Die Dimensionen dieses Krieges



Am Jahrestag des Überfalls auf Polen gilt es innezuhalten – und den nachfolgenden Generationen das ganze Ausmaß dieses Krieges zu vermitteln: 60 Millionen Menschen kamen zu Tode und die europäischen Juden wurden Opfer eines Völkermords von singulärem Ausmaß. Ein Gastbeitrag von Dr. Schuster in der FAZ vom 01.09.2019

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 war über mehrere Jahrzehnte tief im Gedächtnis der Deutschen verankert. Der Bevölkerung war damals, nur gut zwei Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zu den heutigen Generationen noch sehr bewusst, was Krieg bedeutet. Anders als in den Julitagen 1914 herrschte 1939 keine Euphorie in Deutschland. Abgesehen von einigen überzeugten Nazis, die die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ kaum abwarten konnten, überwogen in der Breite der Bevölkerung Skepsis und Angst.

Diese Gefühle aus dem Jahr 1939 wurden auch viele Jahre nach dem Krieg noch thematisiert. Diente diese Erzählung doch auch dazu, sich im Nachhinein damit zugleich als schon damals den Nazis gegenüber distanzierter Mensch darzustellen. Historisch ist diese Gleichsetzung von Angst vor einem neuen Krieg und Distanz oder gar Ablehnung der neuen Machthaber allerdings nicht haltbar.

Auch ins deutsche Familiengedächtnis hat sich der 1. September 1939 eingebrannt und ist dort in gewisser Hinsicht bis heute präsent. Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand fehlt zwar bei heute jungen Menschen ein emotionaler Bezug zum Zweiten Weltkrieg, doch Erzählungen vom Opa, der eingezogen wurde, vom Großonkel, der „im Krieg geblieben ist“ oder vom Opi, der erst 1952 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, haben sich über Generationen bewahrt. Die Schoa hat hingegen im deutschen nicht-jüdischen Familiengedächtnis keinen systematischen Platz, wie der Soziologe Harald Welzer erforscht hat. Heute kommt sie auf der Täter-Seite als Teil der Familiengeschichte so gut wie gar nicht mehr vor.

Für die deutschen Juden sortierten sich der Überfall auf Polen und die kurz später erfolgten Kriegserklärungen von Großbritannien und Frankreich gegen Deutschland schon aus damaliger Sicht anders ein als für die nicht-jüdische Bevölkerung. Der September 1939 wurde weniger als Beginn wahrgenommen, sondern vielmehr als weiteres, zutiefst gefährliches Ereignis in der längst von statten gehenden Verfolgung, allerdings verbunden mit der Hoffnung, die Westmächte könnten Hitler-Deutschland rasch besiegen.

Seit den Novemberpogromen von 1938 hatten auch die letzten Juden, die bis dahin noch in tiefem Patriotismus an die deutsche Kulturnation geglaubt hatten, begriffen, dass sie in Deutschland keine Zukunft haben würden. Mit Kriegsbeginn saßen die Juden in Deutschland und einigen angrenzenden Staaten jedoch in der Falle, wie es der Historiker Michael Brenner beschrieben hat.

Die Grenzen schlossen sich. Eine Emigration, die schon zuvor aufgrund der hohen inländischen Auflagen wie etwa der „Reichsfluchtsteuer“ und restriktiver Einreisebestimmungen anderer Staaten sehr schwierig gewesen war, wurde jetzt fast unmöglich.

Für die Juden in Polen begann mit dem deutschen Überfall auf ihr Land die radikale Verfolgung. Auch Juden, die in Frankreich, Belgien und in den Niederlande lebten oder dorthin geflüchtet waren, waren alsbald unter deutscher Besetzung der Verfolgung ausgesetzt. „Der Zweite Weltkrieg war ein Krieg, der zahlreiche Opfer von vielen Seiten forderte. Vor allem aber war er ein Krieg gegen die Juden“, schrieb Michael Brenner vor einigen Jahren.

Die Stufen der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden waren eng mit dem Kriegsverlauf verknüpft. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 ist daher auch für die Geschichte des Holocausts ein entscheidendes Datum.

Heute, 80 Jahre später, sind wir hingegen mit einem Phänomen konfrontiert, das vor diesem Hintergrund schon fast kurios erscheint: In Sorge vor den Folgen des Brexit beantragen immer mehr britische Juden mit deutschen Vorfahren die deutsche Staatsangehörigkeit. Es ist nicht etwa so, dass sie plötzlich eine tiefe Liebe zu dem Land entwickelt haben, das ihre Eltern ausgebürgert oder in die Flucht getrieben hatte, sondern dass sie den Pass eines EU-Staates haben wollen.

Was zeigt uns diese erstaunliche Entwicklung? Sie verdeutlicht zum einen ein gewisses Vertrauen, das diese britischen Juden dem heutigen Deutschland entgegenbringen. Zum anderen wird die Europäische Union offenbar als Garant für Frieden und Sicherheit wahrgenommen.

Das ist bemerkenswert in einer Zeit, in der der Nationalismus in Europa wächst und in vielen europäischen Staaten offenbar zunehmend vergessen wird, dass Frieden nicht selbstverständlich ist. Und in einer Zeit, in der sich in Deutschland Juden wieder stärker bedroht fühlen als viele Jahrzehnte zuvor und das Land aufpassen muss, nicht nach Rechtsaußen abzudriften.

Der 80. Jahrestag des Kriegsbeginns sollte europaweit zum Innehalten führen. Es gilt zu fragen, ob wir uns noch auf dem richtigen Weg befinden. Und es gilt, den nachfolgenden Generationen die ganze Dimension dieses Krieges zu vermitteln, in dem 60 Millionen Menschen zu Tode kamen und in dem die europäischen Juden Opfer eines Völkermords von singulärem Ausmaß wurden. Diese Vermittlung ist notwendig, damit Generationen in unserem Land aufwachsen, die das Verantwortungsbewusstsein haben, das wir für ein friedliches Europa brauchen.

Dr. Josef Schuster

Frankfurter Allgemeine, 01.09.2019

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