Grußwort von Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden bei der Abschlussveranstaltung der Ausstellung: „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“, 11.10.15, Schweich
Anrede,
es ist mir eine ganz besondere Freude heute hier in Schweich unter Ihnen sein zu können. Ein Termin sozusagen auf „heimischem Terrain“ ist immer ein ganz besonders erfreulicher Termin.
Aber auch aus einem anderen Grunde freue ich mich heute hier zu sein, denn diese Ausstellung mit dem Titel „Deine Anne – ein Mädchen schreibt Geschichte“ liegt mir schon allein aufgrund ihres pädagogisch-didaktischen Konzeptes „Jugendliche begleiten Jugendliche“ ganz besonders am Herzen.
Mit diesem Konzept, das junge Menschen zu engagierten Expertinnen und Experten ausbildet, gelingt, was im Fachjargon häufig als „Holocaust-Education“ gefasst wird, auf exzellente und äußerst glaubwürdige Weise. In unzähligen Fachkonferenzen wird immer wieder diskutiert, wie man in der heutigen Zeit jungen Menschen die Geschehnisse während der Zeit des Nationalsozialismus nahe bringen kann.
Und zwar einerseits, ohne Überdruss und damit letztlich Abwehr zu erzeugen, und andererseits, ohne mit erhobenem Zeigefinger vor den Schülerinnen und Schülern zu stehen, die dann passiv „zu schlucken“ haben, was ihnen „vorgesetzt“ wird.
Hinzu kommt die auch künftig relevante Frage, wie man in einer Gesellschaft mit einem wachsenden Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, die Schoa so vermitteln kann, dass sich auch Schülerinnen und Schüler davon angesprochen fühlen, deren ursprüngliche Heimat nicht in Deutschland gewesen ist.
Dies wird angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen im Hinblick auf die Flüchtlingsbewegungen und der damit verbundenen Zuwanderung nach Deutschland auch in Zukunft ein elementar wichtiges Thema sein.
Der verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel sel. A., hat es einmal so formuliert:
Es geht darum, den Staffelstab der Erinnerung an die kommenden Generationen weiterzugeben.
Angesichts der Tatsache, dass die wenigen Überlebenden der Schoa zunehmend aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr als ansprechbare Zeitzeugen zur Verfügung stehen werden, müssen andere, neue Wege gefunden werden, die Erinnerung an die unsagbaren Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes und seiner Helfershelfer lebendig zu halten.
Dies muss in einer Weise geschehen, die für die junge Generation attraktiv ist – die es erlaubt, dass Jugendliche ihre eigenen Zugänge zum Thema finden und begreifen, dass die Erfahrungen aus dem Gestern auch etwas mit ihrem Leben hier und heute zu tun haben.
Die Auseinandersetzung mit dem Leben und Schicksal der Anne Frank bietet sich hierzu auf herausragende Weise an, denn Anne Frank ist weder eine „Ikone des Holocaust“, sie ist auch kein „Mahnmal gegen das Vergessen“.
Sie ist auch nicht nur Opfer, sondern eben auch ein ganz normales junges jüdisches Mädchen. Durch ihr Tagebuch ist sie erfahrbar, als ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein junges jüdisches Mädchen, das sich mit sich selbst und seiner Umgebung auf außergewöhnliche Weise auseinandersetzt.
Hier spricht eine Jugendliche auf Augenhöhe zu anderen Jugendlichen und baut damit eine Brücke zu all den jungen Menschen, die sich heute in Deutschland, Europa und der Welt aktiv mit sich selbst und der Geschichte beschäftigen.
In der Auseinandersetzung mit Anne Frank und ihrem Schicksal entspinnt sich ein Gespräch über zeitlose Menschheitsfragen, über Religion, Werte, Ethik, das Zusammenleben von Menschen – auch unterschiedlicher Herkunft in einer pluralen Gesellschaft.
Ein Gespräch über den Begriff der Heimat und darüber, wer zu unserer Gesellschaft gehört und wer nicht.
Es beginnt ein Gespräch über das, was unsere aufgeklärte Gesellschaft bedroht: Über Antisemitismus, Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Über die schleichende Abwertung und Diskriminierung des Anderen. Aber auch über die Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, wie Respekt, Toleranz, Demokratie und Menschenrechte.
Ein Gespräch auch über die Bedeutung des Dialoges der Religionen. Ein Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam – der durchaus nicht in allen Gesellschaften zur Selbstverständlichkeit gehört!
Ein Gespräch auch über die Gestaltbarkeit unserer Welt sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit zu Handeln.
Kaum jemand hat sich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wohl nicht irgendwann einmal die Frage gestellt, wie er oder sie sich damals verhalten hätten. Eine Frage, die letztlich dazu führt – und das ist das Wichtige - wie wir uns heute verhalten – ohne damit aktuelle Probleme, wie Flucht, Asyl oder Genozid mit der Schoa gleichzusetzen.
Probleme bei deren Lösung meiner Ansicht nach dem Dialog der Religionen eine ganz wichtige Rolle zukommen wird – und dies gilt ohne, dass man die Menschen, die zu uns kommen, auf ihre Religion – bzw. den Islam reduzieren sollte.
Deutschland, Europa und die Welt stehen angesichts der vielen Menschen, die sich vor allem aus Syrien zu uns auf den Weg machen, vor einer großen Herausforderung. Kaum ein Thema bewegt uns derzeit mehr als die Frage, wie wir all den Menschen, die aus ihrer Heimat vor Terror, Unterdrückung, Krieg, Gewalt und großer Not geflohen sind, wirksam helfen können.
Beinahe täglich erreichen uns erschütternde Meldungen über Hunderte von ertrunkenen Flüchtlingen. Und niemand spricht über all die unbekannten Toten, die niemals gefunden werden. Das Meer wird zum namenlosen Massengrab für Hunderttausende.
Wie Europa – wie Deutschland hierauf reagiert, ist die Frage unserer Zeit. Und eines Tages werden wir vielleicht kommende Generationen, die auf unsere Zeit zurückblicken werden, Rede und Antwort für unsere heutigen Entscheidungen stehen müssen.
Was ich damit sagen will ist, dass jede Generation die Antworten auf die Fragen ihrer Zeit finden muss. Eine Generation, die gelernt hat, dass Geschichte nicht einfach von selbst „passiert“, dass man Einfluss nehmen kann und vielleicht auch muss, eine Generation, die sich selbst und ihrer Werte bewusst ist, eine solche Generation wird für alle kommenden Herausforderungen gut gewappnet sein.
Wenn sich junge Menschen wie ihr hier heute, ihrer Identität gewiss sind, dann sind sie auch fähig zum Gespräch mit dem Anderen – zu einem wahrhaften Dialog. So können Jugendliche durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit wachsen, gemeinsam Antworten auf die Fragen unserer Zeit suchen und finden.
Wir erleben derzeit in Deutschland eine unvorstellbare Welle der Hilfsbereitschaft. Die Zivilgesellschaft engagiert sich in einem Maße für die Flüchtlinge, das wohl kaum einer vorhergesagt hätte. Das ist wunderbar und verdient höchste Anerkennung!
Auch die jüdische Gemeinschaft engagiert sich für die Flüchtlinge, soweit es in ihren Kräften steht. Dennoch ist es wichtig, dass wir gemeinsam darauf achten, dass die anstehenden Aufgaben, die solch eine Zuwanderung auch mit sich bringt, bewältigbar bleiben und die Lasten gleichmäßig verteilt werden. Europa darf nicht nur eine „Schönwetter-Gemeinschaft“ sein, sondern muss auch zusammenstehen, wenn gemeinsame Aufgaben zu schultern sind.
Auch wenn es schon jetzt kaum zu bezweifeln ist, dass die Flüchtlinge unsere Gesellschaften nachhaltig verändern werden, so müssen wir gemeinsam Prämissen haben, die dieses neue Zusammenleben regeln.
Diese Prämisse ist und bleibt unser Grundgesetz.
Das Grundgesetz, das entstanden ist als Reaktion auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus.
Meine Damen und Herren, es ist nicht selbstverständlich, dass nach dem Krieg wieder in Deutschland jüdisches Leben, wie wir es heute beinahe schon selbstverständlich finden, wieder aufgebaut wurde. Heute leben schätzungsweise 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Viele kommen in jüngster Zeit aus Israel und leben und arbeiten hauptsächlich in Berlin. Innerhalb des Zentralrats sind 108 Jüdische Gemeinden in Deutschland organisiert, es gibt zahlreiche Synagogen, Mikwen, jüdische Kulturfestivals, Gemeindezentren, jüdische Kindergärten und Schulen und vieles mehr.
Das alles ist Ausdruck eines großen Vertrauens, das die jüdische Gemeinschaft in Deutschland in ein demokratisches und rechtsstaatlich verfasstes Deutschland auf dem Boden des Grundgesetzes gesetzt hat und setzt. Dieses Vertrauen besteht trotz eines immer wieder aufflammenden Rechtsextremismus und wie man nach den Erfahrungen aus dem NSU-Prozess sagen muss, auch eines Rechtsterrorismus in Deutschland.
Es besteht auch fort nach den Erfahrungen aus dem Sommer 2014, als muslimische Jugendliche in mehreren deutschen Städten Sprüche wie „Juden ins Gas“ und andere Abscheulichkeiten skandierten. Es besteht auch fort trotz der Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Brüssel, Kopenhagen und Paris.
Dennoch ist nicht vergessen, dass die Reaktion der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft weit hinter den Erwartungen zurückblieb.
Antisemitismus – ob er von Rechtsextremisten, Salafisten, muslimischen Jugendlichen oder aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft kommt, muss von uns allen gesellschaftlich geächtet sein.
Hier gilt: „Null-Toleranz“ und „Wehret den Anfängen“. Für Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darf es weder jetzt noch in Zukunft Akzeptanz in Deutschland geben.
Deshalb gehören in Deutschland neben den grundgesetzlich verankerten Werten, ebenso die Ablehnung jeglicher Form von Antisemitismus und die Sicherheit Israels zur Staatsraison.
Diese Agenda gilt es nicht nur im täglichen Zusammenleben in Deutschland umzusetzen, sie gilt und muss auch für alle gelten, die zu uns kommen, insbesondere, wenn sie aus Gesellschaften kommen, deren politisches Klima von Antisemitismus und Feindschaft gegen Israel geprägt ist.
Liebe Schülerinnen und Schüler, junge Menschen, die wie ihr eine so großartige Arbeit in der Auseinandersetzung mit „Anne Frank“ geleistet habt und nun zu Expertinnen und Experten geworden seid, ihr seid für diese großen Herausforderungen bestens gewappnet.
Und dies gilt nicht nur für euch persönlich, sondern auch an all jene, an die ihr euer Wissen weitergegeben habt und weitergeben werdet.
Ihr gebt den Staffelstab der Erinnerung in bestem Sinne weiter, und das ist gut zu wissen.
Ihr habt Verantwortung übernommen, ihr habt viel erfahren über Geschichte, über Zivilcourage und was es bedeutet, gesellschaftlich aktiv zu sein – zu handeln.
Ich bin mir sicher, das waren für euch aufregende und intensive Tage, die ihr nicht so schnell vergessen werdet. Und ich hoffe, ihr bleibt in diesem Sinne auch nach Beendigung der Ausstellung aktiv und bringt euch ein. Egal, ob ihr zu Anne Frank-Botschafterinnen werdet und eigene Projektideen verwirklichen werdet oder euch anderweitig engagiert.
Meine Damen und Herren, ich habe gehört, dass weit über 30 Schulklassen und 13 andere Gruppen durch die Ausstellung geführt worden sind. Das sind insgesamt 829 Personen – dazu kommen noch über 500 Personen, die die Ausstellung als Einzelpersonen besucht haben.
Ein großartiger Erfolg und eine tolle Leistung, insbesondere der 28 Peer Guides, die sich im Rahmen der Ausstellung engagiert und eingebracht haben.
Euch ganz besonders gilt mein Dank und meine Anerkennung! Ihr habt Großartiges geleistet!
Ich bin sicher, Anne Frank wäre so begeistert, wie ich es bin!
Herzlichen Dank aber auch an alle, die zu dieser gelungenen Ausstellung und diesem wunderbaren Erfolg beigetragen haben.
"Gemeinsam Antworten auf die Fragen unserer Zeit suchen"
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