Festaktes zum 50. Gründungsjubiläum des Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin



Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Dr. h.c. Paul Spiegel

Seit 50 Jahren existiert der Zentralrat der Juden in Deutschland. Fünf Jahre nach Ende des größten Völkermords der Geschichte gründeten einige wenige Überlebende der Shoa eine Organisation, der die meisten der damals Lebenden ­Juden wie Nichtjuden - keine sehr lange Lebensdauer voraussagten. Sie haben sich geirrt. Denn heute sind wir hier zusammengekommen, um die damalige Gründung - also unser Jubiläum feierlich in einem Festakt zu würdigen. Ihnen allen danke ich, dass Sie gekommen sind, um mit uns gemeinsam dieses Jubiläum zu begehen. Wir sehen in der großen Beteiligung so vieler bedeutender Persönlichkeiten aus allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens eine Anerkennung der Arbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Menschen, die sich seit Bestehen unserer Organisation hierfür engagiert haben.

Wenn ein Mensch 50 Jahre alt wird, denkt er wohl darüber nach, was er erreicht und was er vielleicht auch nicht erreicht hat. Auch Organisationen wie der Zentralrat sollten dies tun. Deshalb haben wir Bundeskanzler Schröder gebeten, den Zentralrat und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland vom Standpunkt der Politik aus zu betrachten. Herrn Middelhoff haben wir vorgeschlagen, zu uns über die politische Verantwortung der Medien in diesem Zusammenhang zu sprechen. Ich danke beiden Herren, dass sie unserer Bitte entsprochen haben und freue mich auf ihre Ausführungen zum heutigen Anlass.

Mir bleibt es überlassen, in der gebotenen Kürze ein paar Gedanken vorzutragen über eine Frage, die Juden wie Nichtjuden nicht erst seit 55 Jahren beschäftigt: das Selbstverständnis der Juden in Deutschland. Diese Frage heute vorzutragen, ist für mich in der Tat verpflichtend, weil dies untrennbar verbunden ist mit dem Selbstverständnis des Zentralrats der Juden als Organisation.

Ignatz Bubis sel. A. hat das Selbstverständnis der Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik Deutschland und damit auch das des Zentralrats entscheidend, wenn nicht allein geprägt. Auch heute -wenige Tage nach dem Trauerjahr ­sitzt bei uns der Schmerz über den Verlust meines Amtsvorgängers Ignatz Bubis immer noch sehr tief. Die Namen seiner Vorgänger sind uns ebenso präsent, dies gilt ganz besonders und hier in Berlin für Heinz Galinski sel. A.

Gleich zu Beginn meiner kurzen Betrachtungen muss ich gestehen: Es gibt weder in der Bundesrepublik noch in den jüdischen Gemeinschaften anderer Staaten eine einheitliche Position, wie ein verbindliches Selbstverständnis der Juden auszusehen hat.

Gestatten Sie mir einen kleinen historischen Rückblick, um das Thema vielleicht besser umschreiben und verstehen zu können: Es wird und wurde oft von der so genannten "deutsch-jüdischen Symbiose" gesprochen. Einigkeit herrscht in der Zwischenzeit darüber, dass es sich nur um eine einseitige Liebe der Juden zu Deutschland handelte, die sich im vergangenen Jahrhundert besonders stark entwickelt hatte. In den Jahren vor und nach 1870 war Deutschland für die Juden -sowohl diejenigen, die bereits in Deutschland lebten, als auch diejenigen, die in anderen, hauptsächlich osteuropäischen Ländern lebten - sehr anziehend. Manche sahen in ihm das "gelobte Land der Juden". Dies war auch die Zeit, als in Polen und Rußland der Jüdische Arbeiterbund entstand, eine politische Bewegung, die nicht mehr glaubte, dass es eine Wiederkehr ins Heilige Land geben könne und die sich somit auch im krassen Gegensatz zu den Zionisten befand. Man muss wissen, dass zu diesem Zeitpunkt 85 % der jüdischen Weltbevölkerung in Ost- und Mitteleuropa lebte, wenige in Westeuropa, da die spanischen und portugiesischen Juden schon viel früher nach Mitteleuropa ausgewandert waren. Polen und Rußland waren Zentren des jüdischen Lebens. Es fand aber auch damals eine starke Auswanderung aus diesen Gebieten statt. Die meisten Menschen gingen in die USA, wenige emigrierten nach Palästina, einige gingen aber eben auch nach Deutschland.

Dies war auch die Zeit, als die Juden in Deutschland ein neues Selbstverständnis entwickelten. Sie betrachteten sich als Deutsche, fühlten als Deutsche und dachten als Deutsche. Der Drang der in Deutschland lebenden Juden nach Assimilation war größer als in jedem anderen europäischen Land. Dass die Assimilations-Bestrebung letztlich nichts gebracht hat, hat uns die Geschichte auf brutale Weise gezeigt. Die Liebe der Juden zu Deutschland hat sich auf Dauer eben nur als eine einseitige Liebe herausgestellt.

Das deutsche Judentum ist in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts untergegangen. Nun gestatten Sie mir ein paar Zahlen zu nennen, ohne die manches vielleicht nicht verstanden werden kann, Von den einst rund 600 000 Juden, die vor 1933 in Deutschland gelebt haben, waren rund 400 000 ausgewandert. Von den restlichen deutschen Juden haben lediglich 12 000 Menschen den Naziterror überlebt. Von den 400 000 Ausgewanderten kehrten nach 1945 wenige nach Deutschland zurück. Damit begann nach 1945 in Deutschland eine Entwicklung mit einem - wenn sie so wollen -"ausgetauschten Judentum". Denn in dieser Zeit sind etwa 250 000 bis 300 000 Juden durch Deutschland gewandert. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Menschen aus Osteuropa, die die Hölle der Konzentrations-und Vernichtungslager erlebt und überlebt hatten und nun nicht mehr in kommunistisch regierten Ländern leben wollten. Sie kamen nach Deutschland mit der Absicht, von hier aus weiter in andere Länder zu gehen.

Anfang der fünfziger Jahre lebten nicht mehr als 15 000 Juden in Deutschland. Diese Zahl verdoppelte sich bis zum Jahr 1989. Erst nach dem Ende des kommunistischen Regimes und dem Beginn der Massenauswanderung von Juden aus den Gebieten der Sowjetunion im Jahre 1989 veränderte sich auch die Struktur des Judentums in Deutschland in ganz erheblichem Maße.

In den fünfziger Jahren hörte man von Juden in Deutschland sehr oft: ‚Unsere Koffer sind schon gepackt'. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann man weggehen würde. Mittlerweile sind bei den meisten hier lebenden Juden die Koffer ausgepackt. Aber gestatten Sie mir den Hinweis, dass immer noch viele der älteren in Deutschland lebenden Juden mit sich selbst, mit der Tatsache nicht fertig werden, in diesem Land zu leben.

In der Zwischenzeit gibt es zwei Generationen nachgeborener Juden, und man könnte vermuten, dass hier auch etwas Neues entstanden ist. Das ist aber durchaus nicht der Fall! Natürlich hängt dies mit der Vergangenheit, der Geschichte zusammen, die eben sehr gegenwärtig ist. Aber es hängt auch damit zusammen, dass ein nicht unerheblicher Teil der nicht-jüdischen Gesellschaft einen Juden, der hier geboren und bereits in der zweiten oder dritten Generation hier lebt, als Fremden sieht. Die Mehrheit der Gesellschaft kennt keine Juden und weiß nichts über das Judentum. Das ist verständlich und leicht erklärbar: Die knapp 85 000 Juden in Deutschland stellen 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Schon von daher ist es wohl schwierig - wenn nicht unmöglich -, dass Nicht-Juden Juden persönlich kennenlernen.

Für Professor Alphons Silbermann gab es aufgrund seiner wissenschaftlichen Erhebungen im Jahr 1974 keinen Zweifel, dass bei 20 Prozent der Bevölkerung ein manifester Antisemitismus zu finden ist. Diesen Prozentsatz gibt es mit leicht abnehmbarer Tendenz bis heute. Was sich allerdings sehr wohl geändert hat, ist die Offenheit, mit der der Antisemitismus ausgesprochen wird. Vielen Antisemiten schien es bis vor 10 Jahren nicht opportun, sich zu ihrem Antisemitismus zu bekennen. Heute bekennt man sich dazu - und nach der Walser-Rede gilt dies ganz besonders auch für Teile der so genannten Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur.

In dieser Situation ist es zwangsläufig, dass das Selbstverständnis der Juden von einem Zwiespalt geprägt ist: So ist es beispielsweise für junge Juden, die aus dem Ausland hierher gekommen sind, nicht einfach, mit der Ablehnung und Distanz zu leben.

Aber lassen Sie mich auf den Antisemitismus zurückkommen. Dieser Hass auf die Juden ist zweitausend Jahre alt. Woher der Antisemitismus kommt, hängt in erster Linie von der Zeit ab, in der er auftritt. Jede Zeit hat ihre eigene Form des Antisemitismus, aber wirksame Mittel dagegen sind noch nicht gefunden worden.

Man sollte doch meinen, dass sich seit dem Vatikanischen Konzil zumindest in der Kirche etwas verändert hat. Es gibt diplomatische Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Israel. Das heißt, zwischen Israel und mehr als 1 100 Millionen Katholiken auf der ganzen Weit. Aber sehr oft habe ich den Eindruck, dass sich das noch nicht bis zu jedem Pfarrer herumgesprochen hat. Und selbst Kardinäle scheinen davor nicht gefeit zu sein, wie das kürzlich in einem Wochenmagazin erschienene Interview mit Kardinal Ratzinger zeigt. Es gibt eben immer noch Geistliche, die in ihrem Geschichtsbewusstsein weit hinterher hinken. So stehen die Juden vor der Tür der wahren Erkenntnis, dass Jesus der Messias sei, wie Kardinal Ratzinger meint. Ein schlüssige Antwort, warum der als überzeugter Antisemit geltende Papst Pius IX. kürzlich selig gesprochen wurde, haben wir bis heute nicht gehört. Wir stellen also fest: Der Antisemitismus findet sich in allen Gesellschaftsschichten.

Auch gibt es immer wieder zu hörende Meinungen, der Präsident des Zentralrats hätte sich nur um die Juden zu kümmern. Ferner höre ich oft ebenfalls von nicht-jüdischer Seite, es werde nicht verstanden, warum ich mich zu den Problemen der Sinti und Roma, der Schwarzafrikaner, der Türken oder der Asylbewerber äußere, denn das sei kein jüdisches Problem. Diese Aussagen werden oft mit dem Bekenntnis, kein Antisemit zu sein, verbunden. Man habe ja mit den Juden eine gemeinsame Kultur. Ich versuche in der Regel zu erklären, dass, wenn wir Juden ein Teil der Gesellschaft sind, auch die Beschäftigung mit den Problemen dieser Gesellschaft zu den Aufgaben des Zentralrats gehört, und daher kann es uns nicht gleichgültig sein, was sich in unserer Gesellschaft abspielt.

Übrigens: Wenn jemand anfängt zu erklären, dass er kein Antisemit ist, dann habe ich schon meine Bedenken.

Aus all den zuvor beschriebenen Beobachtungen entsteht ein Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, das natürlich auch auf die Gremien des Zentralrats Auswirkungen hat -ja haben muss.

Ende der achtziger Jahre kam es zum ersten Mal zu Überlegungen, den Zentralrat der Juden in Deutschland in Zentralrat der deutschen Juden umzubenennen. Dann geschah folgendes: Zum Einen gab es eine Einwanderung aus den Staaten der früheren Sowjetunion. Bis heute sind über 60 000 Juden eingewandert. Die Zuwanderer stellen heute rund zwei Drittel der jüdischen Gemeinschaft dar, und sie sind eindeutig keine deutschen Juden, und sie sind auch keineswegs Juden deutscher "Abstammung". Aufgrund dieser Situation gibt es natürlich Bedenken, gerade jetzt eine Umbenennung vorzunehmen, da Gefahr besteht, dass sich diese Juden ausgeschlossen fühlen könnten.

Zum Anderen ist im wiedervereinigten Deutschland - vor allem in den neuen Bundesländern - eine beträchtliche Fremdenfeindlichkeit zu beobachten, deren vorläufigen Höhepunkt wir in diesem Sommer erfahren mussten. Wir stellten fest, dass dieser Rechtsruck nicht allein in Deutschland stattgefunden hat.

Die Beendigung der Sanktionen gegen Österreich halte ich für das falsche Signal. Wer den Bericht der drei Weisen aufmerksam liest, muss feststellen, dass die FPÖ bzw. ihre Parteiführung keineswegs von ihren rechtspopulistischen Positionen abgewichen ist. Die jüngsten Ausführungen von Haider zeigen deutlich, welchen Einfluss er auf die Politik der österreichischen Bundesregierung hat, ohne ihr selbst anzugehören.

Danken möchte ich der deutschen Bundesregierung und ganz besonders Ihnen, Herr Bundeskanzler, für die kompromisslose Haltung, die Sie im Zusammenhang mit den Sanktionen eingenommen haben. Unsere Anerkennung gilt auch Außenminister Fischer, der die absurden Forderungen nach einer Entschuldigung zurückgewiesen und mit der gebotenen Deutlichkeit kommentiert hat. Offensichtlich verwechselt eine ganze Reihe eifriger Kritiker Ursache und Wirkung in dieser Angelegenheit.

Ich persönlich glaube an die in 50 Jahren gewachsene Demokratie. Dennoch gibt es Anlass zur Sorge. Sind wir bereit, die Gewalttaten gegen Asylbewerber, Aussiedler oder Angehörige anderer Minderheiten in unserer Gesellschaft hinzunehmen und uns daran zu gewöhnen? Sind diese kriminellen Brandstiftungen, Morde, Mordversuche, Friedhofsschändungen und andere Gewalttaten nicht ein Angriff auf uns alle und auf unsere Demokratie? Sollten etwa am Ende doch jene recht bekommen, die die Bundesrepublik als eine Schönwetter-Demokratie bezeichnet haben, als eine Demokratie, deren republikanisches und ziviles Selbstbewusstsein nur so lange anhält, wie das Bruttosozialprodukt wächst?

Wir Juden sind vielleicht sensibler für solche Vorkommnisse als die meisten nichtjüdischen Deutschen. Denn es waren Juden, die in den dreißiger Jahren die Erfahrung gemacht haben, wie es ist, wenn Deutsche sich von ihren langjährigen jüdischen Nachbarn abwenden. Können und dürfen wir aus unserer historischen Erfahrung heraus zu dieser Gewalt gegen Fremde schweigen? Weimar ist nicht an den zu vielen Rechtsradikalen, sondern an den zu wenigen Demokraten zu Grunde gegangen. Ein Jude kann und darf zu Unrechtgeschehen in Deutschland nicht schweigen, weil diese Fremdenfeindlichkeit auch Menschenfeindlichkeit ist.

Fast alle der jüdischen Zuwanderern aus Osteuropa wollen in Deutschland bleiben, das kann ich feststellen an den mir in erheblichem Umfang zugegangenen Anfragen, wie man die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen kann. Die alteingesessene jüdische Gemeinschaft in Deutschland bekennt sich heute in ihrer überwiegenden Mehrheit zu diesem Staat. Doch in einer Situation, in der Menschen gejagt, geschlagen und getötet werden, weil sie Ausländer sind oder einer anderen Minderheit angehören, muss damit gerechnet werden, dass das Selbstverständnis der Juden und Jüdinnen in Deutschland eben von dieser Situation maßgeblich beeinflusst wird. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Entwicklung des Selbstverständnisses und damit die Zukunft der Juden in Deutschland hängt nicht allein von den Juden ab, sondern in einem hohen Maße von der nicht-jüdischen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

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