"Die Warnlampen blinken bei uns häufiger"



Vortrag des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, in der Veranstaltungsreihe „Parlamentsleben“, Niedersächsischer Landtag, Hannover, 21.2.2017

Foto: Landtag Niedersachsen

Vor wenigen Wochen wurde vielerorts noch einmal an einen meiner Amtsvorgänger erinnert: an den verehrten Ignatz Bubis sel. A. Denn im Januar wäre er 90 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass kam auch mir ein Vorfall wieder in den Sinn: Der israelische Präsident Weizman hielt 1996 eine Rede im Deutschen Bundestag. Anschließend kam der damalige Chef der Bundeszentrale für politische Bildung auf Bubis zu und gratulierte zur guten Rede „seines“ Staatspräsidenten. Bubis war schlagfertig genug, um zu antworten: „Herr Herzog hält immer gute Reden.“

Es ist nicht lange her, da ist mir etwas Ähnliches passiert. Im Zuge der Flüchtlingsdebatte Ende des Jahres 2015 schrieb ein junger Mann auf Facebook: „Die Vermittlung unserer Werte hat bei Schuster offensichtlich auch nicht geklappt.“

Die Parallele ist deutlich: Ignatz Bubis und ich wurden jeweils nicht als Deutsche wahrgenommen. Sondern als Menschen, die woanders ihre Heimat haben und denen die Werte Deutschlands erst vermittelt werden müssen.

Ich stecke solche Sätze ziemlich gut weg. Denn mein Familienstammbaum reicht bis ins 16. Jahrhundert ins hessisch-fränkische Grenzgebiet zurück, länger als dies bei vielen anderen Deutschen der Fall sein dürfte. Mir muss niemand deutsche Werte vermitteln. Nachdenklich stimmen mich solche Äußerungen dennoch, und ich frage mich: Wie werden Juden heutzutage wahrgenommen in Deutschland? Wo ist unser Platz in der Gesellschaft?

Sehr geehrtes Publikum,

in der Veranstaltungsreihe „Parlamentsleben“ halten viele hochkarätige Experten Vorträge zu einer breiten Palette von Themen. Ich danken Ihnen, Herr Landtagspräsident, dass Sie mir heute Gelegenheit geben, ebenfalls in diesem illustren Forum zu sprechen.

Ich möchte Ihnen, verehrte Damen und Herren, Einblicke geben in unser heutiges, modernes jüdisches Leben. Zugleich möchte ich Ihnen einen Eindruck vermitteln von der derzeitigen Stimmungslage, in der sich die jüdische Gemeinschaft befindet.

Lassen Sie es mich gleich vorwegnehmen: Sicherlich ist Ihnen allen die Metapher geläufig, die in den Nachkriegsjahren verwendet wurde und auch zutraf: Die Juden in Deutschland saßen auf gepackten Koffern. Sie betrachteten das Land der Täter als Durchgangsstation.

Im Laufe der Jahrzehnte änderte sich dies grundlegend. Es kam eine Zeit, in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, da konnten wir sagen: Wir haben unsere Koffer ausgepackt.

Das stimmt noch immer. Doch in jüngster Zeit schleicht sich manchmal ein Gefühl der Unsicherheit ein. Werden wir in Deutschland als selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft gesehen oder als Fremde? Bei uns blinkt inzwischen immer mal wieder ein Warnlicht. Sicherlich gibt es dieses Gefühl der Verunsicherung auch in Teilen der übrigen Bevölkerung in Deutschland. Doch in der jüdischen Gemeinschaft blinken die Warnlampen vermutlich etwas häufiger.

Bevor ich näher begründe, warum das so ist, möchte ich Ihnen ein paar Zahlen nennen. Dann haben wir den trockenen Teil auch schnell hinter uns. Viele Bürger schätzen die Zahl der in Deutschland lebenden Juden auf mehrere Millionen. Das ist weit von der Realität entfernt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, dessen Präsident ich seit Ende 2014 bin, vertritt 105 Gemeinden mit rund 100.000 Mitgliedern. Hinzu kommen jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die nicht Mitglied einer Gemeinde wurden. Sei es, weil sie keinerlei Bezug mehr zu ihrer Religion hatten, oder weil sie nur einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben, und damit nach den jüdischen Religionsgesetzen, der Halacha, nicht jüdisch sind. Entsprechend konnten sie nicht in eine Gemeinde aufgenommen werden. Außerdem ist Deutschland bei Israelis sehr beliebt, so dass vor allem in Berlin eine stattliche Zahl von Israelis lebt. Alles in allem kommen wir auf etwa 200.000 Juden in Deutschland.

Und um diese Zahl besser einordnen zu können, füge ich noch wenige historische Daten hinzu: Nach der Schoah waren von den ehemals 500.000 Juden in Deutschland lediglich 15.000 übrig. Mit dem Ankommen der sogenannten „Displaced Persons“, also Überlebende aus anderen Ländern bzw. einst deutschen Juden, denen die Nazis die Staatsangehörigkeit entzogen hatten, wuchs die Zahl vorübergehend stark an, pendelte sich dann aber bei circa 25.000 Juden ein. Erst durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion wuchsen unsere Gemeinden wieder auf rund 100.000 Mitglieder. Hier in Niedersachsen sind es etwas mehr als 8.000.

Sie sehen, bei der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland handelt es sich um eine sehr kleine Minderheit. Klein, aber oho. Denn die kleine Gemeinschaft beherbergt auch noch unterschiedliche religiöse Richtungen: von orthodox und traditionell bis liberal. Gerade Hannover ist dafür ein ganz wunderbares Beispiel: Es gibt hier die traditionell-orthodox geprägte Jüdische Gemeinde Hannover, die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover und das Jüdisch-Bucharisch-Sefardische Zentrum Deutschland, in dem orientalisch geprägte Juden zu finden sind. Wegen der verschiedenen religiösen Richtungen gibt es in Deutschland neben den Rabbinern auch ein paar Rabbinerinnen.

Sie können sich daher sicher vorstellen, dass wir zwar wenige, aber dennoch nicht immer einer Meinung sind. Und weil die Auslegung unserer Schriften seit Jahrtausenden im Judentum eine große Rolle spielt, gehören Diskussionen und Debatten quasi zum Markenkern. Lebhafte Debatten sind Ihnen ja in diesem Hause auch nicht fremd. Ich bin daher dieser Einladung sehr gerne gefolgt.

Und weil es gerade so gut passt, möchte ich Ihnen einen alten jüdischen Witz erzählen: Als ein Jude von einer einsamen Insel gerettet wird, stellen die Retter erstaunt fest, dass er zwei Synagogen gebaut hat. Warum denn zwei?, wird er gefragt. „Na, eine, in die ich gehe. Und eine, in die ich nicht gehe“, antwortet er.

Meine Damen und Herren,

nachdem wir den Statistik-Teil nun hinter uns haben, möchte ich Ihnen jetzt - wie schon angekündigt- näher erläutern, warum sich in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ein Gefühl der Unsicherheit breit macht. Warum das Warnlicht häufiger blinkt.

Lassen Sie mich das anhand von drei Themenfeldern aufzeigen:

die verbreitete Israel-Feindlichkeit in unserem Land der Antisemitismus bei Rechtsextremisten und Muslimen die zunehmende Respektlosigkeit gegenüber Minderheiten Zum ersten Thema: der Israel-Feindlichkeit.

Was die offizielle deutsche Regierungspolitik gegenüber Israel betrifft, ist aus unserer Sicht weitestgehend alles in Ordnung. Bundeskanzlerin Merkel hat bekräftigt, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört. Auch unser Noch-Bundespräsident Joachim Gauck hat an dieser Haltung keinen Zweifel aufkommen lassen. Und der designierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betont stets, dass das Existenzrecht Israels und seine Sicherheit nicht verhandelbar seien.

Wir sind zwar in jüngster Zeit mit dem Atom-Deal mit dem Iran nicht glücklich gewesen. Aber insgesamt ist das Vertrauen der jüdischen Gemeinschaft in die etablierte Politik groß, was die Beziehungen zu Israel betrifft.

Ganz anders sieht es heutzutage leider in der Bevölkerung aus. 2015, anlässlich des Jubiläums „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland“, hat die Bertelsmann Stiftung eine Umfrage gemacht. Dabei kam heraus: Rund die Hälfte der Deutschen lehnt eine politische Unterstützung Israels im Nahostkonflikt ab. 62 Prozent gaben an, eine schlechte Meinung über die israelische Regierung zu haben. Und nur 40 Prozent fanden, dass Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk trägt.

Der jüdische Staat ist bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein einer massiven Kritik ausgesetzt, wie sie andere Staaten bei weitem nicht aushalten müssen. Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass Israelis geradezu genüsslich als Täter dargestellt werden. Was steckt dahinter? Es ist häufig der uralte Antisemitismus, der sich in neuem Gewand präsentiert.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Eine sachliche Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist völlig legitim. Die schärfsten Kritiker finden Sie vermutlich in Tel Aviv. Immer häufiger jedoch treffen wir auf Kritik, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt oder alle Juden unter Generalverdacht.

Oder wie es jüngst Sie, verehrte Frau Wettberg, als Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover auch öffentlich gesagt haben: „Wir werden hier in Deutschland für die Politik in Israel verantwortlich gemacht.“ Die Gemeinde erhält hasserfüllte Briefe und Mails, in denen Juden beleidigt und bedroht werden. Und das gilt leider nicht nur für diese Gemeinde.

Ein Beispiel für eine überzogene und einseitige Kritik an Israel ist die BDS-Bewegung. Die Abkürzung steht für Boycott, Divestments, Sanctions. Sie hat zum Ziel, Israel zu diffamieren und zu delegitimieren. Sie wirft z. B. Israel ethnische Säuberungen vor und ruft zu einem Boykott israelischer Waren auf. Es gibt auf der Welt viele umstrittene Territorien. Es ist mir nicht bekannt, dass dafür auch zu Waren-Boykotten aufgerufen wird. Es ist inzwischen keine Seltenheit mehr, dass BDS-Aktivisten an deutschen Universitäten auftreten. Die Uni Oldenburg hat im vergangenen Jahr eine solche Veranstaltung in der in der Evangelischen StudentInnengemeinde abgesagt. Das ist ein seltenes Positiv-Beispiel! Die GEW Oldenburg hat dann dafür den gleichen BDS-Aktivisten in ihrer Publikation schreiben lassen.

Die CDU hat jüngst auf ihrem Parteitag einen Beschluss gegen die BDS-Bewegung gefasst. Wir würden es begrüßen, wenn auch andere Parteien diesem Beispiel folgten und die Ablehnung dieser Bewegung in ihre Wahlprogramme aufnähmen!

Abgesehen von BDS findet sich an unseren Universitäten auch in Lehrveranstaltungen mitunter ein einseitiger Blick auf Israel als vermeintlicher Täter und auf die Palästinenser als ausschließliche Opfer. Für mich ist dabei nicht nachvollziehbar, wie gebildete Menschen bei der Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt Terrorgruppen wie die Hamas und die zeitweise bald täglichen Raketenangriffe auf Israel oder Messerattentate ausblenden können.

Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut. Ich hoffe jedoch, dass Sie nachvollziehen können, warum wir uns bei der HAWK Hildesheim eingeschaltet haben. In dem Seminar zur „sozialen Lage der Jugendlichen in Palästina“ – so der Titel – wurde eine undifferenzierte und antisemitische Sicht auf den Nahost-Konflikt vermittelt. Wissenschaftsfreiheit bedeutet aber auch eine hohe Verantwortung, der die Hochschule in diesem Fall nicht nachkam. Die Konsequenzen kennen Sie.

Ich könnte noch eine Reihe ähnlicher Beispiele aufzählen, beileibe nicht nur in Niedersachsen. Professuren zu Israel-Kunde, wie es eigentlich an der Universität Mainz geplant war, wären heute wichtiger denn je.

Den einseitigen Blick auf Israel finden wir mittlerweile auch in der Justiz. 2014 verübten drei junge Männer palästinensischer Herkunft einen Brandanschlag auf die Bergische Synagoge in Wuppertal. Die Täter wurden gefasst und verurteilt. In der Begründung des Gerichts wurde jedoch festgehalten, dass keinerlei antisemitischen Motive bei der Tat zu erkennen seien. Die Täter hätten nur Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollen.

Wertes Publikum,

nicht versäumen möchte ich es heute, die Menschen zu würdigen, die sich mit viel Herzblut für den jüdischen Staat einsetzen. In der Deutsch-Israelischen Gesellschaft oder Vereinen wie „ILI – I love Israel“ sind viele, viele Bürger engagiert und lassen sich in ihrem Elan auch nicht bremsen, wenn sie Gegenwind haben.

Ihnen ist bewusst, was in weiten Teilen der Bevölkerung kaum wahrgenommen wird: die Bedeutung, die Israel für uns Juden hat: Für alle Juden weltweit ist Israel der sichere Hafen. Israel ist unsere Rückversicherung. Wir werden dem jüdischen Staat niemals neutral gegenüberstehen. Daher haben wir feine Sensoren, wenn Israel nur als pars pro toto, sprich: stellvertretend für alle Juden angefeindet wird. Dies geschieht immer häufiger, und das Verantwortungsbewusstsein der Deutschen für Israel sinkt.

Ist es da erstaunlich, dass es in der jüdischen Gemeinschaft eine Verunsicherung gibt? Dass wir uns fragen: Wie solidarisch wäre unsere nicht-jüdische Umgebung, wenn es wirklich darauf ankommt?

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich komme damit zum zweiten Punkt: dem Antisemitismus bei Rechtsextremisten und Muslimen.

Antisemitismus ist ein Thema, das die Präsidenten des Zentralrats der Juden durch die Jahrzehnte immer begleitet hat. Und vielleicht schaltet der ein oder andere bei dem Begriff schon gelangweilt ab. Doch mir ist es damit sehr ernst!

Es stehen zwar derzeit die Muslime stärker im Fokus. Sie müssen vielerlei Arten von Anfeindungen ertragen, was absolut inakzeptabel ist!

Der Antisemitismus ist damit aber nicht verschwunden. Die Zahl antisemitischer Straftaten liegt auf einem konstant hohen Niveau. Unter Rechtsextremisten ist Antisemitismus der Normalfall. Und auch das Bundesverfassungsgericht, das leider die NPD nicht verboten hat, hat klar die antisemitische Haltung der NPD benannt.

Wenn Sie mir an dieser Stelle einen kurzen Exkurs erlauben: Es ist hier der richtige Ort, um im Namen des Zentralrats der Juden noch einmal unseren Dank an die Bundesländer auszusprechen, die das zweite NPD-Verbotsverfahren gewagt hatten. Sie sind damit den richtigen Schritt gegangen, auch wenn das Verfahren anders ausging als von ihnen und von uns erhofft. Dennoch ist jetzt höchstrichterlich bestätigt: Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei, die wesensverwandt ist mit dem Nationalsozialismus.

Niedersachsen hat sehr schnell auf das Urteil reagiert und eine Bundesratsinitiative für eine Änderung der Parteienfinanzierung eingebracht. Auch dafür danke ich Ihnen im Namen der jüdischen Gemeinschaft! Es ist unerträglich, dass die NPD auch noch mit Steuergeldern ihr braunes Gift verspritzen kann. Ich hoffe sehr, dass wir einen gerichtsfesten Weg finden, um verfassungsfeindliche Parteien künftig von der öffentlichen Finanzierung auszuschließen.

Denn die NPD mag zwar bei Wahlen in den vergangenen Jahren weniger Erfolg gehabt haben, und auch ihre Mitgliederzahl ist offenbar gesunken. Doch als ideologischer und finanzieller Rückhalt war und ist sie in der rechtsextremen Szene immer noch wichtig. Und es gibt eben Orte, in denen die Vereine und das öffentliche Leben von der NPD dominiert werden.

In diesen Orten gibt es meistens auch ganz wenige Aufrechte. Sehr mutige und engagierte Leute, die sich der NPD entgegenstellen. Das sind zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern im kleinen Ort Jamel das Ehepaar Birgit und Horst Lohmeyer und in Lübtheen die dortige Bürgerinitiative mit Bürgermeisterin Ute Lindenau an der Spitze. Der Zentralrat der Juden hat ihnen für dieses Engagement den Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage verliehen. Solche Menschen und Initiativen müssen unsere Unterstützung haben! Die demokratischen Parteien und wir alle müssen ihnen den Rücken stärken!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe eben erwähnt, dass sich die Zahl der antisemitischen Vorfälle auf konstant hohem Niveau bewegt. Ich möchte Ihnen auch einmal konkrete Beispiele nennen, mit denen wir im Alltag konfrontiert sind. Es handelt sich um Kommentare auf Facebook, nicht etwa auf rechtsextremen Seiten, sondern auf der Zentralrats-Seite. Sie wurden dort rund um den Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr gepostet:

„Und was ist mit dem Holocaust am deutschen Volk durch die Alliierten???? Der wird unter den Teppich gekehrt!!!! Ausserdem ist bekannt, dass die Familien Rothschild und Soros usw. die schlimmste Brut der Welt sind!!!!!!“

Oder: „Drecks Volk damals wie heute!!! Alles hat seinen Grund, ihr Hurenkinder. Man hasst euch überall. Und ich hoffe, der Hass wird schnell mehr gegen euch. Vor allem so wie eure Regierung und Volk sich benimmt, gehört ihr sofort weg vom Fenster!!!“

Wer also denkt, den alten, klassischen Antisemitismus oder die alten Vorurteile gegen Juden gäbe es nicht mehr, braucht nur ins Netz zu schauen, um eines Besseren belehrt zu werden. Wir löschen übrigens solche Kommentare nicht nur, sondern geben sie an den Staatsschutz weiter.

Die Strafverfolgung ist leider schwierig. Ein gesetzliches Vorgehen gegen Hate-Speech im Internet, speziell in den sozialen Netzwerken, ist unseres Erachtens dringend erforderlich! Solche Menschen dürfen im Internet keine Plattform finden!

Für mich machen solche Beispiele auch deutlich, dass wir Experten brauchen, die die verschiedenen Formen des Antisemitismus genau beobachten und wissenschaftlich aufarbeiten. Es ist gut, dass die Bundesregierung wieder einen Expertenkreis berufen hat. Derzeit warten wir auf den Bericht. Damit die Empfehlungen nicht in der Schublade verschwinden, sollte die Stelle eines Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung geschaffen werden.

Und wir brauchen engagierte Wissenschaftler für dieses Thema. So wie Professor Salzborn in Göttingen. Sollte er bei der Neuausschreibung der Professur nicht zum Zuge kommen, dann hoffe ich, dass er seine Arbeit an einer anderen Universität fortsetzen kann.

Die rechtsextreme Szene in Deutschland wird diffuser und befindet sich im Aufwind. Zu diesem Ergebnis kommen Verfassungsschützer und andere professionelle Beobachter übereinstimmend. Immer mehr Bürger radikalisieren sich, so dass es zunehmend Täter gibt, die vorher nie aufgefallen waren und die sich keiner Gruppierung zuordnen lassen. Die Zahl der Rechtsextremisten wird auf ungefähr 23.000 Personen geschätzt. In diese Zahl eingerechnet sind aber zum Beispiel nicht die so genannten Reichsbürger. Gerade erst haben wir die Nachrichten von Razzien gegen Reichsbürger gehört. Sie planten Anschläge gegen Polizisten, Asylbewerber und Juden. In Düsseldorf wurde jüngst nach 20 Jahren der mutmaßliche Täter des Rohrbombenanschlags festgenommen, bei dem mehrere jüdische Zuwanderer verletzt worden waren. Auch hier handelt es sich um einen Rechtsextremisten.

Es ist mir darum sehr ernst mit diesem Thema. Wir dürfen die Entwicklungen am rechten Rand nicht auf die leichte Schulter nehmen. Gerade weil die NPD nicht verboten wurde, sind jetzt der Staat und die Zivilgesellschaft gefordert, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu bekämpfen. Initiativen gegen Rechts brauchen unsere ideelle und finanzielle Unterstützung.

Daneben müssen Rechtsextremisten mit allen Mitteln des Rechtsstaats bekämpft werden. Hier sind Polizei und Justiz gefordert. Wenn etwa Jugendliche Hakenkreuze in Toilettentüren eines jüdischen Gemeindezentrums ritzen, dann darf dies nicht als „dummer Jungenstreich“ abgetan werden. Greift die Justiz schon bei ersten Ansätzen zu rechtsextremistischen Straftaten nicht hart durch, wird dies in der Szene als Freibrief verstanden.

Worum es beim Kampf gegen Rechtsextremismus geht, hat der frühere Zentralratspräsident Paul Spiegel sel. A. einmal sehr treffend ausgedrückt, so dass ich gerne seine Worte wiedergebe:

„Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht innehalten. Denn es geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Antisemitismus findet sich nicht nur bei Rechtsextremisten. Wir müssen auch über muslimischen Antisemitismus sprechen.

Anfang 2015 hat es für große Aufregung gesorgt, als ich in einem Radio-Interview gesagt habe, in bestimmten, muslimisch-geprägten Stadtteilen unserer Großstädte sei es nicht angeraten, mit Kippa herumzulaufen. Ich habe damit nur etwas ausgesprochen, was in jüdischen Kreisen als völlig normal gilt. Gerade in den großen Städten ziehen religiöse Juden über ihre Kippa häufig eine Basecap. Frauen verstecken die Kette mit dem Davidstern-Anhänger lieber unter dem Pullover. Das gilt mit Sicherheit in Gegenden, wo man Rechtsextremisten vermutet. Aber es ist auch eine Vorsichtsmaßnahme in muslimisch-geprägten Vierteln.

Dies auszusprechen, fällt mir nicht leicht. Sie können sich fast sicher sein, dass solche Aussagen genüsslich von der AfD zitiert werden. Und deshalb möchte ich ganz deutlich machen:

Die jüdische Gemeinschaft lehnt jede Form von Islam-Feindschaft ab! Die gehäuften Angriffe auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte verurteilen wir scharf. Auch nach Terroranschlägen von Islamisten verbietet sich jeder Generalverdacht gegen Muslime.

Zum Antisemitismus, den es unter Muslimen gibt, können wir dennoch nicht schweigen. Es gibt Imame, die Hass gegen Juden verbreiten. Es sind Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die mit einer tiefen Israel-Feindschaft aufgewachsen sind und zum Teil Hitler verehren. Auf türkischen Facebook-Seiten von DITIB wurden eindeutig antisemitische Parolen verbreitet. Ich halte es für einen richtigen Schritt der niedersächsischen Landesregierung, die die Kooperation mit DITIB auf den Prüfstand zu stellen.

Wir beobachten auch in Frankreich ein besonders spannungsreiches Verhältnis zwischen muslimischen Einwanderern aus den Maghreb-Staaten und der jüdischen Gemeinschaft. Vorfälle wie der Angriff auf die jüdische Schule in Toulouse werden auch bei uns aufmerksam registriert.

Und ebenso ängstigen uns – ähnlich wie in der übrigen Bevölkerung – die islamistischen Terroranschläge. Sie verursachen ein Gefühl der Unsicherheit. Extremisten und Populisten haben es dadurch leichter, Anhänger zu finden. Für uns Juden ist zudem klar: Wir rangieren auf der Feindesliste der Islamisten ganz oben. Der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel, auf die Synagoge in Kopenhagen und die Geiselnahme im koscheren Supermarkt in Paris sprechen für sich.

Angesichts dieser Gemengelage – der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, der größer und diffuser werdenden rechtsextremistischen Szene und des wachsenden Antisemitismus - stellt sich die Frage: Sind wir bald Fremde im eigenen Land? Wo ist unser Platz in der Gesellschaft? Haben wir Juden in Deutschland eine sichere Zukunft?

Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, komme ich zum dritten Themenfeld: die Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt, die wir spätestens seit 2015, seit den Pegida-Demonstrationen beobachten müssen. Es ist eine Entwicklung, die beileibe nicht nur die jüdische Gemeinschaft betrifft. Doch in unseren Reihen sorgt sie vermutlich für stärkere Beunruhigung.

Was ich im Blick habe, sind Demonstrationen, auf denen Hass gegen Minderheiten geschürt wird, und an denen Bürger aus der Mitte der Gesellschaft teilnehmen. Im Blick habe ich neue Parteien wie die AfD, die auf Ausgrenzung setzt, die gezielt provoziert und sich hinterher stets missverstanden fühlt. Und ich meine insgesamt den rauheren Ton, die verbale Enthemmung, das kältere Klima.

Der ein oder andere zieht bereits Vergleiche zu den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es trifft sich eigentlich ganz gut, dass der letzte Vortrag hier im „Parlamentsleben“ die Weimarer Republik zum Thema hatte. Darin hat Professor Schumann deutlich gemacht: Berlin ist nicht Weimar. Und das hat er, wenn ich seine Rede richtig gelesen habe, schlüssig begründet.

Aber Anklänge gibt es schon. Die Frage, wer die Kontrolle des öffentlichen Raums innehatte, spielte in der Weimarer Republik mit ihren Straßenkämpfen eine wichtige Rolle. Nach der Silvesternacht in Köln 2015/2016 wurde diese Frage auch bei uns gestellt. Wenn sich Bürger vor einem wütenden Mob auf der Straße nicht mehr geschützt fühlen können, dann läuten bei vielen, gerade älteren Juden die Alarmglocken. Daher hat Professor Schumann zu Recht festgestellt, dass der demokratische Rechtsstaat seine Mittel, Gewalt zu unterbinden, entschlossen einsetzen muss. Der Bundesrepublik traut er dies zu. Am Ende der Weimarer Republik war dies nicht mehr Fall.

Ob der Vergleich zu Weimar nun taugt oder nicht - es ist ein kälterer Wind, der in Deutschland weht. Für diese Abkühlung trägt die AfD die Hauptverantwortung. Wenn man sich die Reden und Programmatik dieser Partei anschaut, fragt man sich: Wo wollen sie hin? Ins Deutschland der 1950er Jahre? Oder gar – um hier wieder den Bogen zu Weimar zu schlagen – in die 30er Jahre? Die permanenten Sticheleien gegen Ausländer, gegen Asylbewerber, gegen Muslime, gegen Homosexuelle – damit schürt die AfD Ressentiments, die leider immer noch in unserer Gesellschaft schlummerten und nun wieder wachgerüttelt werden. Sie nimmt damit wissentlich in Kauf, dass es mit verbalem Zündeln anfängt und mit brennenden Asylbewerberheimen aufhört.

Und in der jüdischen Gemeinschaft sind wir uns völlig im Klaren: Früher oder später sind auch wir Juden an der Reihe. Über ein Verbot der Beschneidung oder des Schächtens wurde längst in der AfD diskutiert. Sie versuchen zwar mitunter, bei uns auf Stimmenfang zu gehen und geben sich Israel-freundlich. Doch davon lassen wir uns nicht blenden. Erst jüngst berichtete die FAZ von einem auf einer Klausurtagung beschlossenen Antrag der AfD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Israel-Stipendien im Haushaltsplan des Landes zu streichen.

Die Programmatik der AfD könnte uns relativ kalt lassen, wenn es sich um eine kleine Splitterpartei handeln würde. Doch leider ist die AfD in immer mehr Landtagen und – so müssen wir befürchten – auch im nächsten Bundestag vertreten.

Die AfD versteht sich so gut auf gezielte Provokationen, dass sie sogar vom früheren NPD-Vorsitzenden Holger Apfel Applaus bekommt. Es ist sehr typisch für die AfD, erst das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ zu bezeichnen, das das deutsche Volk in das „Herz seiner Hauptstadt gepflanzt“ habe. Und anschließend zu behaupten, man sei missverstanden worden. Oder zunächst einen Antrag zu stellen, Schülerfahrten zur KZ-Gedenkstätte Gurs nicht mehr zu bezuschussen und hinterher von einem Irrtum zu sprechen.

In diesem Super-Wahljahr wird die AfD versuchen, die Stimmung noch mehr anzuheizen und die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen. Die Rede von Björn Höcke in Dresden zeigt uns, dass der AfD dabei jedes Mittel recht ist. Jedes Thema wird instrumentalisiert, sogar die Opfer der Schoa, wenn man damit Aufmerksamkeit erregen kann. Ich denke, es wäre angemessen, Teile der Partei vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen!

Und ich appelliere in diesem Wahljahr an die etablierten Parteien: Machen Sie dieses Spiel der Provokationen nicht mit! Bleiben Sie besonnen! Sicherlich ist dies im Wahlkampf nicht immer leicht. Wir schlagen die AfD jedoch nicht mit ihren eigenen Waffen, sondern mit Mut und Aufrichtigkeit.

Lassen Sie mich an dieser Stelle Max Mannheimer zitieren, der Auschwitz und Dachau überlebt hatte und leider im vergangenen Jahr von uns gegangen ist: „Wenn diese Spirale des Hasses immer weiter geht, dann gibt es überhaupt kein Ende. Hass ist das Schlimmste, was im Menschen steckt.“ Nur mit dieser Grundhaltung war das Weiterleben, war die Versöhnung für viele Juden nach dem Krieg überhaupt möglich.

Der Tonfall der Versöhnung geht derzeit leider häufig im Getöse der Spalter unter. Wie sehr wird die Gesellschaft auseinanderdriften? Gehen Toleranz und Respekt noch mehr verloren? Wie stark ist der Schutz für Minderheiten? Für solche Fragen hat gerade die jüdische Gemeinschaft feine Sensoren. Sie treiben uns um – und lassen unsere Warnlampen häufiger blinken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit steht die Frage im Raum: Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Was ich definitiv sagen kann: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland steht nicht vor einer Auswanderungswelle. Auch in Frankreich ist die Auswanderung von Juden nach Israel bereits wieder zurückgegangen. Es war letztlich nur ein geringer Anteil der französischen Juden, der ausgewandert ist. In Deutschland ist dies kein Thema.

Die Konsequenz, die wir aus diesem Gefühl der Unsicherheit ziehen, ist eine andere: Wir versuchen, unseren bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, die Verhältnisse zu verbessern. Nun sind wir weder größenwahnsinnig, noch ist der weltweite Einfluss von Juden so groß, wie Antisemiten es gerne beschwören. Doch es gibt kleine Schritte, die wir unternehmen. Schritte im Übrigen, wie sie jeder Bürger tun kann. Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele nennen.

Ein großes Manko in Deutschland ist das mangelnde Wissen der Mehrheitsgesellschaft über das Judentum. Und wie überall gilt: Was ich nicht kenne, macht mir Angst. Daher arbeiten wir auf vielen Ebenen daran, das Wissen über das Judentum zu vergrößern und persönliche Begegnungen zu schaffen. Antisemitische Vorurteile sind häufig tradiert, verinnerlicht. Beim persönlichen Kennenlernen fallen sie oft ganz schnell in sich zusammen.

Den Austausch fördern wir auf allen Ebenen. Um auf der kommunalen Ebene anzufangen: Die meisten jüdischen Gemeinden bieten Führungen für Schulklassen an, laden zum Tag der offenen Tür oder organisieren interreligiöse Gespräche.

Ein weiteres Beispiel: Der Zentralrat der Juden hat in Deutschland den so genannten Mitzvah Day initiiert. Eine Mitzwe ist eine gute Tat. An diesem Tag machen jüdische Gemeinden und Organisationen – übrigens auch schon häufiger die Israelische Botschaft - bundesweit soziale Aktionen: Sie besuchen alte Menschen in Seniorenheimen, sie machen einen Ausflug mit behinderten Menschen, sie backen Kuchen für die Polizisten, die ihre Schule bewachen oder - seit 2015 – sie gehen in Flüchtlingsunterkünfte, um dort den Menschen etwas Abwechselung zu bieten. Bei diesen Aktionen arbeiten die jüdischen Gemeinden und Organisationen oft mit anderen, nicht-jüdischen Einrichtungen zusammen. Auch dies fördert das gegenseitige Kennenlernen.

Und auch auf politischer Ebene haben wir das Thema natürlich im Blick. So hat der Zentralrat der Juden - um ein Beispiel zu nennen - erst im Dezember mit der Kultusministerkonferenz eine gemeinsame Erklärung zur Vermittlung des Judentums im Unterricht verabschiedet, zum ersten Mal übrigens.

Denn uns war aufgefallen, dass in den Schulen sehr häufig Juden nur in ihrer Rolle als Opfer behandelt werden. Die Vielfalt der jüdischen Kultur und Religion, die das Geistesleben in Deutschland über Jahrhunderte mit geprägt hat, kommt häufig zu kurz. Das soll sich ändern. Dafür erarbeiten wir gemeinsam mit der KMK jetzt auch Handreichungen und Materialien.

Und, das ist mir wichtig zu betonen, wir stoßen mit unseren Anliegen eigentlich immer auf offene Ohren. Es gibt ein großes Interesse, ja eine Neugier, das heutige jüdische Leben besser kennenzulernen. Auch mit den beiden großen christlichen Kirchen arbeiten wir eng zusammen.

Beim Abbau alter, tradierter antisemitischer Vorurteile sind die Kirchen für uns wichtige Partner. Denn es ist kein Geheimnis, dass die über Jahrhunderte gepflegte Judenfeindschaft der Kirchen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Anteil am Antisemitismus in der Gesellschaft hatte. Ich sage, bis in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, denn auch nach der Schoa hat es noch eine Weile gedauert, bis die selbstkritische Reflexion der Kirchen begann. Nicht unerheblich dabei waren übrigens engagierte Einzelkämpfer auf beiden Seiten, der christlichen und der jüdischen. Es waren jene Menschen, die wenige Jahre nach dem Krieg im ganzen Land die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gründeten. Bis heute sind sie für den Dialog wichtig.

In der katholischen Kirche war die Konzilserklärung „Nostra Aetate“ von 1965 ein Meilenstein für die Abkehr vom kirchlichen Antisemitismus und der Judenmission. Erst 2015 hat sich die katholische Kirche erneut zu den Inhalten dieser Erklärung bekannt.

In der evangelischen Kirche – um ein aktuelles Beispiel zu nennen - findet anlässlich des Reformationsjubiläums eine neue und intensive Auseinandersetzung mit den antisemitischen Schriften Martin Luthers statt. Die EKD hat dabei auch einen engen Kontakt zum Zentralrat der Juden gepflegt. Dieses ehrliche Ringen um eine Neupositionierung wissen wir sehr zu schätzen!

Und auch solche Aktionen wie demnächst hier in Hannover, wo ein „Interreligiöses Frauenmahl“ veranstaltet wird, sind ganz wichtig Beiträge für unseren Zusammenhalt.

Ohne, dass ich unsere Unterschiede verwischen möchte, kann ich sagen: Aus früheren Feinden sind Partner geworden. In kritischen Situationen sind es häufig die Kirchen, die uns als erstes solidarisch zur Seite stehen. Und auch die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung wird von den Kirchen mit ebensolcher Sorge betrachtet wie bei uns. So hat gerade erst die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische

Oberlausitz ein Konzept zur Erinnerungskultur verabschiedet, in dem auch das „Klima der Intoleranz“ beklagt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt etwas sehr Wertvolles, das die Religionsgemeinschaften in diese Gesellschaft einbringen können, und das gilt nicht nur für die Christen und Juden, sondern auch für die Muslime: Das sind unsere Werte.

Diese Werte stehen dem, was von AfD und Co. propagiert wird, diametral entgegen: Es sind Werte wie Nächstenliebe, Fürsorge für Schwächere und Respekt. Im Judentum gibt es den schönen Ausdruck „Tikkun Olam“ - Verbessere die Welt. Es bedeutet, dass jeder seinen kleinen Beitrag leisten soll, um die Welt ein Stückchen besser zu machen, oder wörtlich übersetzt: zu reparieren.

In der jüdischen Gemeinschaft versuchen wir vor allem, den jungen Menschen diese Werte zu vermitteln. Sie werden sich jetzt denken: Na, und? Nichts besonderes. Das versuchen wir ja wohl alle, und nicht nur in den Religionsgemeinschaften. Das stimmt.

Es macht jedoch einen Unterschied aus, ob man Teil einer sehr kleinen Minderheit ist oder zu einer großen Bevölkerungsgruppe gehört. Uns ist es ein wichtiges Anliegen, die jüdische Identität der jungen Leute zu stärken. Die meisten von ihnen wachsen in einer komplett nicht-jüdischen Umgebung auf. Häufig gibt es nicht einmal eine jüdische Schule. Judentum erleben sie dann nur zu Hause und in der Gemeinde. Es ist schon eine Herausforderung, ihnen ein festes Fundament zu geben.

Daher sind wir auch sehr froh, dass die Zahl der jüdischen Schulen in Deutschland wächst. Neben den jüdischen Grundschulen haben wir gerade erst zum Beginn des jetzt laufenden Schuljahrs zwei weitere jüdische Gymnasien eröffnet, in Düsseldorf und München. Weiterführende jüdische Schulen gibt es auch in Berlin, Frankfurt am Main und Hamburg.

Und ebenso ist für uns die steigende Zahl an Rabbinern ein großer Gewinn. Seit 2006 ordinieren wir wieder in Deutschland ausgebildete Rabbiner und können immer mehr Gemeinden mit einem eigenen Rabbiner ausstatten.

Jugendarbeit findet natürlich vorrangig in den jüdischen Gemeinden statt. Der Zentralrat der Juden unterstützt die Gemeinden dabei. Und einmal im Jahr richten wir ein ganz besonderes Event für Jugendliche aus: die Jewrovision. Das ist ein Tanz- und Gesangswettbewerb nach dem Vorbild des Eurovision Song Contest, an dem mehr als 1.000 jüdische Jugendliche aus ganz Deutschland teilnehmen. Der Clou ist, dass wir diesen Wettbewerb in eine religiöse Jugendfreizeit einbetten und dass die Teilnehmer in ihren Liedern und Darbietungen stets ein Motto umsetzen müssen. So verbindet sich der Spaß am Event mit der Auseinandersetzung über die eigene Herkunft und Identität.

Bei dieser Wertevermittlung, die uns nach innen stärkt, sehe ich in unserer Gesellschaft insgesamt Defizite. Hier sind Eltern und Bildungseinrichtungen gleichermaßen gefordert. Gerade angesichts der steigenden Zahlen von Menschen aus anderen Kulturkreisen ist dies so wichtig.

Und hier möchte ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der gerade der jüdischen Gemeinschaft sehr am Herzen liegt: die Erinnerung an die Schoah. Sie gehört für uns konstitutiv dazu. Wir gedenken unserer Toten. Wir benötigen keine Begründung, warum das heute noch wichtig ist. Sechs Millionen ermordete Juden sind sechs Millionen Gründe, sich zu erinnern.

Bundespräsident Joachim Gauck hat einmal gesagt: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Das beschreibt meines Erachtens sehr prägnant die Haltung, die wir haben müssen, auch in einer Einwanderungsgesellschaft. Dabei geht es ja für die heutigen Generationen nicht mehr um Schuld. Sondern es geht darum zu zeigen, zu welchen Verbrechen Menschen fähig sind, wie es dazu kommen konnte, und ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln, um ähnliche Tendenzen schon im Keim zu ersticken.

Ich plädiere daher nachhaltig für Gedenkstättenbesuche von Schülern. An den authentischen Orten können junge Menschen auch heute noch die Dimension der NS-Verbrechen viel besser erfassen als aus dem Schulbuch. Empathie mit den Opfern und Verantwortungsbewusstsein entstehen nicht anhand nackter Zahlen. Eine individuelle Auseinandersetzung mit der Nazizeit gelingt besser an den Orten, an denen die Verbrechen geschahen. Auch in der Polizei-, Lehrer- und Juristenausbildung halte ich Gedenkstättenbesuche für sinnvoll.

Wir sind gefordert, eine Gedenkkultur zu entwickeln, die auch 70 Jahre nach Kriegsende noch die Menschen erreicht, und die zu einer Einwanderungsgesellschaft passt. Das ist eine große Herausforderung.

Ich bin gar nicht pessimistisch, dass eine Auseinandersetzung mit der Schoah nicht auch in einer Migrationsgesellschaft möglich ist. Unter den Migranten sind viele Menschen, die selbst Diskriminierung und Rassismus erlebt haben oder immer noch erleben. Es sind Menschen darunter, deren Familien aus ihrer Heimat fliehen mussten, Menschen, die in Diktaturen, in Flüchtlingslagern oder Armut gelebt haben. Warum sollten diese Menschen weniger in der Lage sein, Empathie für die Opfer der Schoah aufzubringen? Oder warum sollten sie weniger interessiert sein an der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn es in unserer Zeit noch zu Prozessen gegen NS-Täter kommt, wird manchmal die Frage laut, ob das denn richtig sei angesichts des hohen Alters der Angeklagten. Ich möchte einmal darauf hinweisen: Es sind auch noch Schoah-Überlebende unter uns. Ihr ganzes Leben lang, Tag für Tag, haben sie unter ihren Erinnerungen gelitten und leiden bis heute. Es gibt für sie kein Entkommen.

Die meisten Täter hingegen haben sich nach dem Krieg bestens arrangiert, oft ihre Karrieren ungehindert fortgesetzt. Warum sollten wir sie heute schonen? Gestehen wir den Opfern nicht wenigstens ein klein wenig späte Gerechtigkeit zu?

Eine moderne Form der Erinnerung, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind für mich auch die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig. In mehr als 20 Ländern Europas sind mittlerweile rund 60.000 Steine verlegt worden. Auch hier in Niedersachsen sind überall im Land die Stolpersteine zu finden.

Die Stolpersteine überraschen uns mitten im Alltag. In Würzburg, wo ich zu Hause bin, sind direkt vor dem Kaufhof Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an die früheren jüdischen Kaufhausbesitzer Ruschkewitz. Ich nehme mir manchmal die Zeit, die Passanten zu beobachten. Nicht wenige bleiben abrupt stehen, wenn sie die kleinen Messingplatten entdecken. So werden die Bürger mit der Geschichte konfrontiert, ohne dafür aktiv einen Erinnerungsort oder ein Museum aufsuchen zu müssen.

Darüber hinaus plädiere ich auch dafür, feste Gedenktage beizubehalten. Kritiker sprechen von starren Ritualen, die heute niemanden mehr erreichen. Diese Einschätzung teile ich nicht. Feststehende Gedenktage disziplinieren uns, in der sich scheinbar immer schneller drehenden Welt innezuhalten und den Blick zurückzuwerfen. Auch das ist wichtig und sinnvoll.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Dezember vergangenen Jahres hat der Zentralrat der Juden zum dritten Mal einen sogenannten Gemeindetag veranstaltet. Ein viertägiges anspruchsvolles und buntes Programm für rund 1.200 Mitglieder der jüdischen Gemeinden.

Es waren rundum fröhliche und glückliche Tage, in denen alle es genossen haben, Teil dieser jüdischen Gemeinschaft zu sein. Am Ende der Veranstaltung brachte ein älteres Gemeindemitglied aus Dresden auf den Punkt, was wir alle empfunden haben. Ich möchte Ihnen das gerne wiedergeben.

Die Familie dieser Dame war der Verfolgung nur entkommen wegen der alliierten Bombenangriffe auf Dresden. Sie sagte: „Wenn ich meinem Vater gesagt hätte, Dresden wird eine neue Synagoge haben, Chemnitz wird eine neue Synagoge haben, der hätte gesagt: Du warst schon immer ein bisschen verrückt. Es hätte niemand gedacht, dass es diese Entwicklung geben wird, unter dem Schutze des Landes. Dafür müssen wir dankbar sein.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir hören sehr oft von außen, dass man dankbar sein müsse für das wieder enstandene jüdische Leben in Deutschland. Wir selbst sind auch dankbar dafür! Gerade weil wir wissen, dass dies nicht selbstverständlich ist, werden wir immer dafür kämpfen, es zu erhalten.

Unser Koffer sind ausgepackt. Unser Platz ist in Deutschland. Als Bürger dieses Landes wollen und werden wir mitarbeiten an einem toleranten und friedlichen Miteinander, an einem Land, in dem wir gerne und sicher leben.

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