Bildungstag der Jüdischen Akademie



Grußwort Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf dem Bildungstag der Jüdischen Akademie anlässlich des 80. Jahrestages des Warschauer Ghettoaufstandes, 20. April in Berlin.

Anrede,

 

Meine Damen und Herren,

wir erleben einen erinnerungspolitischen Wandel – das ist überall spürbar. Ich war gestern mit dem Bundespräsidenten in Warschau zum Gedenkakt an den 80. Jahrestag des Beginns des Warschauer Ghettoaufstandes. Als erster deutscher Staatsgast hat Herr Steinmeier zu diesem Anlass am Ehrenmahl gesprochen. Es war für mich ein bewegender Moment, ein Moment, der gezeigt hat, dass sich etwas verändert in der historischen Wahrnehmung, aber auch einer der nicht einfach so geschieht.

Es ist ein Prozess im Gange, der unseren Blick auf Geschichte und Erinnerung verändert – im deutsch-polnischen Verhältnis aber auch im Inneren unseres Landes und unserer Gesellschaft. Das ist, im Laufe der Zeit, erstmal ein natürlicher Vorgang, und wir sollten darin nicht nur die Gefahren postkolonialer Geschichtstheorie oder Holocaustrelativierungen sehen – die sollten wir auch sehen und uns sichtbar entgegenstellen, aber wir müssen auch die Chancen sehen, die sich aus einer Veränderung unserer historisch-politischen Erinnerung für einen selbstbestimmten jüdischen Ansatz ergeben.

Als jüdische Gemeinschaft ist es uns ein elementares Anliegen, diesen erinnerungspolitischen Wandel selbst zu gestalten. Ich bin daher Ihnen Prof. Kiesel und Ihnen Herr Riegel sehr dankbar, dass mit dieser Veranstaltung heute ein Zeichen gesetzt wird, das ganz im Wesenssinn dieses Gedankens steht. Sie entspricht zudem dem Auftrag dieser Akademie: Eine jüdische Perspektive auf eine Debatte der Mehrheitsgesellschaft zu formulieren und dieses Thema in aller Selbstbestimmtheit zu setzen. Wenn es, wie hier, um unsere eigene Geschichte geht, ist dieser Vorstoß umso bedeutender.

Und, meine Damen und Herren, dass uns dies gelingen muss, ist nicht ganz banal. Denn: Wenn wir es nicht tun, tut es auch kein anderer. Es gibt so etwas wie die Einsamkeit jüdischen Sterbens, wie Louis Begley schreibt – das Ghetto brennt und Täter wie Zuschauer applaudieren.

Es gibt genug Beispiele in der jüngeren Geschichte unserer Erinnerungspolitik, in denen die jüdische Identität an den Rand gedrängt wurde – ob gewollt oder ungewollt. Wofür steht zum Beispiel der historische Kniefall Willy Brandts in Warschau im Jahr 1970? das Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber wovor kniete eigentlich der Bundeskanzler damals? Vor dem Denkmal des Ghettoaufstandes – einem historischen Ort in der polnischen Hauptstadt. An genau dieser Stelle wurden Jahre zuvor Tausende Juden ermordet. Es gibt also im Grunde keine Möglichkeit, diesen Ort vom Jüdischen zu trennen. Der gestrige Tag in Warschau hat mir gezeigt, dass sich das in unserer heutigen Zeit schon verändert hat und das stimmt optimistisch.

Dass damals bei Brandt der jüdische Bezug ausgeklammert wurde, lag natürlich auch an den historischen Umständen und Zusammenhängen; das kommunistische Polen hatte ein Interesse an der Betonung des polnischen Widerstandes, „Jews don’t count“, und die westdeutsche Gesellschaft hatte kaum einen Blick für den jüdischen Widerstand – zu sehr war man mit der teils radikalen Bewältigung der Täterschaft beschäftigt. Es lag aber auch an der Sprachlosigkeit der jüdischen Welt und das muss die Lehre sein: Es kommt auf jeden von uns an. Eine „Entjudaisierung“ der Geschichte, wie es manche Historiker nennen, darf nicht geschehen und sie wird nicht geschehen.

Das jüdische Volk hat in seiner Geschichte schon so manchen Versuch seiner Auslöschung widerstanden – wir haben im vergangenen Monat mit dem Purimfest erst daran erinnert. Ich habe die Hoffnung und die Zuversicht, dass wir mit dem hier heute gelebten Ansatz einen Weg finden, als Gemeinschaften zusammenzustehen und nach vorn zu schauen.

Meine Damen und Herren, jüdische Geschichte ist eine Geschichte des Mutes, des unbändigen Überlebenswillens und dem Glauben an sich selbst. Dafür steht der Warschauer Ghettoaufstand in all seinen heroischen und gleichzeitig ernüchternden gescheiterten Facetten, die den jüdischen Widerstand insgesamt symbolisieren, der leider noch viel zu wenig historisch betrachtet wird. Es ist daher an der Zeit, das Gedenken an den Aufstand fest im Kanon der deutsch-polnischen Geschichte sowie der Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu verankern. Er steht auch für eine universalgeschichtliche Komponente: Juden sind immer Teil der Gesellschaft, aber sie sind eben auch diejenigen, die sich gegen Tyrannei auflehnen, weil sie nicht zum Judentum und seinem Selbstverständnis passt. Juden sind immer ein Faktor der Modernität und Innovation. Es ist aus unserer Erfahrung angelegt, dass die Chance zum Überleben etwas mit Widerstehen zu tun hat. Das Judentum steht für das Zähe in einer Gesellschaft. Es weiß um seine Existenz und ringt um Anerkennung.

Gehe ich von diesem Punkt aus, hat die heutige Veranstaltung viel mit der jüdischen Wirklichkeit der Gegenwart zu tun. Sie leisten damit also einen wichtigen Beitrag zur Orientierung jüdischen Lebens in einer freien und offenen Gesellschaft. Wie alle geistigen Gemeinschaften steht auch das Jüdische stets im Widerspruch der Liberalität und gemeinschaftlicher Bindung, der für die Mitglieder einer solchen Gesellschaft so entscheidend ist.

Ich wünsche Ihnen allen einen produktiven Diskurs, gute Gespräche und bin gespannt auf die Ergebnisse. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

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