Das Judentum in seiner ganzen Breite wahrnehmen



Grußwort von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster beim Festakt anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur, München, 6.7.2017

Foto: Historisches Seminar/LMU München

Gut 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Schoa lässt sich ein Phänomen beobachten, das auf den ersten Blick erstaunlich ist, auf den zweiten völlig einleuchtend:

Ministerien, medizinische Fachgesellschaften, die Kirchen und andere Institutionen lassen ihre nationalsozialistische Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten. Erstaunlich auf den ersten Blick ist dies, weil erst jetzt, mit dem großen Abstand von 70 Jahren, das Thema angegangen wird. Jetzt, wo allgemein im Land das Interesse an diesem Kapitel der deutschen Geschichte eher rückläufig ist.

Doch genau wegen des großen zeitlichen Abstands ist diese Aufarbeitung eben auch einleuchtend – und das muss ich Ihnen, die hier an dieser Fakultät forschen und lehren oder sonst mit ihr verbunden sind, nicht näher erläutern.

Gerade bei den medizinischen Fachgesellschaften – dort erhalte ich aufgrund meiner Doppelfunktion als Mediziner und Präsident des Zentralrats der Juden am besten Einblick – hat die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erst begonnen, als all jene nicht mehr in Amt und Würden waren, die selbst in die NS-Vergangenheit verstrickt waren.

Was geschah mit jüdischen Beamten in den Ministerien, was mit jüdischen Ärzten? Welchen Verlust hat das deutsche Geistesleben, hat die Wissenschaft in Deutschland durch die Schoa erlitten? Diesen Fragen gehen heute – zum Glück – viele jüngere Forscher nach. Auch das ist jüdische Geschichte.

Es ist allerdings, und das ist mir sehr wichtig zu betonen, nur ein sehr kleiner Ausschnitt der jüdischen Geschichte. Juden als Opfer – dieser Blickwinkel wird an Hochschulen und Schulen leider noch viel zu oft ausschließlich gepflegt.

Die Einrichtung des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität war daher 1997 ein überaus wichtiger und notwendiger Schritt. Jüdische Geschichte als Universalgeschichte zu begreifen, als historisches Geschehen, das nicht an bestimmten Landesgrenzen endete und dass sich über alle Bereiche von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bis zur Kultur erstreckte – das ist das Verdienst dieses Lehrstuhls bzw. dieser Abteilung, die ja inzwischen mehr umfasst als den Lehrstuhl, dessen Jubiläum wir heute feiern.

Die Strahlkraft dieses Lehrstuhls hat ganz wesentlich mit seinem Inhaber zu tun: Michael Brenner. Professor Brenner genießt nicht nur weltweit ein hohes Renommee und gehört zu den führenden Experten auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte. Er ist zudem auch noch in der Lage, allgemein verständlich zu schreiben und sein Wissen auf die Länge eines Zeitungsartikels zu komprimieren.

Sie werden sich jetzt fragen, meine Damen und Herren, ob ich in der Beurteilung von Michael Brenner objektiv bin. Nein, bin ich nicht! Aber glauben Sie bloß nicht, dass ich immer so respektvoll über ihn gedacht habe. Es gab nämlich Zeiten – und jetzt plaudere ich ein wenig aus dem Nähkästchen –, da war Michael Brenner vor allem eines: ein kleiner Bruder. Ehrlich gesagt: ein lästiger kleiner Bruder. Ich war nämlich mit seinem älteren Bruder Hardy befreundet. Und wenn wir losziehen wollten, wollte Michael immer mit. Er war damals schon ein neugieriges und aufgewecktes Kerlchen, das sich gar nicht so leicht abschütteln ließ.

Doch genug der familiären Historie. Wobei es mich besonders freut, dass heute auch die Mutter von Michael Brenner unter uns ist, der wir als Kinder sowieso nichts vormachen konnten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte noch einmal auf die Bedeutung der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur insgesamt zurückkommen. Egal, ob ich einen Termin wahrnehme als Zentralratspräsident oder als Vorsitzender des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, werde ich nicht müde zu betonen: Jüdisches Leben gab es hier bereits vor 1933 und nach 1945. Weder sollte sich die Beschäftigung mit dem Judentum auf die Schoa begrenzen noch auf das Thema Antisemitismus.

Sie könnten mir jetzt vorhalten, dass ich mich aber ständig in der Öffentlichkeit just zu diesen beiden Themen äußere. Ich bekenne offen: Ich wäre glücklich, wenn das nicht nötig wäre. Ich wäre auch glücklich, wenn Medien sich viel stärker für das vielfältige und reiche jüdische Leben in unseren Gemeinden interessieren würden.

Doch Sie wissen: Only bad news are good news. Dennoch bemühe ich mich stets, auch die vielen positiven Aspekte des heutigen jüdischen Lebens in der Öffentlichkeit anzusprechen.

Von noch größerer Bedeutung dürfte allerdings sein, wie das Judentum in den Schulen vermittelt wird. Es ist sehr erfreulich, dass 2013 in Ihrer Abteilung das Pilotprojekt zu Jüdischer Geschichte im Schulunterricht gestartet wurde.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat Ende vergangenen Jahres eine gemeinsame Erklärung mit der Kultusministerkonferenz verabschiedet, um auf eine authentische Vermittlung der jüdischen Religion, Geschichte und Kultur im Schulunterricht hinzuwirken. Gerade erarbeiten wir mit der KMK eine kommentierte Sammlung empfehlenswerter Lehrmaterialien, bei der wir auch auf Publikationen Ihres Projekts verweisen.

Denn eines ist so unverzichtbar wie das Schofar an Rosch Haschana: Wissen und Aufklärung. Wenn es uns nicht gelingt, in unserer Einwanderungsgesellschaft Wissen über das Judentum jenseits von Schoah und Nahostkonflikt zu vermitteln, wenn es uns nicht gelingt, auf diese Weise Verständnis für das Judentum zu wecken, dann wird der Antisemitismus in unserer Gesellschaft weiter zunehmen. Dann werden sich weitere Schimpfworte etablieren, die Juden diffamieren. Dann kann sich vielleicht keine Makkabi-Fußballmannschaft mehr ohne Polizeischutz auf den Platz wagen.

Das darf nicht passieren. Daran müssen wir alle arbeiten. Ob als Verband oder als Wissenschaftler. Ob als Professor oder als Hilfskraft. Ob jüdisch oder nicht-jüdisch. Hier, in der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur, tun Sie das auf vorbildliche Weise. Dafür danke ich Ihnen im Namen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und wünsche Ihnen für die Zukunft stets den notwendigen Rückhalt sowie offene Ohren für das, was Sie zu sagen haben – in der Wissenschaft, aber vor allem über die Wissenschaft hinaus.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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