„Festival der neuen Vielfalt“



Foto: Margrit Schmidt
Foto: Rafael Herlich
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240 Teilnehmer aus ganz Deutschland beim Gemeindetag 2012

Das Fazit fiel rundum zufrieden aus: „Der Gemeindetag war ein Fest mit Sinn und ein Fest für die Sinne", sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann, in seiner Rede am Sonntag. Für drei Tage hatte der Zentralrat der Juden rund 240 Mitglieder aus allen jüdischen Gemeinden in Deutschland nach Hamburg zum Gemeindetag unter dem Motto „One People, one Community" eingeladen – um sich auszutauschen, gemeinsam zu beten und gemeinsam zu feiern.
Dr. Graumann sieht im Gemeindetag, der künftig jährlich stattfinden soll, eine Ergänzung zur Ratsversammlung, die einmal im Jahr tagt. Dort sei wegen der festen Satzung nicht genügend Freiraum für Kommunikation und Vernetzung. Den Wunsch nach mehr Austausch, den viele Gemeindemitglieder ausgesprochen hätten, komme der Zentralrat mit dem Gemeindetag nach. „Kommunikation total ist angesagt", so der Zentralrats-Präsident.
Die Teilnehmer nutzten die Gelegenheit. Sie waren mit regem Interesse und dem Herzen dabei. Am Freitag ging es zur Einstimmung mit Führungen durch das jüdische Hamburg los. Mit Beginn des Schabbats wurde es feierlich: Landesrabbiner Shlomo Bistritzky leitete den G'ttesdienst in der Synagoge Hohe Weide, untermalt vom wunderbaren A-Cappella-Gesang der New Yorker Gruppe „Six 13". Beim anschließenden Gemeindeabend im Curio-Haus gab es dann viel Zeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
In vier Workshops wurde am Samstag leidenschaftlich diskutiert. Die Publizisten Sergey Lagodinsky und Alan Posener, der Nahost-Experte Michael Spaney und der Unterstützer der israelisch-iranischen Facebook-Kampagne „Iranians, we love you – Israelis, we love you", Oren Osterer, stellten sich den schwierigen Fragen des drohenden Konflikts zwischen Israel und dem Iran. Einigkeit herrschte auf dem Podium, dass der Iran die Atombombe anstrebe. Auch, dass Israel in Deutschland zu wenig geliebt werde, war Konsens. Die Diskutanten teilten darüber hinaus die Sorge, es könne im Nahen Osten zu einer Ausbreitung von Atomwaffen kommen, wenn Iran über eine Atombombe verfüge. Dann würden Staaten wie etwa Saudi-Arabien nachziehen.
Viel gelacht wurde hingegen beim Workshop „Kunst, Kultur und Kippa - junge jüdische Künstler in Deutschland". Kein Wunder, schließlich saßen die Comedians Avi und David Toubiana auf dem Podium. Doch auch die Schriftstellerin Adriana Alteras sorgte mit pointierten Bemerkungen immer wieder für Gelächter. Gleichwohl ging es um ernsthafte Fragen: Soll sich ein Künstler überhaupt als jüdisch „outen"? Besteht die Gefahr, dass die Zugehörigkeit zum Judentum instrumentalisiert wird? Auch die Filmemacherin Tanja Grinberg, der Regisseur Leo Khasin („Kaddisch für einen Freund") und der Schriftsteller Benjamin Stein („Die Leinwand") berichteten von ihren Erfahrungen.
Der Schweizer Unternehmensberater Thomas Zweifel, Autor des Buches „Der Rabbi und der CEO. Was Führungskräfte von den Zehn Geboten lernen können", verblüffte die Zuhörer mit seiner aktuellen Übersetzung der Zehn Gebote für Manager und Führungskräfte. Schwierigen Fragen der jüdischen Identität hatte sich der vierte Workshop zu stellen. Fünf Rabbiner und der Erziehungswissenschaftler Prof. Doron Kiesel versuchten sich an Antworten. Was bringt die Menschen in die Synagoge? Ist das Vorbild der Eltern entscheidend oder liegt es am Rabbiner? Über zahlreiche Aspekte diskutierten Moshe Baumel, künftiger Gemeinderabbiner in Osnabrück, der Vizepräsident der Ronald S. Lauder-Stiftung, Rabbiner Josh Spinner, der neue Mainzer Rabbiner Julien Chaim Soussan, der niedersächsische Landesrabbiner Jonah Sievers und die liberale Rabbinerin von Frankfurt am Main, Elisa Klapheck.
Im Anschluss an die Workshops berichtete der Präsident des Russian Jewish Congress, Yuri Kanner, über die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Russland. Auch über Formen der Zusammenarbeit von jüdischen Gemeinden in Deutschland und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurde diskutiert.
Am späten Samstagabend ging der Schabbat zu Ende – dann hieß es: Bühne frei für die Berliner Sängerin Sharon Brauner. Von frech über romantisch bis pop-rockig präsentierte sie einen Reigen an bekannten Liedern – so dass es einige Teilnehmer des Gemeindetags nicht auf den Stühlen hielt.
Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister Hamburgs, drückte in seiner Gastrede am Sonntag die Hoffnung aus, dass vom Gemeindetag zukunftsweisende Impulse ausgehen mögen. „Die Diskussion um den unverzichtbaren Platz, den jüdisches Leben, jüdische Kultur und Religion in der deutschen Gesellschaft wieder einnehmen, lohnt zweifellos auch den weitesten Weg", sagte Scholz. Er freue sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sich jüdisches Leben in all seinen Facetten als Teil der Gesellschaft darstelle.
Auch Zentralratspräsident Dr. Graumann sprach die vielen Facetten des Judentums an. Der Gemeindetag sei ein „Festival der neuen Vielfalt" im Judentum gewesen. „Der neue jüdische Spirit wird uns tragen", betonte er. „Der Gemeindetag ist eine Investition in unseren Gestaltungswillen und unsere Gestaltungsmacht, die sich lohnt."
Daneben ging Dr. Graumann in seiner Rede auf zahlreiche aktuelle politische Themen ein. Der Zentralrat wolle sich nicht auf die „Rolle des Dauermeckerers fixieren". Aber wenn politische Debatten es erforderten, Position zu beziehen, „dann engagieren wir uns mit Feuereifer", sagte Dr. Graumann unter Applaus. Er verurteilte erneut das anti-israelische Gedicht von Günter Grass und die antisemitischen Tendenzen in der Piraten-Partei. Ebenso bedauerte er, dass ein NPD-Verbot „wieder in weite Ferne gerückt ist". Die Weigerung des Internationalen Olympischen Komitees, bei den Sommerspielen in diesem Jahr in London eine Schweigeminute für die vor 40 Jahren beim Attentat getöteten israelischen Olympioniken abzuhalten, kritisierte Dr. Graumann ebenfalls scharf.
Vor allem aber widmete sich Dr. Graumann dem Besuch einer Delegation des Deutschen Fußball Bundes (DFB) in der Gedenkstätte Auschwitz. Es sei schön gewesen, dass die Spieler dort gewesen seien. Er habe sich allerdings gewünscht, dass die ganze Fußball-Nationalmannschaft vor der Europa-Meisterschaft in Polen und der Ukraine diesen Gang mache. Dr. Graumann kritisierte insbesondere den Manager der Nationalmannschaft, Oliver Bierhoff. Dessen Vorschlag, den Holocaust in Polen bei einem „Kamingespräch" zu thematisieren, sei eine "kolossale Gefühllosigkeit und Geschmacklosigkeit" gewesen. Das habe den ganzen Besuch in ein trübes Licht gestellt. Zudem habe Bierhoff nach der ersten Kritik des Zentralrats übel nachgetreten. Bierhoffs Behauptung, Dr. Graumann habe sich gleich an die Öffentlichkeit gewandt und nicht zuerst ein Gespräch mit dem DFB gesucht, sei schlicht falsch, berichtete der Zentralrats-Präsident. Dr. Graumann erinnerte zugleich an das jahrelange Engagement des früheren DFB-Präsidenten Theo Zwanziger gegen Rechtsextremismus und Rassismus, wofür Zwanziger mit dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden ausgezeichnet wurde. Er hoffe auf guten Willen im DFB, sagte Dr. Graumann.
Zeitgleich mit dem Gemeindetag fand in Hamburg eine Demonstration von Neonazis statt. Der Hamburger Senat hatte frühzeitig deutlich gemacht, die Stadt nicht den Rechtsextremisten zu überlassen. Unter dem Motto „Hamburg bekennt Farbe" gab es eine Kundgebung auf dem Rathausmarkt, an der 10.000 Menschen teilnahmen, darunter auch Dr. Graumann. Er folgte spontan dem Wunsch, eine kurze Ansprache zu halten. Er hoffe, dass das Engagement der Hamburger Bürger gegen Neonazis und Rechtsextremismus auch auf andere Städte abfärbe. Mit Blick auf den Gemeindetag sagte Dr. Graumann: „Wir haben uns nicht verscheuchen lassen." Der Faschismus gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte. „Ganz Deutschland muss eine Faschisten-freie Zone werden." 

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