In wenigen Tagen, genauer gesagt am 9. November, werde ich gegen Abend in meiner Heimatstadt Würzburg am Platz der ehemaligen Hauptsynagoge stehen. Nicht nur ich werde dort stehen. Der Würzburger Oberbürgermeister und viele Würzburger Bürger – Alte und Junge – werden sich dort versammeln, um der Opfer der Pogromnacht von 1938 zu gedenken. Und um diese Erinnerung als Mahnung für heute zu wahren.
Als Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken halte ich dort seit Jahren am 9. November eine Rede. Jetzt könnte der eine oder andere von Ihnen sicherlich ergänzen, wo er oder sie immer am 9.-November-Gedenken teilnimmt oder redet.
Aber vielleicht geht jemandem hier im Saal auch durch den Kopf: Oh, wie langweilig. Immer die gleichen Gedenktage. Immer die gleichen Reden. Das ist doch alles ein leeres Ritual. Das bringt doch gar nichts.
Es ist jedem unbenommen, so zu denken. Und es ist gut und richtig, dass wir unsere Gedenkkultur immer wieder kritisch reflektieren.
Daher bin ich auch sehr froh, dass diese Tagung unserer Bildungsabteilung gemeinsam mit ELES und dem Jüdischen Museum Frankfurt stattfindet und auf so viel Interesse stößt. Ich danke allen, die diese Tagung organisiert haben!
Es gibt immer wieder Kritik an den jährlichen Gedenkfeiern. Doch ich will mich heute Abend outen: Ich bin ein Fan von Gedenkfeiern, von Ritualen. Ich pflege sie gerne und aus Überzeugung. Nun könnten Sie einwenden: Gut, er ist Präsident des Zentralrats der Juden und Gemeindevorsitzender – er kann ja gar nicht anders. Notgedrungen muss er ja ständig an den üblichen Gedenkfeiern teilnehmen. Dann muss er öffentlich so reden.
Nein, muss ich nicht. Und wenn ich etwa am 27. Januar bei der Gedenkfeier im Bundestag auf der Besuchertribüne sitze, dann bin ich dort auch nicht notgedrungen, sondern weil ich teilnehmen möchte.
Warum sind diese festen Gedenktage und Rituale so wichtig?
Das hat jemand in Worte gefasst, der das viel besser kann als ich, der Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, der anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Lehrstuhls für jüdische Geschichte in München eine großartige Rede gehalten hat. Ich zitiere:
„Das kulturelle Gedächtnis braucht Rituale, Mahnmale, Jahrestage, wiederkehrende Bilder und, ja, auch sprachliche Floskeln, um sich zu bilden, zu bewahren und zu entwickeln. Seiner Natur nach tendiert das zeremonielle Gedenken zur Wiederholung und Formelhaftigkeit. Es ruft durch Zeichen eine Erinnerung wach.“
Diese Sätze von Navid Kermani kann ich nur unterstreichen. Wer bei Gedenkfeiern am 9. November Zeitzeugen gehört hat oder die endlose Namenslesung der Schoa-Opfer in Berlin oder München erlebt hat, der wird nie mehr den 9. November für ein x-beliebiges Datum halten oder nur an den Mauerfall denken. Es bildet sich ein kulturelles Gedächtnis durch solche Gedenkstunden.
Die festen Gedenktage haben für mich noch eine weitere Funktion: Sie veranlassen uns, innezuhalten. Innezuhalten in unseren Alltagsgeschäften. Innezuhalten im normalen politischen Betrieb.
Anstatt uns ständig nur mit unseren eigenen Befindlichkeiten und denen unserer Zeitgenossen auseinanderzusetzen, werfen wir einen Blick zurück und führen uns die schlimmsten Menschheitsverbrechen vor Augen, die je verübt wurden. Und mit diesem Blick zurück verändert sich auch unser Blick auf Heute und auf Morgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte hier weder einen Fachvortrag halten noch der Tagung vorgreifen. Auf eine Besonderheit in der jüdischen Gedenkkultur möchte ich aber noch kurz eingehen. In der jüdischen Gemeinschaft hat die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion für eine erhebliche Veränderung der jüdischen Erinnerungskultur gesorgt.
Denn unsere Zuwanderer kamen und kommen mit dem Selbstbewusstsein der Roten Armee, die Hitler-Deutschland befreit hat. Unter ihnen sind tatsächlich einige, die direkt an der Befreiung von Konzentrationslagern beteiligt waren. Und selbst wenn viele Familienangehörige in der Schoa ermordet wurden, sehen sie sich als Sieger. Sie feiern am 9. Mai den Tag des Sieges.
Das hat zu Beginn in den jüdischen Gemeinden durchaus für Irritationen gesorgt. Doch inzwischen ist daraus so etwas wie ein heilsamer Prozess geworden. Solche Perspektivwechsel erweitern den Horizont. Das tut auch in der Gedenkkultur gut.
Mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg müssen wir in Deutschland – ob nun jüdisch oder nicht-jüdisch – ohnehin debattieren, wie wir die Erinnerung an die Schoa auch bei jüngeren Menschen wachhalten können. Gedenken spielt sich heute auch in den sozialen Netzwerken ab. Junge Leute drücken ihre Gefühle nach einem Auschwitz-Besuch auf der Facebook-Seite der Gedenkstätte aus.
Ist das deshalb oberflächlicher oder schlechter als früher? Das wäre in meinen Augen der falsche Schluss. Erinnerungskultur darf nicht dem Zeitgeist unterliegen. Aber unser Gedenken wird sich immer wieder neue Wege suchen. Dafür sollten wir offen sein. Darüber lohnt es sich zu debattieren.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende, ruhig manchmal auch streitbare, in jedem Fall aber fruchtbringende Tagung!
Ich danke Ihnen!