Antisemitismus in Deutschland



Rede des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, anlässlich des Regionalforums der Deutschen Gesellschaft e.V. „Antisemitismus in Deutschland“, 25. Juni 2019, Bayreuth

Anrede,

Herzlichen Dank für die freundliche Einladung.

Ich möchte Sie jetzt nicht gleich nach dem Mittagessen schockieren, und meine Rede ist auch nicht als Wachmacher oder Kaffeeersatz gedacht.

Aber ich möchte Ihnen zu Beginn meiner Ausführungen einmal ein paar Beispiele geben für das, was man als Repräsentant der jüdischen Gemeinde in Deutschland im Jahre 2019 so alles zu hören und zu lesen bekommt.

Ich zitiere hier aus Emails an den Zentralrat der Juden und seinen Präsidenten, Dr. Josef Schuster. In einer Mail heißt es zum Beispiel:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

ihr Vorsitzender kritisiert Rammstein während ihr Land tagtäglich Raketen als Gegenreaktion auf Menschen im Gazastreifen schießt. Für euch sind auch wir (Jahrgang 1990) noch Nazis, hackts bei euch eigentlich? Heult Leiser und seht mal zu das ihr nicht andere ermahnt während ihr selber immer noch Menschen tötet. Dieses ständige ja ihr habt Millionen Juden getötet nervt nur noch, denn nicht meine Generation war das, sondern unsere URGROßELTERN!!!!“

Ein weiterer Schreiberling sagt in einer Email mit der vielsagenden Betreffzeile „Ich mag Herrn Schuster nicht“ Folgendes:

„Herr Schuster,

Ihre scharfe Kritik an deutschen Schulbüchern weise ich zurück. Ich habe bei Ihnen auch immer das Gefühl, Sie wollen SCHULDGEFÜHLE erzeugen. Und erreichen damit, dass ich SIE NICHT mag. Wahrscheinlich werden Sie von vielen nicht gemocht aufgrund Ihrer unbelehrbaren Art. Besser: Sie treten zurück und wandern nach Israel aus. Der Staatsvertrag mit den Juden sollte im Übrigen gekündigt werden. Ich habe auch keine Angst, von Ihnen als Antisemit angesehen zu werden.

Und in einer weiteren Zuschrift heißt es:

„Ich habe eure ewige HETZE gegen uns DEUTSCHE satt, Herr Schuster.

Meine Generation hat euch nichts getan, Herr Schuster. Euer ewiger Schuld- und Jammergeist geht mir auf die Nerven, Herr Schuster. Es ist Geschichte und aus, Herr Schuster.

Was ist mit den Indianern? Was ist mit den schwarzen verschleppten Sklaven? Was ist mit den von den Türken verübten Massenmorden an Armeniern? Nur uns Deutschen wollt ihr ständig eine Schuld anhängen, klar dafür gibt es ja schön Geld von uns Deutschen. Jammert doch mal bei den USA, den Türken usw. die werden euch schön auslachen, nur die Deutschen sind so blöd. Wem hat einmal dieses Land gehört? Palästina! Wem hat man das Land geraubt, Herr Schuster?

Nochmal, ich habe keinen einzigen Juden umgebracht, Jahrgang 1958, ich habe keine Schuldgefühle gegenüber Juden, welche mir dies Einreden wollen. Ich lebe mit meinen Jüdischen Mitbürgern in meiner kleinen Welt, wo der Glaube keine Rolle spielt. Ich werde mir das durch ihre verdammte xxx nicht kaputt machen lassen.“

Zitat Ende.

In einer weiteren Email es heißt:

„Ihre strukturlose Kritik an der AfD wird langsam lästig: Sie ist ohne Gehirn. Ich fange langsam an, die Juden zu hassen: Sie sind ein unkultivierter Flegel Ohne Belegbares ständig so einen Dreck zu senden, Sie sind die Schande…“

Und schließlich noch ein Facebook-Kommentar:

„Der Holocaust wurde von Christen begangen, eine der jüdischen Sekten. Es war euer eigener Gotteswahn, der auf die Spitze getrieben wurde. Also werdet ihr Juden, Christen und Moslems endlich mal begreifen, dass ich nur ein Leben habe und mit diesem Schwachsinn in Ruhe gelassen werden möchte? Ihr habt doch euren Himmel und Tempel und Ländereien, und es ist dennoch nie genug.“

Wie Sie sehen, findet man in diesen Zuschriften die ganze Bandbreite an Stereotypen, auf denen der Antisemitismus ja seit je her fußt:

Die Juden handeln wie die Nazis, sie nerven ständig mit der deutschen Geschichte, machen es selbst aber nicht besser. Juden sind rachsüchtig, sind nachtragend, wollen ständig nur Schuldgefühle erzeugen. Juden sind Sonderlinge, gehören eigentlich nicht dazu. Kurzum, der Tenor lautet: Juden sind selbst schuld, dass man sie hasst.

Solche Zuschriften und Kommentare – von denen uns täglich Dutzende erreichen – gab es natürlich früher auch schon. Aber: Es sind deutlich mehr geworden. Das liegt natürlich auch daran, dass es heute – in Zeiten von Email und Social Media – viel einfacher ist, mit fremden Menschen zu kommunizieren.

Dinge, die früher eher verschämt geäußert wurden, können jetzt unverhohlen geschrieben werden. Das geschieht dann mit Formulierungen, die in den Qualitätsmedien nicht als zitierfähig gelten würden.

Was ich aber viel interessanter finde, ist, dass hier eines deutlich wird: Auch Menschen, die nach 1945 geboren wurden, können von Judenfass regelrecht zerfressen sein. Viele geben ja bewusst ihren Jahrgang an, um zu zeigen, dass sie mit Nazi-Deutschland nichts am Hut haben konnten – nur, um dann mal kräftig auszuteilen gegen „die Juden“, gegen Israel, gegen den Zentralrat, und das Ganze oft in einer Art und Weise, die Joseph Goebbels gefallen hätte.

Man gelangt zu der ernüchternden Erkenntnis: Die „Gnade der späten Geburt“, wie Helmut Kohl sie einmal genannt hat, schützt nicht vor Antisemitismus. Deutschland ist noch lange nicht immun gegen diesen Virus. Mehr noch: Der Schutz dagegen lässt mit der Zeit immer mehr nach.

Ich möchte den Blick etwas weglenken von denjenigen, die judenfeindliche Statements verbreiten, die giftige Emails an den Zentralrat schreiben oder sich auf Facebook austoben. Vielleicht geben wir den Antisemiten ja viel Raum in der Debatte. Wir fragen uns dauernd, warum sie so etwas sagen. Wir versuchen es zu erklären.

Ich finde, wir sollten mehr auf die Opfer schauen.

Was macht es mit einem jüdischen Menschen, der so etwas Scheußliches hört oder liest? Der Zentralrat als Institution kann natürlich damit umgehen, aber wie muss sich ein einzelner Jude fühlen, wenn einem solche Äußerungen entgegengeschleudert werden?

Es trifft den Juden oder eine Jüdin, die in diesem Land aufgewachsen ist, ins Mark. Es beschäftigt die Juden, die hierhergekommen sind, weil sie glaubten, der Antisemitismus sei in Deutschland besiegt. Sie nehmen diese kruden judenfeindliche Aussagen wahr. Sie bemerken, welche Ressentiments es hierzulande gibt.

Wie soll man reagieren? Soll man zur Polizei laufen? Es ist ja oft eine Grauzone, es ist nicht alles strafbar. Also schweigt man und geht zur Tagesordnung über. Man lässt sich nichts anmerken, schluckt den Ärger herunter.

Die Konsequenz ist: Viele jüdische Menschen verstecken sich. Sie verheimlichen ihr Judentum, nicht nur in der Öffentlichkeit, auch im Kollegen‐ oder Freundeskreis.

Sie haben Angst. Angst vor Schikane und Ausgrenzung.

Das zeigt uns: Ressentiments haben praktische Auswirkungen. Nicht immer, aber oft genug. Ressentiments sind nicht nur in den Menschen drin – das könnte man womöglich noch aushalten. Sie dringen nach draußen, sie manifestieren sich. Und sie haben Konsequenzen.

Wir Juden haben ein Gespür für Vorurteile. Wir merken, wenn der Wind sich dreht. Wenn wieder Dinge sagbar sind, die vor 20 Jahren kaum jemand offen ausgesprochen hätte.

Jede Form von Rassismus und Ausgrenzung tut weh. Aber der Antisemitismus tut besonders weh, denn er zeigt uns, wie wenig lernfähig Teile der deutschen Gesellschaft sind.

Mit liest immer wieder über den „antisemitischen Bodensatz“, jene 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung, die angeblich immer schon antisemitisch eingestellt sind.

Mich wundert das schon etwas. Irgendwie wird das fast schon als Gott-gegeben hingenommen. Die paar Antisemiten…10 bis 20 Prozent, das hört sich nach wenig an. Es klingt beherrschbar. Aber wissen Sie was?

10 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, das sind immerhin 8 bis 15 Millionen Menschen! Dazu kommt: In Deutschland leben gerade einmal 120.000 bis 150.000 Juden. Wenn ich mich jetzt nicht verrechnet habe, kommen also auf jeden Juden in Deutschland ca. 100 Antisemiten. Tendenz ansteigend – bei den Antisemiten, meine ich, nicht bei den Juden…

Wenn Sie eine Flasche Wein kaufen und dann feststellen, dass deren Inhalt zu 20 Prozent aus trübem Bodensatz besteht, würden Sie dann nicht in den Laden zurückgehen und reklamieren?

Und man kann natürlich noch einen Schritt weitergehen und sich fragen: Sind die übrigen 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung, die vermeintlich Guten, alle über jeden Zweifel erhaben? Kommt denen nie ein antisemitisches Klischee – vielleicht ungewollt – über die Lippen?

Sehen wir nicht gerade, wenn über das Thema Israel gesprochen wird, wie sehr antisemitische Klischees und Ressentiments noch präsent sind?

Das ist die Lage – die Lage, wie wir sie wahrnehmen. Ich will nichts überdramatisieren, das wäre nicht meine Art. Und ich weiß auch, dass wir Juden vielleicht sensibler reagieren als andere.

Nur: Es ist nicht nur so ein Gefühl, es ist die Wirklichkeit. Es sind nicht nur Empfindungen und sporadische Eindrücke, es sind faktisch nachprüfbare Tatsachen.

Ende des vergangenen Jahres hat die Europäische Grundrechteagentur FRA eine Umfrage veröffentlicht unter Europas Juden. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Leute haben Angst. Neun von zehn befragten Juden sagen, dass der Antisemitismus in ihrem Land zugenommen habe.

Und in einer anderen EU-Umfrage vom Januar diesen Jahres stimmten zwei Drittel der Deutschen der Aussage zu, die Anfeindungen gegenüber Juden seien hierzulande ein Problem und hätten in letzter Zeit zugenommen.

Politik beginnt bekanntlich mit dem Betrachten der Realität. Sie sollte im konkreten Fall damit beginnen, dass man sich Gedanken macht, warum wir den Antisemitismus nicht aus den Köpfen vieler Menschen bekommen. Und auch, warum er sich so offen – viel offener als je zuvor seit 1945 – manifestiert.

Irgendetwas in unserem Bildungssystem muss falsch gewickelt sein. Wie kann es sein, dass das Wort „Jude“ auf Schulhöfen wieder zu einem Schimpfwort geworden ist? An der Zuwanderung von jungen Muslimen allein kann das ja nicht liegen.

Und wie kann es sein, dass im Jahr 2019 ein in Deutschland aufgewachsener Jude, der Israel gegenüber Kritik verteidigt, damit rechnen muss, nicht mehr als Landsmann, sondern als Vertreter des Staates Israel angesehen wird?

Es wird von vielen in diesem Land immer eingefordert, dass es doch nun mal gut sein soll mit der Geschichte, dem Holocaust und all den anderen schrecklichen Dingen, die damals passiert sind, und dass die nach 1945 Geborenen nicht ständig damit befasst werden.

Gleichzeitig stellen wir fest: Je weiter die Schoa zurückliegt, desto weniger sind viele Menschen in Deutschland bereit, die Lehren aus ihr zu ziehen. Desto enthemmter äußert man sich wieder in der Öffentlichkeit. Desto mehr wird wieder gehetzt gegen Juden, gegen andere Minderheiten, und auch gegen Israel.

Das fängt mit Worten an, hört mit ihnen aber natürlich nicht auf. Worte haben Konsequenzen.

Ganz ehrlich, ich hätte die Agitation, die Verrohung der Sprache, wie wir sie nicht nur in Deutschland seit einigen Jahren erleben, nicht für möglich gehalten.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Viele von Ihnen werden die Geschehnisse um den Kölner Gemeinderabbiner kennen, seine antisemitischen Erfahrungen, die er in den ersten drei Monaten seiner Amtszeit machen musste. Kippa tragend bot er einem älteren Herrn seinen Sitzplatz im öffentlichen Nahverkehr an. Der erwiderte: „Dies wird Euch auch nicht helfen …“ begleitet von Handbewegungen.

Ein Düsseldorfer Rabbiner wird nach 10 Jahren Wirken in der Landeshauptstadt zum ersten Mal antisemitisch angegangen. Der Hamburger Gemeinderabbiner wird beim Verlassen des Rathauses in Begleitung eines Vorstandsmitgliedes von einem Mann antisemitisch beleidigt, so intensiv, dass ein herbeigeeilter Polizist ihn kaum stoppen kann.

Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke vor drei Wochen sollte dieses Land eigentlich wachrütteln. Dieser Mord hat gezeigt, welch scharfe Waffe Worte sein können. Ihm ging eine schlimme Agitation in den sozialen Netzwerken voraus. Und nicht nur das: Auch nach dieser schrecklichen Tat ging die Hetze munter weiter.

Die Oberbürgermeisterin von Köln und andere Bürgermeister werden mit ihrer Ermordung bedroht. Mails werden Land auf und ab verschickt: „Der Wechsel kommt, Euer Stündlein hat geschlagen.“

Die entscheidende Frage ist natürlich: Was kann man tun? Kann man überhaupt etwas tun? Ich denke schon. Ein Ruck durch die Gesellschaft auf der einen Seite wäre möglich und auf der anderen Seite verfügt der Staat über ein großes Instrumentarium, um zumindest den schlimmsten Auswüchsen zu begegnen, gerade im Bereich der Hasspropaganda.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz war zum Beispiel der Versuch, etwas gegen illegale Hetze und Verleumdung im Internet zu tun.

Hat es etwas gebracht? Vielleicht nicht das, was man sich davon erhofft hatte. Aber zumindest eines hat es gebracht: Das Thema Hate Speech steht jetzt auf der Tagesordnung der Politik. Das Problem wird diskutiert, anstatt nur ignoriert.

Dass einige gleich die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, wenn die Betreiber sozialer Netzwerke verpflichtet werden, illegalen Content zu löschen, ist nun wirklich abwegig.

Meinungsfreiheit ist nie schrankenlos. Sie darf es auch nicht sein. Wer Einzelne oder ganze Gruppen rassistisch diffamiert und so direkt oder indirekt Stimmungsmache betreibt, den kann und darf der Artikel 5 unseres Grundgesetzes nicht schützen.

Leider haben Facebook, Twitter und YouTube viel zu lange ihre Hände in Unschuld gewaschen. Sie haben schlicht zu wenig getan und die Verantwortung auf andere abgewälzt.

Das wird jetzt langsam besser, aber es muss noch viel mehr getan werden. Mit anderen Worten: Es muss mehr und schneller gelöscht werden! Je länger Hass-Postings online sind, desto mehr Wirkung entfalten sie.

Man kann lang und breit darüber diskutieren, ob das Löschen nicht Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaften wäre und ob man es privaten Firmen überlassen soll zu entscheiden, was gelöscht werden muss und was nicht. Natürlich gibt es da Grenzfälle. Nur: Jede Zeitung, jedes seriöse Medium bestimmt selbst, was veröffentlicht wird und was nicht. Die Redakteure tragen Verantwortung, auch nach außen hin. Das Gleiche sollte meines Erachtens auch für die Betreiber der sozialen Medien gelten. Das hat mit Zensur wenig zu tun, aber viel mit gesellschaftlicher Verantwortung.

Ein zweites großes Problem ist die Anonymität, aus der heraus viele ihre wüste Hetze betreiben. Es ist mittlerweile ziemlich einfach geworden, auf Twitter oder Facebook ein Konto zu eröffnen und dann unter falschem Namen vom Leder zu ziehen.

In Österreich hat die Regierung kürzlich einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Anonymität im Netz einschränkt. Wer künftig im Internet einen Beitrag verfasst, soll das nicht mehr anonym tun können. Zumindest gegenüber den Plattformbetreibern müssen Nutzer ihren Vornamen, Nachnamen und ihre Adresse angeben. Und die Betreiber müssen diese Daten im Fall einer Ermittlung auch herausgeben, sofern der Verdacht auf Beleidigung oder üble Nachrede besteht.

Ich finde den Grundgedanken, der dahinter steckt, interessant, denn: Jeder erwachsene Mensch ist für seine Taten verantwortlich. Das Gleiche sollte auch für seine Worte gelten. Wir leben schließlich in einem demokratischen Rechtsstaat, nicht in einer Diktatur, und für soziale Netzwerke sollten dieselben Regeln gelten wie in der analogen Welt.

Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber hat vergangene Woche im Zusammenhang mit dem Mordfall Lübcke ein anderes Instrument ins Spiel gebracht, den Artikel 18 des Grundgesetzes. Dort heißt es:

„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung […] zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“

Das ist sicherlich ein scharfes Schwert, das unsere Verfassung hier bietet, und es ist eines, das bislang noch nie angewendet wurde, womöglich aus gutem Grund.

Trotzdem sollte man sich mal bewusst werden, warum dieser Passus im Grundgesetz steht: Weil schon einmal der Missbrauch der Meinungsfreiheit dazu geführt hat, dieses Land in den Abgrund zu führen. Weil Diffamierung und Hetze schon einmal zum Mord an sechs Millionen Juden und zum verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte mit 55 Millionen Todesopfern geführt haben.

Wenn man es ernst meint mit dem „Wehret den Anfängen“, dann muss die Demokratie wehrhaft sein. Staat und Gesellschaft müssen klare Kante zeigen gegenüber den Feinden der pluralistischen Gesellschaft. Die Menschen müssen geschützt werden, auch gegen Diffamierung.

Man kann natürlich niemandem verbieten, bigott zu sein und schlecht über Juden oder andere Gruppen zu denken. Die Gedanken sind frei. Die Meinungsäußerung ist auch frei. Das Verbreiten von Lügen und die Volksverhetzung sind es aber nicht.

Mir ist schon klar, mit Repression allein wird man dem Problem nicht Herr. Der eigentliche Punkt ist ja nicht, dass Menschen etwas Negatives aussprechen, sondern dass sie überhaupt so denken, wie sie denken.

Zu erforschen, warum das so ist, zu überlegen, wie man verhindern kann, dass Stereotype und antisemitisches Gedankengut überhaupt entstehen und sich verbreiten, das wird die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre sein. Hier hat gerade die Wissenschaft eine wichtige Rolle zu spielen. Ich sage das nicht nur, weil wir hier in einer Universität sitzen, sondern aus tiefster Überzeugung.

Wir Juden allein werden es nicht schaffen, den Antisemitismus zu überwinden. Da können wir uns noch so mustergültig verhalten, es wird immer welche geben, die uns zum Sündenbock machen.

Ja, wir können einiges aushalten, auch überzogene Kritik an Israel. Wir haben ein dickes Fell. Die jüdische Gemeinschaft musste viel ertragen in den vergangenen Jahrhunderten. Uns gibt es trotzdem noch.

Was wir aber nicht aushalten können ist eine Mehrheit, die schweigt und nichts tut gegen die Verbalattacken auf uns und auf andere Minderheiten. Eine Gesellschaft, die nicht immun ist gegen den Virus des Antisemitismus, und die sich auch nicht impfen lassen will dagegen.

Ich glaube, die stärkste Waffe von uns Juden gegen den Hass ist der Humor. Auch wenn vieles, was uns da im Alltag begegnet, gar nicht so witzig ist und auch nicht witzig gemeint ist: Gewisse antisemitische Aussagen sind so lachhaft, dass man sich nur lächerlich darüber machen kann.

Humor ist die Waffe der Schwachen, hat ein Rabbiner es einmal treffend formuliert. Und deswegen möchte ich meine Rede mit einem Bonmot von Isaiah Berlin beenden. Der hat einmal gesagt:

“Ein Antisemit ist jemand, der die Juden noch mehr hasst, als es unbedingt notwendig ist.“

Sicher, wir können den Judenhass natürlich nicht einfach weglachen, und er ist auch nicht witzig. Aber wir können den Leuten zeigen, dass wir uns davon nicht unterkriegen lassen.

Herzlichen Dank!

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