„Die Schatten der Vergangenheit dürfen nicht die Zukunft verdunkeln – Gedanken zur Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland



Rede von Präsident Paul Spiegel anlässlich des Neujahrsempfangs des Wirtschaftsclub Düsseldorf

Möglichst viel von der Lebenswelt eines Mitmenschen zu wissen, ist das wirksamste Mittel gegen Vorurteile. So banal diese Einsicht sein mag, und so viele Menschen beteuern, sie stets zu beherzigen – so wenig ist sie tatsächlich Allgemeingut und in der Gesellschaft verankert. Aus diesem Grund liegt mir nicht erst seit meinem Amtsantritt als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sehr daran, das Kennenlernen zwischen Nichtjuden und Juden zu fördern. Interessierte, aufgeschlossene Zeitgenossen unter den Nichtjuden, die mein Anliegen teilen, scheitern leider oft an der Tatsache, dass sie gar keinen entsprechenden Ansprechpartner kennen. In Deutschland leben schließlich nur etwas mehr als 100.000 Juden, und der Einlass beispielsweise in jüdische Gemeindehäuser ist aufgrund des hohen Sicherheitsbedarfs nicht so ohne weiteres möglich. Ich bedauere diese Umstände sehr, denn besonders für junge Menschen ist der persönliche Kontakt der beste Weg, um einen Zugang zu diesem vielschichtigen Thema zu bekommen. Zweifellos gibt es auch hervorragende Bücher über das Judentum, den Holocaust oder das deutsch-jüdische Verhältnis. Das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, zumal mit Opfern oder Zeitzeugen, kann durch Literatur jedoch nur ergänzt, niemals ersetzt werden.

Jüdisches Leben war bis 1933 integrativer Teil des kulturellen, wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland. Aus jüdischer wie nichtjüdischer Sicht spielte das Gemeindeleben der Juden damals eine ebenso wichtige oder unwichtige Rolle wie auf christlicher Seite die Aktivitäten in den Kirchengemeinden. Das Besondere war nicht dieser institutionalisierte Teil des jüdischen Lebens, sondern das Ausmaß der Verwurzelung der Juden in der deutschen Gesellschaft und Kultur. Charakteristisch für die deutsch-jüdische Erfahrung vor Hitlers Machtergreifung war – ungeachtet eines immer mehr oder weniger latent bestehenden Antisemitismus - das hohe Maß an Austausch und wechselseitiger Anregung. Wie intensiv diese Verflechtung war, belegen die ideologischen und juristischen Anstrengungen, die von den Nazis unternommen werden mussten, um die zwischen Deutschtum und Judentum durch die Jahrhunderte entstandenen Bande zu durchtrennen.

Kaum jemand erkannte, dass diese Maßnahmen zur Bereinigung des vermeintlich reindeutschen Erbes von jüdischen Einflüssen Vorboten der nahenden Katastrophe waren. Was folgte, kam einer Selbstamputation des deutschen Volkes gleich: Millionen von Mitmenschen - Nachbarn, Freunde, Schulkameraden, Lehrer, Angehörige, Landsleute jeden Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft - wurden wegen ihrer Religion verraten, vertrieben, gequält und ermordet.

Vor 1933 lebten in Deutschland etwa 570.000 Juden. Als der Zentralrat nur 17 Jahre später, im Juli 1950, seine Arbeit aufnahm, belief sich ihre Zahl nur noch auf rund 20.000 Menschen. Die Anfänge der Arbeit der jüdischen Dachorganisation waren von Trauer und Verzweiflung geprägt. Zugleich aber auch von einer ermutigenden Entschlossenheit und Zuversicht. Die engagierten Gründer des Zentralrats versuchten, den wenigen am Leben gebliebenen Juden, die zaghaft begannen, in Deutschland wieder heimisch zu werden, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Das Schicksal der Überlebenden der Konzentrationslager ist weitgehend unbekannt. Ob aus Scham oder Gleichgültigkeit fanden diese schwer traumatisierten Menschen im befreiten Deutschland der Nachkriegszeit nur wenig Beachtung. Gemessen an der Zahl von insgesamt rund 7 Millionen Displaced-Persons, die infolge des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben, verschleppt oder geflohen waren, stellten die den Konzentrationslagern entkommenen Juden nach dem millionenfachen Morden nur noch eine kleine Gruppe dar. „Rest der Geretteten" nannten sich diese Menschen, die bei Kriegsende zwar befreit waren, für die sich das Lagerleben jedoch in den Displaced-Person-Camps fortsetzte. Abstand von dem Erlebten ließ sich auf diese Weise nicht entwickeln. Die traumatischen Erinnerungen an die Haftzeit im KZ und die Unterbringung im DP-Lager verschmolzen bei der Mehrzahl der Geretteten zu einem fließend ineinander übergehenden, grauenvollen Lebensabschnitt.

Die Mehrheit dieser Juden versuchte der belastenden Situation im DP-Camp und dem Leben in Deutschland möglichst schnell durch Auswanderung zu entkommen. Von den Menschen, die nach der Auflösung der Camps aus unterschiedlichen persönlichen Gründen blieben, fühlten sich fast alle zeitlebens als Durchreisende. Besonders den vielen osteuropäischen Juden war es unmöglich, ein Heimatgefühl im Land der ehemaligen Mörder zu entwickeln. Deutschland stand in ihrer Wahrnehmung für unendliche Qual, für Entwurzelung und die Vernichtung der eigenen Welt.

Entsprechend waren auch die von ihnen gegründeten jüdischen Gemeinden nur als Provisorien gedacht. Den mehrheitlich religiös orthodox geprägten Mitgliedern dienten die Gemeinden als Ort des Rückzugs und der so lange schmerzlich entbehrten Pflege überlieferter jüdischer Traditionen und Bräuche. Und doch: Was ursprünglich nur als Übergangslösung bis zur Auswanderung gedacht war, bildete die Grundlage für die Wiederbelebung jüdischen Lebens in Deutschland.

Die erste Generation von Juden, die wieder in Deutschland aufwuchs, litt unter dem Widerspruch, ausgerechnet in dem Land aufwachsen zu müssen, das den Eltern so viel Leid zugefügt hatte. Entsprechend groß war unter ihnen die Zahl derjenigen, die im entsprechenden Alter den Entschluss fassten, auszuwandern. Sie wollten fern der schwierigen deutschen Heimat versuchen, ein normales, unbelastetes Leben zu führen. Viele von ihnen sind nach einiger Zeit wieder zurückgekehrt. Ernüchtert hatten sie festgestellt, das Deutschland längst ihr Zuhause geworden war.

Charakteristisch für die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden war seit seiner Gründung ein ausgeprägtes Gefühl der Verbundenheit mit dem Staat Israel. Israel galt und gilt als eine Art Lebensversicherung, falls sich in Deutschland oder anderswo wieder Juden zur Flucht gezwungen sehen oder das Gefühl der Bedrohung übermächtig wird. Hinzu kommt ein unterschwellig schlechtes Gewissen bei vielen Überlebenden und deren Angehörigen, nach dem Krieg nicht nach Israel übergesiedelt zu sein. Dieses Empfinden wurde bis vor wenigen Jahren dadurch verstärkt, dass deutsche Juden innerhalb der jüdischen Welt geradezu verachtet wurden. Ob in Europa oder den USA, die wenigsten dort lebenden Juden konnten nachvollziehen, warum sich Juden im Land des Nazi-Terrors niedergelassen hatten. Wer als Jude in Deutschland heimisch geworden war, galt als Verräter. Erst 1990 setzte eine Wandlung ein, als der World Jewish Congress entschied, seine Jahreskonferenz im wiedervereinigten Berlin abzuhalten.

Seit diesem Zeitpunkt war auch klar, dass eine weitere Ächtung der deutschen Juden unglaubwürdig und realitätsfern gewesen wäre. Schließlich lebte die jüdische Gemeinschaft inzwischen wieder in der dritten Generation nach dem Holocaust in Deutschland. Der Staat Israel und die Bundesrepublik hatten zu diesem Zeitpunkt längst ein fast schon partnerschaftliches Verhältnis sowohl auf wirtschaftlicher wie auch auf politischer Ebene. Innerhalb der EU vertrat und vertritt Deutschland ganz hervorragend die israelische Sache und ist außenpolitisch ebenfalls ein ehrlicher, verlässlicher Makler im Nahost-Konflikt.

Was nun das Miteinander von jüdischer Gemeinschaft und deutscher Gesellschaft betraf, so gab es in den Nachkriegsjahren nur wenige wechselseitige Kontakte. Deutschland war auf seinen Wiederaufbau konzentriert und befasste sich noch lange nicht mit der Aufarbeitung des Massenmordes während des Zweiten Weltkriegs. Auch seitens der Bundesregierung gab es zu der Zeit keine noch so kleine Geste der Handreichung, wie etwa eine Einladung zur Rückkehr an die Adresse der ehemaligen deutschen, inzwischen im Ausland lebenden Juden. Gleichwohl sind die Anstrengungen Konrad Adenauers hervorzuheben:

Gegen heftige Widerstände in der Bevölkerung und im Kabinett setzte er 1952 im Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel die so genannte „Wiedergutmachung" in Form einer globalen Entschädigungszahlung durch.

In den 60er Jahren ließ sich innerhalb der jüdischen Gemeinden ein langsamer Wandel beobachten. Man richtete sich aufs Bleiben ein. Eheschließungen und Geburten nahmen stark zu. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust trat zwar etwas in den Hintergrund, die Erinnerung an das Unfassbare lebte jedoch fort. Noch immer erinnerte viel im Alltag an das Gewesene und es blieb bei dem distanzierten Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden.

In den späten 60er Jahren begannen zudem politische Überzeugungen das deutsch-jüdische Verhältnis zu beeinflussen. Die deutsche Studentenbewegung, die sich gegen den Muff der autoritären Adenauer-Ära auflehnte und die Verlogenheit der Elterngeneration anprangerte, sprach Themen und Ziele an, die auch bei jüdischen Jugendlichen auf Interesse und Zustimmung stießen.

Dieser Konsens war jedoch nur vorübergehend. Der Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten 1967 und die harsche Reaktion der neuen Linken in Deutschland darauf ließen die gegenseitige Distanz wieder größer werden.

Die 70er und 80er Jahre gelten als Phase der Konsolidierung im deutsch-jüdischen Verhältnis. Die von Willy Brandt verfolgte Politik der Aussöhnung, symbolisiert in dem Kniefall vor dem Denkmal der Ermordeten des Warschauer Ghettos, schuf Zuversicht. Eine Zuversicht, die auch von den nachfolgenden Regierungen nicht enttäuscht wurde. Bauvorhaben wurden in Angriff genommen, Synagogen und Gemeindezentren entstanden. Die neuen Gebäude waren deutlicher Ausdruck des Vertrauens in die demokratisch legitimierten Institutionen der Bundesrepublik und deren Wehrhaftigkeit gegenüber Antisemitismus und Diskriminierung. Überhaupt war in jenen Jahren feststellbar, dass die so genannte Enkelgeneration, also junge Juden, deren Vorfahren im Holocaust ermordet worden waren, zunehmend an öffentlichen Diskursen teilnahm und sich politisch zu engagieren begann.

Die Wiedervereinigung Deutschlands und die zeitgleich stattfindende politische Wende in Osteuropa haben für unser Land und damit auch für die jüdischen Gemeinden grundlegende Veränderungen mit sich gebracht. Seit 1990 verzeichnet die jüdische Gemeinschaft einen steten Zustrom überwiegend russischsprachiger Zuwanderer.

Wer sich vorurteilslos mit dem Schicksal dieser Menschen beschäftigen will, muss sich ein zeitgemäßes, realistisches Bild von der Lebenssituation der Auswanderer und ihren Motiven machen. Besonders die Juden in Russland erleben trotz politischer Wende in den GUS-Staaten, trotz Glasnost und Perestroika und einigen kritischen Stellungnahmen und Appellen von Regierungsseite, ein Ausmaß an Antisemitismus, das in Westeuropa weitgehend überwunden ist.

Diese Form von Antisemitismus und Rassismus tritt bis heute in vielen Regionen der ehemaligen GUS-Staaten massiv in Erscheinung. Eine verhängnisvolle Folge davon ist vielerorts, dass sich die jüdische Bevölkerung, obschon größtenteils nicht einmal religiös, längst nicht mehr öffentlich zum Judentum bekennt, über die Bedrohungen eingeschüchtert schweigt und jede kritische Stellungnahme zu den rechtsradikalen Umtrieben vermeidet. Die Auswanderung in den Westen bietet die Möglichkeit, dieser Situation zu entfliehen und die Sorge angesichts der instabilen wirtschaftlichen und politischen Lage hinter sich zu lassen.

Nach wie vor sind Israel und die USA die begehrtesten Ziele unter den Auswanderungswilligen. Deutschland, das jahrzehntelang lediglich als Durchgangsstation in Richtung Amerika galt, steht an dritter Stelle. Die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland haben seit Beginn der 90er Jahre insgesamt rund 80.000 jüdische Emigranten aus den ehemaligen GUS-Staaten aufgenommen. Inzwischen sind die Zuwanderungsbestimmungen restriktiver und die Zahlen entsprechend rückläufig.

Ungeachtet aller Probleme im Zusammenhang mit der Zuwanderung besteht Anlass zur Freude. Auf Grund der Überalterung ihrer Mitglieder und dem Wegzug der wenigen Jugendlichen nach Israel, Amerika oder in große deutsche Städte, drohten viele jüdische Kultusgemeinden auszusterben. Durch den Zuzug aus Russland und benachbarten Staaten wachsen diese Gemeinden wieder. Die größte jüdische Gemeinde Deutschlands lebt in Berlin und zählt rund 13. 000 Mitglieder. Von ihnen sind fast 70 % in den vergangenen fünfzehn Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert.

Die meisten anderen jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik sind mit 200 bis 2.000 Mitgliedern weitaus kleiner. Der Anteil russischsprachiger Juden liegt hier zwischen 90 und 100 %. Nach nunmehr über zehn Jahren Einwanderung aus den GUS-Republiken lässt sich als weitere erfreuliche Tatsache festhalten, dass die Konfrontation mit dem Problem der Einwanderung das jüdische Gemeindeleben neu aktiviert hat. Gemeinden, Landesverbände, Zentralrat und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland arbeiten bei der Bewältigung des Zustroms an Migranten eng zusammen. Bund, Länder und Kommunen sowie eine große Anzahl an karitativen und kirchlichen Organisationen unterstützen unsere Arbeit finanziell, zum Teil logistisch oder auch mit eigenen Kurs-Angeboten. Engagierte Gemeindemitglieder leisten vor Ort, noch dazu meist ehrenamtlich, Übermenschliches.

Die Arbeitsplatzbeschaffung stellt das weitaus größte Problem dar. Die hohen Erwartungen der Ankömmlinge erklären sich jedoch nicht nur aus einem übersteigert positiven Bild von den wirtschaftlichen Perspektiven in Deutschland. Vielmehr handelt es sich bei der Mehrheit der Einwanderer um leistungsorientierte, gut ausgebildete Hochschulabgänger und Spezialisten, die in ihren Heimatländern hochqualifizierten Tätigkeiten nachgingen. Der Wunsch, hier entsprechend eingesetzt zu werden, ist verständlich, aber in den wenigsten Fällen realisierbar.

Die Erfolge und Misserfolge bei den Integrationsbemühungen, die Freuden und Ärgernisse und die vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft machen eines ganz deutlich: Eingliederung ist keine Sache von Wochen. Geduld und Aufgeschlossenheit sind von beiden Seiten noch lange gefragt. Ein oder zwei Generationen wird es sicher dauern, bis die jüdischen Gemeinden in Deutschland die reiche Ernte unserer jetzigen Anstrengungen werden einfahren können.

Die Einwanderung aus den ehemaligen GUS-Staaten ist ein zentrales Kapitel in der jüngsten Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Es gibt jedoch noch ein weiteres Ereignis, das in dem hier behandelten Zusammenhang nicht übergangen werden darf: die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland am 27. Januar 2003. Ein Anlass zum Feiern - für beide Seiten. Erstmalig existiert ein Dokument, in dem sich der deutsche Staat in dieser Form hinter die in Deutschland lebenden Juden stellt und seine Unterstützung auf sozialem, kulturellem und integrationspolitischem Gebiet zusagt.

Jährliche Zuwendungen in Höhe von drei Millionen Euro sieht das Abkommen vor. So hilfreich diese Summe sein mag, der symbolische Wert dieses Vertrages ist weit höher. Die Bundesregierung bezieht mit dieser materiellen und ideellen Unterstützung eindeutig Stellung. Jüdisches Leben soll in Deutschland gestärkt werden, die jüdische Religion ist politisch erwünscht und willkommen. Als dieser Passus der Präambel im Rahmen der Vertragsunterzeichnung verlesen wurde, empfand ich bei aller unverminderten Trauer über die Vergangenheit zugleich auch Freude über das inzwischen Erreichte.

Diese positive, optimistische Stimmung im Hinblick auf den Staatsvertrag wurde im Jahr 2004 durch eine innerjüdische Auseinandersetzung getrübt. Gemeint ist die Diskussion um das Verhältnis zwischen den liberalen jüdischen Gemeinden und dem Zentralrat der Juden in Deutschland und speziell die finanzielle Ausstattung der liberalen Gemeinden. Zweifellos bestanden Differenzen, die der Klärung bedurften. Zu keinem Zeitpunkt bestand jedoch die Gefahr einer Spaltung aufgrund unüberbrückbarer Gegensätze. Der Zentralrat war jederzeit bereit zu Gespräch und Versöhnung.

Schließlich versteht sich der Zentralrat als Sprachrohr aller in Deutschland lebenden Juden, egal welcher religiösen Richtung sie angehören. Diese Überzeugung bildet schließlich die Existenzgrundlage der so genannten Einheitsgemeinden, in der alle jüdischen Glaubensrichtungen gleichberechtigt nebeneinander ihren Platz haben. Entsprechend glücklich bin ich, dass wir gemeinsam einen tragfähigen Weg gefunden haben und der Frieden im jüdischen Haus längst wieder eingekehrt ist.

Den Vertrag zwischen Bundesregierung und Zentralrat, der ja vor allem auch eine Manifestation gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus ist, empfand die rechtsradikale Szene als Provokation. Dies spiegelt sich auch in den Zahlen des Verfassungsschutzes wider, die für die letzten Jahre einen Anstieg rechter Gewalttaten ausweisen. Allein in den Jahren 2000 bis 2004 registrierte die Polizei bundesweit knapp 60 000 rechtextremistische Straftaten, darunter mehr als 4000 Gewaltdelikte. In den ersten sechs Monaten 2005 kamen nach einer vorläufigen Statistik des Bundesinnenministers rund 4600 Straftaten hinzu.

Mit Sorge müssen wir feststellen, dass die bereits bestehenden strengen Sicherheitsvorkehrungen jüdischer Einrichtungen nicht ausreichen. Das zeigen unter anderem die regelmäßigen Verwüstungen und Schändungen auf jüdischen Friedhöfen. Vorfälle, die fast schon alltäglich geworden sind. Bei ihren Friedhofsbesuchen werden die Angehörigen mit zerstörten Grabstätten oder umgeworfenen, farbverschmierten Grabsteinen konfrontiert. In die Trauer um die Verstorbenen mischen sich in diesen Momenten Zorn und Fassungslosigkeit.

Festzuhalten bleibt jedoch auch, dass viele antisemitische Straftaten, die in Deutschland zu verzeichnen sind, auf das Konto von Islamisten gehen. Die angespannte politische Lage im Nahen Osten hat trotz aller Fortschritte bei den Friedensbemühungen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde Auswirkungen bis nach Deutschland. Aktuell wird dies an den israelfeindlichen, antisemitischen Parolen des iranischen Staatspräsidenten deutlich, die nicht nur bei Juden und Israelis Besorgnis auslösen. Dessen große, fanatisierte Anhängerschaft stellt ein kaum zu kalkulierendes Gefahrenpotenzial dar. Auf die weltweite Empörung über die Hasstiraden des iranischen Präsidenten müssen deshalb Sanktionen folgen. Fest steht: Für die in Deutschland lebenden Juden ergibt sich aus diesen Ereignissen, dass die Gefahr von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland auf unabsehbare Zeit erhöht bleibt und wir auf die Gewissenhaftigkeit der Sicherheitsbehörden angewiesen sind.

Diese Einschätzung der politischen Situation ändert nichts an der grundsätzlichen Dialogbereitschaft der jüdischen Gemeinschaft und daran, dass wir jede Initiative unterstützen, mit der die großen monotheistischen Weltreligionen stärker als bisher zu einem gemeinsamen Gespräch finden. Ein Schritt von historischer Bedeutung war in dieser Hinsicht im Sommer der Besuch von Papst Benedikt XVI. in der Kölner Synagoge im Rahmen des Katholischen Weltjugendtages. Von jüdischer Seite steht der Intensivierung des gegenseitigen Austauschs nichts im Wege. Der Dialog zwischen Christen und Juden sollte jedoch durch die Einbeziehung von Vertretern des Islam zu einem Trialog erweitert werden.

Der Appell an alle wohlmeinenden, aufgeschlossenen Menschen in Deutschland, beim Abbau von Vorurteilen gegen Minderheiten mitzuhelfen, das Abdriften von Jugendlichen in den rechten Sumpf zu verhindern und zur Ächtung von Gewalt in unserer Gesellschaft beizutragen, kann nicht oft genug wiederholt werden. Schließlich hat der Antisemitismus auch nach 1945 nie aufgehört zu existieren. Noch heute gelten rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung als offen oder latent antisemitisch. Nachhaltige Erfolge bei der Bekämpfung von Antisemitismus und Rechtextremismus werden deshalb erst dann zu verzeichnen sein, wenn unsere Gesellschaft die Angriffe auf Minderheiten als Angriffe auf die Demokratie als Ganzes versteht und bereit ist, das wirkliche Ausmaß der Bedrohung nicht zu verdrängen. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit muss sich den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit zu eigen machen.

Wie weit wir davon noch entfernt sind, zeigten 2004 die Erfolge von NPD und DVU bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. Diese Wahlergebnisse sind unmissverständliche Alarmzeichen und werfen ein grelles Licht auf die mangelhafte politische Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Deshalb richte ich überall im Land immer wieder an alle Erzieher, Pädagogen und Sozialarbeiter die Bitte, ihre vorbildlichen Projekten zur Aufarbeitung der Vergangenheit fortzuführen. Damit dies gelingt, darf die mühsam aufgebaute Projektlandschaft jedoch nicht, wie in einzelnen Bundesländern bereits vollzogen oder geplant, Opfer des Rotstifts werden. Wichtiger wäre es, regelmäßig die Effizienz und Nachhaltigkeit der einzelnen Maßnahmen zu prüfen und die zur Verfügung stehenden Mittel gegebenenfalls in andere Projekte umzuleiten.

Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen. Die Toten mahnen zur Erinnerung, und niemand wird den Schatten der Vergangenheit restlos vertreiben können. Dieser Schatten darf sich jedoch nicht lähmend auf die Weiterentwicklung des deutsch-jüdischen Miteinanders auswirken. Auch wenn es bis heute noch viele unbelehrbare Menschen gibt, so gilt es gerade deshalb immer wieder zu betonen: Der Holocaust markiert nicht das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte!

Daran anknüpfend sollten wir behutsam, aber zielstrebig daran gehen, das reiche gemeinsame Erbe stärker als bisher hervorzuheben und uns auf die historische Nähe jüdischer und deutscher Kultur zu besinnen. Besonders für die junge Generation müssen über die bestehenden Angebote hinaus noch weitaus mehr Möglichkeiten zum Austausch und zur zwanglosen Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden ermöglicht werden. Schließlich sind es die jungen Frauen und Männer von heute, die den Gedanken der Versöhnung weiter tragen müssen. Aufgabe der Elterngeneration ist es, Vorbild zu sein. Den Jugendlichen muss klar gemacht werden, dass Menschen, die in einem anderen religiösen oder kulturellen Umfeld leben als sie selbst, keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung darstellen. Jede Begegnung, jedes Gespräch mit Menschen, die anders leben als wir selbst, trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen. Nur mit diesem Bewusstsein wird es gelingen, in unserer Gesellschaft Weltoffenheit und Toleranz fest zu verankern, die Demokratie nachhaltig zu stärken und damit allen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu garantieren.

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