"Das Judentum ist pluralistisch"



Foto: Heinz-Peter Katlewski

Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster, bei der Jahrestagung der Union Progressiver Juden, 28.7.2016, Bonn-Bad Godesberg

Anrede,

vor kurzem war ich zu Besuch bei der „Jüdischen Allgemeinen“, denn sie feierte ihren 70. Geburtstag. Jetzt werden Sie sich fragen, was das mit Ihnen und Ihrer Jahrestagung zu tun hat. Ich hatte bei diesem Besuch ein kleines Erlebnis, das mich an den heutigen Tag denken ließ. Das will ich Ihnen erzählen.

Von der Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ hat man beste Aussicht auf die riesige Baustelle neben dem ehemaligen Kulturzentrum „Tacheles“, mitten in Berlin. Die Redakteure erzählten mir, dass sie vor kurzem in der Baugrube Archäologen bei der Arbeit beobachteten. Sie hatten gleich einen Verdacht, um was es sich handeln könnte. Doch wie es sich für gute Journalisten gehört, recherchierten sie und prompt stellte sich heraus: Was die Archäologen da freilegten, waren die Überreste der ersten Reformsynagoge Berlins aus dem Jahr 1854.

Als ich mit Blick auf die Baustelle diese Geschichte hörte, wurde mir wieder bewusst, auf welch lange Tradition die liberalen Juden in Deutschland zurückblicken können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Sie haben eine umfangreiche Tagung vor sich mit sehr breit gefächerten, interessanten und aktuellen Themen. Ich möchte Ihnen heute Abend nur kurze Denkanstöße geben zu zwei Aspekten, die mir wichtig sind.

Erstens: Das Judentum in Deutschland ist pluralistisch, und das ist auch gut so.

Ich selbst bin in einer traditionellen Familie aufgewachsen. Traditionell im Würzburger Sinn. Das bedeutet, in der Tradition des Würzburger Rav Seligmann Bär Bamberger. Er stemmte sich im 19. Jahrhundert zwar gegen die Reformbewegung, weigerte sich aber zugleich, die Gebetsgemeinschaft mit Reformjuden zu verlassen. So entstand die so genannte Würzburger Orthodoxie: traditionell, aber zugleich offen und modern.

Meine Eltern haben das übrigens sehr ernst genommen. Wenn wir Ende Anfang der sechziger Jahre unsere Verwandten in Israel besuchten, nahmen sie mich in Haifa mit in einen liberalen G’ttesdienst. Damit ich das auch einmal kennenlerne. Denn das gab es damals in Franken nicht mehr. Und ich habe als kleiner Bub‘ schon gestaunt, dass Frauen und Männer nicht getrennt saßen. Bei uns daheim gab es im kleinen Würzburger Gebetssaal zwar keine Empore, aber die Frauen saßen ein paar Reihen hinter den Männern.

Doch um auf mein Thema zurückzukommen: Pluralismus ist gut. Ebenso wie für unsere Gesellschaft gilt dies für unsere jüdische Gemeinschaft. Zuweilen kann Verschiedenheit anstrengend sein. Zuweilen droht sie uns zu überfordern. Doch völlige Gleichheit wäre Stillstand. Eine Religionsgemeinschaft entwickelt sich nicht weiter, wenn sich alle einig sind. Das wäre auch ganz und gar unjüdisch.

Es wird Sie nicht wundern, dass ich diese Verschiedenheit am liebsten unter einem Dach sehe – unter dem Dach des Zentralrats der Juden. Wir stehen für ganz unterschiedliche Strömungen des Judentums. Und wir vertreten auch die Interessen dieser unterschiedlichen Strömungen.

Damit komme ich zum zweiten Aspekt, den ich kurz ansprechen möchte. Egal, ob wir uns dem traditionellen, dem konservativen, dem Reform- oder dem liberalen Judentum zugehörig fühlen – die Außenwelt macht keinen Unterschied. Antisemitischen Klischees oder gar antisemitischen Übergriffen sind wir gleichermaßen ausgesetzt. Ebenso geraten wir alle schnell in die Rolle, Israel verteidigen zu müssen. Denn allzugern verkleidet sich der moderne Antisemitismus als Antizionismus.

Deshalb ist es für uns alle gleichermaßen wichtig, in welche Richtung sich Deutschland entwickelt. Wir steuern auf die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zu. Im nächsten Jahr wird hier in Nordrhein-Westfalen gewählt. Und auch wenn wir der AfD in Stuttgart gerade beim Zerfall zusehen dürfen, so gehe ich keinesfalls davon aus, dass sich dieses Problem von selbst erledigt. Wir müssen damit rechnen, dass diese rechtspopulistische Partei auch weiterhin Zulauf hat.

Antisemitismus gehört von jeher zum Wesenskern rechtsextremer Parteien. Auch für die AfD gilt das, wie wir anhand des Stuttgarter Falls deutlich sehen konnten. Wer für die Bewertung eines durch und durch antisemitischen Pamphlets zunächst eine Expertenkommission anfordert, und es dann nicht schafft, den Verfasser des Pamphletes aus der Fraktion auszuschließen, der hat eben keine klare Distanz zu Antisemitismus. Die steigende Zahl von Rechts- und auch von Linksextremisten ebenso wie von radikalen Islamisten sind für uns Juden in höchstem Maße beunruhigend.

Wo es geht, versuchen wir als Zentralrat der Juden diesen politischen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen. Abgesehen von direkten Gesprächen mit der Regierung und mit Abgeordneten haben wir, um ein Beispiel zu nennen, ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis mitgegründet, die „Allianz für Weltoffenheit“. Daneben sind wir Mitglied einer interreligiösen Initiative mit dem Titel „Weißt du, wer ich bin“. Dabei bekommen Christen, Muslime und Juden finanzielle Unterstützung für gemeinsame Flüchtlings-Projekte. Denn die direkte Begegnung hilft dabei, Vorurteile abzubauen.

Aber auch die Schulen und die Bildungsarbeit haben wir im Blick. Wie kann das Wissen über das Judentum bei jungen Leuten verbessert werden? Das ist gerade in einer Einwanderungsgesellschaft wichtig. Dazu erarbeiten wir derzeit mit der Kultusministerkonferenz und unseren Fachleuten aus den jüdischen Schulen gemeinsame Empfehlungen. Ich versäume auch keine Gelegenheit, Gedenkstättenbesuche von Schülern einzufordern.

Denn gerade bei jungen Leuten geht es ja nicht nur um Fakten, die sie kennen sollten. Um Geschichtsdaten. Oder um Begriffe der jüdischen Religion. Es geht viel mehr darum, ihre Herzen zu öffnen. Ihnen zu zeigen, dass ein friedliches Miteinander nicht nur möglich ist, sondern sogar bereichernd.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wir schätzen den Pluralismus im Judentum in Deutschland und wissen zugleich, warum wir letztlich an einem Strang ziehen müssen. Denn wir möchten in der Gesellschaft etwas bewegen. Wir möchten aber vor allem für unsere Gemeinschaft etwas bewegen.

Daher wünsche ich Ihnen für Ihre Tagung anregende Gespräche sowie einen bereichernden Gedankenaustausch, der das Miteinander stärkt und vielfältige Diskussionen hervorbringt.

Ich danke Ihnen!

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