Erinnerungen der Enkelin von Rabbiner Dr. Leo Baeck



Ich bin Leo Baecks Enkelin. Eine meiner frühesten Erinnerungen besteht darin, dass ich meine Mutter zum Gottesdienst am Morgen des Shabbat in die Synagoge auf der Fasanenstraße begleitete. Wir saßen im vorderen Teil der Frauenempore. Mein Großvater predigte. Ich flüsterte meiner Mutter zu: „Warum trägt Großvater dieses lange schwarze Gewand, und warum verstehe ich nicht, was er sagt?“

Als ich älter wurde, begann ich seine Worte zu verstehen und als indirekten Widerspruch gegen den wachsenden Aufruhr auf den Straßen, die lautstarken Menschenmengen, die bösartige Verspottung und die Verleumdungen zu betrachten, die den jüdischen Kaufleuten in einer Gegend ins Gesicht geschleudert wurden, die zuvor ein ruhiges Berliner Wohnviertel gewesen war.

Meine Eltern versuchten, mich vor der Angst vor dem bevorstehenden Sturm abzuschirmen, doch wenn Besuch in unsere Wohnung kam, sprachen sie offen über ihre Befürchtungen und die unermüdlichen Versuche des Großvaters, den Frieden in der Gemeinde wieder herzustellen. Viele der Freunde meiner Eltern wanderten in sicherere Länder aus. Doch war es gar nicht so einfach, hierfür eine Genehmigung zu erhalten, weder von seiten der deutschen Behörden noch in dem Land, in dem die deutschen Juden sich niederlassen und in das sie diejenigen ihrer Habseligkeiten, die sie ausführen durften, mitnehmen wollten. In diesen angsterfüllten Tagen dachte ich oft an die Ermahnung meines Großvaters: „Wir Menschen wählen die Zeiten nicht, in denen wir leben, doch ist es unsere Aufgabe, unseren Weg zu finden und sich diesen Zeiten zu stellen. Um dazu in der Lage zu sein, müssen wir die Bedeutung der Tage, müssen wir das Gesetz Gottes erkennen, das in ihnen wirkt.“

Zu einer Zeit, da die Leute die Hoffnung fast aufgegeben hatten, sandte Gandhi eine provozierende Botschaft an Leo Baeck: „Mein Rat an die deutschen Juden lautet, am selben Tag zur selben Stunde gemeinsam Selbstmord zu begehen. Dann wird das Gewissen Europas erwachen.“ Ihm war dieser Rat zur Selbstvernichtung so fremd und so abstoßend, dass er zögerte, ob er ihn überhaupt bekannt geben sollte. „Wir Juden wissen: es ist ein Gebot von Gott, zu leben.“ Obwohl mein Großvater 1933 erklärte, dass die tausendjährige Geschichte der Juden in Deutschland zu Ende sei, akzeptierte er willentlich die Führungsrolle, die ihm sein Volk in der Stunde der größten Not auferlegte. Es war möglich, wenn auch gefährlich, durch gezielte Intervention Leben zu retten; es gab Kinder, die eine Erziehung brauchten und denen eine sichere Bleibe gefunden werden mußte. Jüdischer Selbstrespekt mußte erhalten, jüdische Einrichtungen unterstützt, das Judentum gelehrt und beachtet werden.

1938, direkt nach den Schrecken der Kristallnacht, wurde alle jüdische Kinder aus dem deutschen Schulsystem ausgestoßen. Zu Ehrenrettung einer meiner Lehrerinnen, die sich bewußt war, dass das Stigma des Hinauswurfs mir den Zugang zur Universität erschweren würde, möchte ich sagen, dass sie meinem Zeugnis mutig einen Kommentar hinzufügte: „Das Kind hat sich ausgezeichnet geführt.“ Doch wo war es Flüchtlingskindern inmitten einer schweren, weltweiten Rezession möglich, einen Ort zu finden, an dem sie leben, lernen und eine Ausbildung erhalten konnten?

Die World Union for Progressive Judaism, die zwölf Jahre vor der Kristallnacht ins Leben gerufen worden, und deren Mitbegründer mein Großvater gewesen war, zeigte sich bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse besonders aktiv. Im Juni 1926 hatte Lily Montagu, die Schriftführerin der jüdischen Religionsunion in London, an die Oberhäupter von Gemeinden in der ganzen jüdischen Welt geschrieben, um herauszufinden, ob dort Sympathien für die Bildung einer internationalen Union von Synagogen und Vereinigungen bestünde, die „ein progressives Konzept des Judentums unterstützen würde“. Unter den Antworten hatte sich ein Brief von Leo Baeck befunden, der den Vorschlag von Miss Montague, von dem er sagte, dass dieser im Kreise seiner Kollegen oft diskutiert worden sei, aufs Wärmste empfahl.

Innerhalb weniger Jahre gab die Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner ihre Zustimmung. Da die Begriffe „Reform“ und „liberal“ bereits an verschiedenen Stellen mit bestimmten Bedeutungsrichtungen versehen worden waren, wurde die neue Organisation, vielleicht etwas ungeschickt, als die World Union for Progressive Judaism bezeichnet. Sie entwickelte sich schnell über die Grenzen einer theologischen Gesellschaft für Intellektuelle hinaus und vertrat ein Judentum, dass für diejenigen Juden Bedeutung gewinnen sollte, die in vielen der traditionellen Gebräuche keine Relevanz mehr erblickten. Sie sorgte sich um notleidende jüdische Gemeinden. Sie verteidigte das Judentum und die Juden gegen Verunglimpfung. Sie trat für die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ein, half bei deren Neuansiedlung, und beteiligte sich an der Etablierung erzieherischer und sozialer Einrichtungen in Israel, Südafrika und Südamerika. Ich war eines der Kinder, die im Januar 1938 von Hamburg mit dem Kindertransport nach Southhampton segelten, voller Angst, meine Familie nie mehr wiederzusehen.

Edna und Rabbiner Israel Mattuck nahmen mich zusammen mit anderen Flüchtlingskindern bei sich zu Hause auf. Einige Tage später nahm mich Mrs. Mattuck zum Einkaufen mit, und wir erstanden eine Schuluniform. Ich wurde auf die St. Margaret’s School in Westgate, Kent, geschickt, wo ich die einzige Schülerin war, die nicht Englisch sprach, und auch die einzige jüdische Schülerin. Wir lernten den „Christmas Carol“ von Dickens, gefolgt von Shakespeares „Henry V.“, ein Werk, das nicht für eine Anfängerin des Elisabethanischen Diskurs geschrieben war. Meine Mitschüler waren freundlich und hilfsbereit, und bis heute bin ich mit zwei von ihnen in Kontakt.

Nach einiger Zeit gelang es meinen Eltern, sich in London niederzulassen und ich ging auf die Universität. Im Juli 1945 kehrte mein Großvater aus dem Konzentrationslager zurück, um sein Lebenswerk fortzusetzen, um zu lehren, zu schreiben und zur Wiederherstellung des jüdischen Lebens in Europa beizutragen.

Marianne C. Dreyfus

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