Gedenkveranstaltung 9. November



Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen 1938, Würzburg, 9. November 2022

Anrede,
wir erinnern am 9. November an die Novemberpogrome des Jahres 1938. An die von SA und SS orchestrierten Anschläge auf
Synagogen, jüdische Geschäfte, ja, Jüdinnen und Juden selbst. Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt –
Schutzhaft hieß das –, hunderte in der Folge dieser Tage ermordet. Juden waren vor diesem Tag in Deutschland bereits
rechtlich ausgegrenzt durch die Nürnberger Rassengesetze, nach dem „gesellschaftlichen Tod“ des 9. November 1938, wie es der
Historiker Peter Longerich nannte, blieb als letzte Stufe der antisemitischen Eskalation nur noch die physische Vernichtung.
Der 9. November 1938 war der letzte Test der Willfährigkeit der Deutschen, die lange schon die Augen davor verschlossen hatten,
was den Juden in diesem Land angetan wurde. Er führte direkt in die Schoa. Dieser Tag ist damit der folgenreichste und schlimmste
Tag der deutschen Geschichte. Wenn ich dieser Tage die Bilder brennender Flüchtlingsunterkünfte sehe, die Hakenkreuzschmierereien an
Schulen und anderswo, dann habe ich das Gefühl, dass diese Gewissheit nicht häufig genug betont werden kann. Wir müssen
sie immer wieder aufs Neue verteidigen. Und, meine Damen und Herren, ich bin angesichts dieser Vorkommnisse natürlich in großer Sorge, dass wir einen Winter
vor uns haben, in dem sich das gesellschaftliche Klima merklich verändert. Denn, diese Angriffe sind ja nicht zusammenhangslos:

- Der Krieg in der Ukraine stellt unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe.
- Inflation und steigende Energiepreise fordern gerade diejenigen, die ohnehin schon Monat für Monat schwer zu kämpfen haben.
- Und weiterhin sind die Folgen der Corona-Pandemie auf unser Zusammenleben schwer abzusehen. Unsicherheit war schon immer ein Nährboden für radikales
Denken, für vereinfachende Ideologie und einen Hass, der sich gegen alles richtet, das als anders wahrgenommen wird. Auch  Jüdinnen und Juden sind in diesen Zeiten besonders häufig Opfer
von Angriffen und Beleidigungen – sie müssen als Sündenböcke herhalten. Laut den aktuellen Zahlen der Bundesregierung finden immer noch täglich fünf antisemitische Straftaten statt.
Meine Damen und Herren, für mich ist es ganz gleich, woher die Menschen kommen, die in den brennenden Flüchtlingsunterkünften leben oder leben sollten. Ob es Menschen aus der Ukraine sind, zu denen die jüdische Gemeinschaft natürlich eine ganz enge Verbindung besitzt; oder
ob die Menschen vor dem Krieg in Syrien fliehen, vor der Verfolgung in Afghanistan oder dem Iran oder, ob sie aus Afrika kommen, von wo sie vor Bürgerkrieg und Hungersnot bei uns Zuflucht suchen. Ein Mensch ist ein Mensch, meine Damen und Herren.

Glücklicherweise kam bei den jüngsten Angriffen und mutmaßlichen Anschlägen noch niemand ernsthaft zu Schaden,
aber wir wissen, das kann nur eine Frage der Zeit sein. Wir dürfen als Gesellschaft hier nicht wegschauen und das einfach so hinnehmen. Die Erinnerung an den 9. November 1938 und seine
Folgen darf uns nicht nur heute beschäftigen, sondern sie muss uns jeden Tag im Jahr bewusst sein und leiten, natürlich ohne
dass sie uns lähmt. Die Bundesrepublik Deutschland hat in beeindruckender und kaum vergleichbarer Art und Weise eine politische Kultur geprägt, die aus dem Abgrund deutscher Geschichte, der Barbarei der Nazis, ein positives Selbstbewusstsein für ein demokratisches Miteinander entwickelt hat. Das war nicht immer einfach und wird
es auch in Zukunft nicht sein, aber ich bin der Meinung, es ist dennoch ganz gut gelungen. Meine Damen und Herren, wir sollten also nicht nachlässig
werden, wenn es dieser Tage heißt, die Deutschen hätten auch ein „Recht zu vergessen“ oder der unsägliche Begriff einer „Holocaust-Kultur“ verwendet wird. Glauben Sie mir, was
manchen lästig erscheint, ist die Last, die vor allem Jüdinnen und Juden zu tragen haben. Es gibt keine Kongruenz in der Erinnerung. Wir – die jüdische
Gemeinschaft – trauern um unsere Toten. Um sechs Millionen Menschen, um jedes einzelne Familienmitglied. Diese Last kann auch nicht geteilt werden, sie soll es nicht. Aber es gibt etwas, das
heißt Empathie. Und damit diese entstehen kann, braucht es Respekt. Respekt vor denjenigen, die diese Last tragen müssen. Sie haben heute diesen Respekt erwiesen und Empathie gezeigt, hier an diesem besonderen Ort, der für die Erinnerung an den 9. November 1938 so wichtig ist. Dafür bin ich Ihnen von Herzen
dankbar!

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