahin von ihren jüdischen Wurzeln gar nichts gewusst.
Meine Damen und Herren,
heute gedenken wir der kleinen Karolina Cohn.
Wir gedenken ihrer Eltern Else und Richard Cohn sowie ihrer Schwester Gitta.
Wir gedenken der rund 15.000 deportierten Juden aus Hessen,
der etwa 15.000 Euthanasie-Opfer von Hadamar
und der tausenden weiteren Opfer aus Hessen.
Und wir gedenken der sechs Millionen Opfer der Schoa, die unsäglich gelitten haben, die gequält und misshandelt und ermordet wurden.
Ich danke Ihnen!