Evangelischer Kirchentag



Impulsvortrag Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf dem Evangelischen Kirchentag zum Thema „Antisemitismus- geht mich das was an?“, 9. Juni 2023 in Nürnberg

Anrede […]

liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags,

 

Es freut mich, dass ich heute mit Ihnen beim 38. Kirchentag sein kann, dessen Losung, „Jetzt ist die Zeit“, in besonderem Maße zu unserem heutigen Thema passt. Es ist einfach, gerade hier in Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage aber auch der Nürnberger Prozesse, Antisemitismus als Teil einer in Deutschland längst vergangenen und überholten Gesichte zu sehen. Aber leider müssen wir hierbei konstatieren, dass Antisemitismus in den verschiedensten Ausprägungen in unserer Gesellschaft so offen wie schon lange nicht mehr grassiert. Diesem gilt es Einhalt zu gebieten und gerade hier sage ich: Jetzt ist die Zeit.

 

Erlauben Sie mir, dass ich mit zwei Klarstellungen beginne.

 

Erstens, braucht Antisemitismus gar keine Juden. Er entwickelt sich ohne in der Realität verankerte Motive. Das Phänomen des Judenhasses hat nichts mit realen Jüdinnen und Juden zu tun. Er entsteht unabhängig von ihnen, so zum Beispiel auch in Ländern, in denen es gar keine Juden gibt. Antisemitismus muss demnach als grundsätzliches Problem jener Gesellschaften gesehen werden, in denen er entsteht, und nicht als Problem für Juden alleine.

Er ist wie der tote Kanarienvogel in der Kohlemiene, ein Zeichen für eine katastrophale Fehlentwicklung in der Gesellschaft.

 

Zweitens, ist Antisemitismus, wie eingangs erwähnt, keine Erscheinung der Neuzeit. Er reicht bis in die Antike zurück. Hier muss ich im Rahmen des Kirchentags leider auch den christlichen Antijudaismus erwähnen. Leider ist die Kirchengeschichte seit ihren Anfängen von diesem Phänomen mitgeprägt. Auch hier lernen wir etwas über den Antisemitismus: er passt sich in seinem Ausdruck dem jeweiligen Zeitgeist an, und erscheint oft unter den verschiedensten Deckmäntelchen immer wieder neu. Hierzu komme ich noch.

 

Dieser Hass ist gerade deshalb so wandlungsfähig, weil er jeder konkreten oder vermeintlichen Grundlage entbehrt. Antisemitismus entsteht aus der in einer Gesellschaft bereits immanenten aber diffusen Unzufriedenheit. Er kanalisiert diese, und gibt Menschen eine Projektionsfläche für all ihre Frustration. Er ist ein süßes Gift, welches die Mehrheit von jeder Verantwortung freispricht, so lange anderen alle Schuld aufgeladen wird.

 

Dass dieses Abwälzen aller Verantwortung auf Juden auch Konsequenzen für alle Nichtjuden haben kann, wurde wohl selten so präzise auf den Punkt gebracht, wie durch den deutschen evangelischen Theologen und Pfarrer Martin Niemöller, der im Jahr 1946 schrieb:

 

Als die Nazis die Kommunisten holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Kommunist.

 

Als sie die Gewerkschaftler holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Gewerkschaftler.

 

Als sie die Juden holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Jude.

 

Als sie mich holten,

gab es keinen mehr,

der protestieren konnte.

 

Warum geht Antisemitismus also jeden von uns etwas an? Weil antisemitische Ressentiments das gesamte soziale Gefüge beeinflussen. Sie schüren Unzufriedenheit, Neid und Feindseligkeit. Indem die Gesellschaft, jeder einzelne von uns, ob Jude oder Nichtjude, Antisemitismus ignoriert oder sogar toleriert, trägt er oder sie dazu bei, dass er weiterbesteht. Ich kann mir keinen glücklichen, geschweige denn ethischen, Menschen vorstellen, der sich in einer Gemeinschaft wohlfühlt, deren Zugehörigkeit und Identität darauf aufbaut, andere zu entmenschlichen und zu hassen. Es sollte jedem einzelnen zuwider sein.

 

Der Kampf gegen eine nur auf Menschenfeindlichkeit basierende Ideologie, ist für mich ein zutiefst menschliches, aber auch ein zutiefst jüdisches und, ich glaube, auch christliches Bestreben.

 

Ich möchte ihnen die Prävalenz dieses Phänomens anhand zweier Beispiele illustriere. Zum einen, der historische Antijudaismus in der Kirchengeschichte dessen Konsequenzen bis heute zu spüren sind. Zum anderen, die sehr moderne Bestrebung durch die so genannte BDS Bewegung, Jüdinnen und Juden durch einen vermeintlichen Boykott Israels aus Kultur und Gesellschaft auszuschließen.

 

Der Antijudaismus ist ein Vorläufer späterer Formen des Antisemitismus. Jüdische Ritualpraxis wurde lange als Negativbeispiel vermittelt, von der sich christliches Selbstverständnis leuchtend abhebe - theologisch überlegen und mit einer Frömmigkeit, die derartiger Bräuche nicht bedarf. Diese Negativzeichnungen entfalten ihre Wirkung bis heute, trotz fortschreitender Kirchenferne der Bevölkerung in Deutschland.

 

Denn, die einstige Judenfeindlichkeit der Kirchen ist bis heute in vielen Zeugnissen überliefert. Ich erinnere an die „Judenschriften“ Martin Luthers oder an steinerne Abbilder: In zahlreichen Kathedralen findet sich die Statue „Ecclesia“, die die siegreiche christliche Kirche darstellt, sowie die Figur der „Synagoga“, die auf abfällige Weise das Judentum symbolisiert. Noch abstoßender sind die sogenannten „Judensauen“ in vielen alten Kirchen. Hier wurden Juden auf übelste Weise verhöhnt. 

 

Vor genau einem Jahr hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil zur Wittenberger „Judensau“ dem Entfernen des Objektes widersprochen, weil es an einer „gegenwärtigen Rechtsverletzung“ fehle. Sicherlich kann antijudaistische Geschichte der Kirche nicht ungeschehen gemacht werden, doch sehe ich Antijudaismus wie in diesen Fällen, wenn er gut sichtbar und sehr präsent in unserem Stadtbild erscheint, als höchst problematisch. Er verletzt Jüdische Gefühle auch heute noch.

 

Außerdem sind die Schmähbilder an Kirchen aus meiner Sicht mit dem Wesen des Christentums und dem Sinn und Zweck einer Kirche unvereinbar. Ich kann nicht erkennen, wie diese Figuren, das wahre Wesen des Christentums repräsentieren.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich positiv hervorheben, dass sehr viele Christinnen und Christen hierzulande meine Einschätzung teilen und lautstark protestieren. Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass dort, wo die Plastiken nicht entfernt werden, eine angemessene und deutliche Form der Kontextualisierung stattfinden muss.

 

Der Grund warum ich dies als einen zentralen Punkt sehe, ist auch weil auf dem Nährboden des so in Stein repräsentierten religiösen Antijudaismus, im 19. Jahrhundert der rassistische Antisemitismus entstand. Und beides Antijudaismus und Antisemitismus wurden, wenn ich es mal zynisch ausdrücken darf, von den Nationalsozialisten perfektioniert. Die Bewegung der „Deutschen Christen“ und Institutionen wie das sogenannte „Entjudungsinstitut“ zeigen deutlich, wie die Nazis mit ihrer Rassenkunde auch bei Christen Anklang fanden.

Es ist mir wichtig zu betonen: Beide Kirchen haben den Kampf gegen ihre dunkle Vergangenheit in ihrem heutigen Handeln verinnerlicht. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus begann bereits nach dem Krieg. Stichwortartig sei hier das Stuttgarter Schuldbekenntnis genannt. Die EKD bewies ein verlässlicher Partner im Erhalt der Religionsfreiheit zu sein. So stand sie 2012 bei der Beschneidungsdebatte an der Seite der jüdischen Gemeinschaft. Ebenso hat sich die EKD anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 intensiv und noch einmal neu mit dem Antijudaismus Luthers beschäftigt.

 

Es ist auch diese Haltung der Kirche, die dazu beiträgt, dass heute das christlich-jüdische Verhältnis so gut ist, wie es wohl noch nie in der Geschichte war. Das verdanken wir mutigen Frauen und Männern, die sich über den tiefsten menschlichen Abgrund hinweg die Hände gereicht haben. Ein jeder von Ihnen hier, kann in der Zukunft den gleichen Mut beweisen.

 

Allerdings finden wir Antisemitismus nicht nur in Kulturobjekten vergangener Generationen. Jüdische Kulturschaffende bemerken zunehmende Ausgrenzung im Kulturbetrieb. Einem Kulturbetrieb, der sich doch eigentlich in den letzten Jahren Diversität und Repräsentation von Minderheiten auf die Fahne schrieb – leider oft auf dem Rücken von Jüdinnen und Juden.

 

Außerdem werden auch durch den Einfluss der BDS Bewegung immer mehr Künstler die sich nicht eindeutig und öffentlich gegen Israel positionieren von Teilen des Deutschen Kulturbetriebes ausgeschlossen. Es gibt, auch hier in Deutschland, bereits einen so genannten „stillen Boykott“, der meiner Meinung nach gar nicht so still ist. Die Vielfalt und Komplexität jüdischer Stimmen droht verloren zu gehen, wenn Künstler die sich zu Israel zu bekennen aus der deutschen, medialen Öffentlichkeit abgedrängt werden.

 

In Deutschland - gerade hier in Nürnberg - sollte ein Boykottaufruf, der sich faktisch und praktisch nur gegen Juden richtet von keinem von uns jemals toleriert werden.

 

Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist legitim. Die schärfsten Kritiker finden Sie vermutlich in Israel selber. Doch die BDS-Bewegung vermittelt die Botschaft, dass nur durch die Zerstörung des jüdischen Staates alle Probleme der jüngeren Geschichte, vom Kolonialismus bis hin zum Antisemitismus selbst, gelöst werden könnten. Allerdings ist die Zerstörung Israels keine Diskussionsgrundlage. Hier hört jede Form von Diskussion auf.

 

Im Kampf gegen diese geschichtsvergessene Ideologie sehe ich eine große Chance. Die Antisemitismusprävention und Bekämpfung kann eine enorme emanzipatorische Kraft für die gesamte Gesellschaft entwickeln und ich weiß, dass die Evangelische Kirche zu diesem Thema unser Partner sein will.

 

Mit der öffentlichen Stellungnahme vom 9. März 2020 des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland angesichts der Debatte um die BDS-Bewegung wurde das unter Beweis gestellt. In der Stellungnahme werden im Umgang mit dem BDS teilweise klarere Worte gefunden, als das leider in der Politik und im Kulturbetrieb vielfach zu finden ist. Ich zitiere:

Die EKD sieht mit Sorge, dass sowohl im Gründungsaufruf als auch in der Bewegung selbst eine klare Abgrenzung gegenüber einer einseitigen Kritik fehlt, die auf eine Delegitimation des Staates Israel und seine Dämonisierung als jüdischem Staat hinausläuft und damit von einer antisemitischen Haltung nicht mehr unterscheidbar ist (…)“ Zitat Ende.

 

In Zeiten regressiver, antisemitischer Tendenzen in Teilen des Kulturbetriebes, ist so eine Stellungnahme von unschätzbarem Wert. Hier wird deutlich, dass der interreligiöse Dialog von existentieller Bedeutung ist, gerade in Krisenzeiten. Und eine Vorbildfunktion erfüllen kann.

 

Meine Damen und Herren,

 

Ich habe Ihnen zu Beginn meiner Rede einen Teil des Kampagnenmotivs des Kirchentages unterschlagen, denn neben der Losung stehen noch die Worte „Hoffen.Machen“. Und lassen Sie mich deshalb zum Ende meiner Rede Ihnen zurufen, dass ich hoffe, dass Sie etwas machen.

 

Wenn Sie Antisemitismus bemerken, können Sie sich an den Bundesverband der Recherche- und Informationstellen Antisemitismus e.V., kurz RIAS, wenden. Hier können Sie auch online auf report-antisemitism.de Vorfälle melden, ohne gleich zur Polizei gehen zu müssen.

 

Wenn in ihrem Umfeld jemand eine antisemitische Bemerkung macht, sagen Sie etwas! Auch wenn es unangenehm ist und Sie damit beruflich oder privat möglicherweise etwas riskieren. Zivilcourage und echte Solidarität birgt Risiko und Risiko lässt sich gerne vertrösten - aber jetzt ist die Zeit!

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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