Grußwort von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster zur Ausstellungseröffnung bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 19.4.2015 in Mannheim (Redemanuskript)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte Ihnen zu Beginn den Lebensweg eines Mediziners schildern: Dr. Rudolf Fromm war kein Internist, sondern Allgemeinmediziner und Kinderarzt. Doch sein Lebensweg steht exemplarisch für das Schicksal tausender jüdischer Ärzte während der NS-Zeit.
Dr. Fromm – übrigens im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz - hatte in den 20er Jahren eine Arztpraxis in der Nähe von Saarbrücken. Sein Einkommen aus dieser Praxis ging ab 1933 zunächst um 20 Prozent zurück, 1935 waren es schon 50 Prozent und 1937 schließlich 85 Prozent. Die Gesetzgebung der Nazis gegen jüdische Ärzte zeigte Wirkung.
In der Reichspogromnacht 1938 wurde sein Haus von SA, SS und Nachbarn verwüstet, er selbst kam in Gestapo-Haft und wurde von dort ins KZ Dachau deportiert. Am 1.12.1938 wurde ihm die Approbation entzogen. Schon im Januar 1939 hatte ein nicht-jüdischer Kollege sein Haus übernommen und dort seine Praxis eröffnet.
Dr. Fromm wurde aus Dachau entlassen und emigrierte im Januar 1939 nach New York. Zuvor musste er für die Fahrt von Dachau nach Hause 100 Reichsmark „Rückreisegeld“ aufbringen. Hinzukamen 7.600 Reichsmark für die sogenannte Reichsfluchtsteuer, 2.800 Reichsmark „Judenvermögensabgabe“ und 1.600 Reichsmark für sein Umzugsgut.
In den USA legte er erneut ein medizinisches Staatsexamen ab und eröffnete 1941 eine Praxis in New York. 1946 starb er im Alter von 52 Jahren an den Folgen einer Bluthochdruckerkrankung. Für seine Frau dauerte es bis 1967, bis sie endlich eine Hinterbliebenenrente als Wiedergutmachung bekam. Sie starb 1968.
Warum habe ich gerade dieses Schicksal ausgewählt?
Es ist doch immer mal wieder und meist mit einem etwas erleichterten Unterton zu hören: Dieser jüdische Arzt konnte ja noch rechtzeitig emigrieren. Die Botschaft, die mitschwingt, heißt: Dann war es ja nicht so schlimm.
Doch, es war schlimm.
Jüdischen Ärzten wurde ab 1933 systematisch die Existenzgrundlage entzogen. Sie wurden aus Kliniken, Universitäten und Instituten entlassen. Schon im April 1933 verloren sie ihre Kassenzulassung. Juden wurden vom Studium ausgeschlossen. Im März 1933 hatten sich der Hartmannbund und der Deutsche Ärzte-Vereins-Bund dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund angeschlossen. Jüdische und andere missliebige Ärzte wurden sofort ausgeschlossen. 1938 folgte das endgültige Berufsverbot für jüdische Ärzte.
Und am Beispiel von Dr. Fromm sehen wir: Wer es noch ins Ausland schaffte, musste sich dort – das galt natürlich für andere Emigranten auch – eine ganz neue Existenz aufbauen. Die seelischen und physischen Belastungen der Verfolgung blieben nicht ohne Spuren.
Wer die Flucht aus Deutschland nicht schaffte, ging den gleichen Weg wie die ganze jüdische Gemeinschaft: Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager.
Nach Schätzungen überlebte rund ein Viertel der 8.000 deutschen jüdischen Ärzte die Shoa nicht.
Rund die Hälfte der jüdischen Ärzte war bis 1937 emigriert. Von ihnen kehrten nach 1945 nur rund fünf Prozent nach Deutschland zurück.
Die Deutsche Ärzteschaft war damals sehr schnell und sehr vollständig auf Linie der Nationalsozialisten. Sie ließen sich willig einbinden: Sie gingen aktiv gegen die „verjudete Ärzteschaft“ vor, um einen, wie es hieß,
Zitat: „sittlich und politisch unversehrten Ärztestand“ zu erreichen. Sie entwickelten die Rassenhygiene und andere abstruse Fachrichtungen weiter. Sie führten die entsetzlichsten Menschenversuche durch, die sich vorher niemand hätte vorstellen können.
So eifrig wie die Ärztekammern waren auch die medizinischen Fachgesellschaften. So verdrängte die DGIM ihren Vorsitzenden Leopold Lichtwitz aus ihren Reihen. Auch Internisten waren an den Menschenversuchen beteiligt: So erforschte Hans Eppinger im KZ Dachau die Trinkbarkeit von Meerwasser. Er gab über einen längeren Zeitraum 90 Sinti und Roma nur Meerwasser zu trinken. Trinkwasser wurde ihnen vorenthalten. Die meisten von ihnen starben in kürzester Zeit.
Der Nationalsozialismus ist für die deutsche Ärzteschaft ein rabenschwarzes Kapitel. Entsprechend schwer haben sich die Ärzte mit der Aufarbeitung ihrer braunen Vergangenheit getan. Sie wurde erst wirklich gewagt, als die Generation der Ärzte, die in die NS-Verbrechen verwickelt war, quasi abgetreten war.
Erst 2009 hat etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in ihre Satzung eine Passage aufgenommen, in der sie sich – ich zitiere, zu ihrer „besonderen Verantwortung um die Würde und Rechte der psychisch Kranken“ bekennt, „die aus der Beteiligung ihrer Vorläuferorganisationen an den Verbrechen des Nationalsozialismus, an massenhaften Krankenmorden und Zwangssterilisationen“ erwächst.
Erst 2012 verabschiedete der Deutsche Ärztetag eine ähnliche Erklärung.
Es ist sehr zu begrüßen, dass sich auch die DGIM ihrer Vergangenheit stellt. 2012 begannen die Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse wir heute hier besichtigen können.
Ebenso ist die Schaffung der Leopold-Lichtwitz-Medaille ein wichtiges Signal: Mit diesem Preis ehrt die DGIM Verdienste für die Innere Medizin und erinnert zugleich an die verfolgten jüdischen Ärzte.
Zur damaligen Zeit haben wir einen Abstand von fast drei Generationen. Warum ist die Erinnerung heute noch so wichtig? Was haben junge Ärzte heute mit dem Nationalsozialismus zu tun?
Es gibt nichts Vergleichbares in der Geschichte, das so deutlich macht: Ärztliches Handeln muss immer die Menschenwürde achten. Der Ethos, Menschen zu heilen und Menschen zu helfen, und Schaden von ihnen abzuwenden, muss immer gelten.
Arzt sein bedeutet eben mehr, als zu wissen, welches Antibiotikum bei welcher Indikation gegeben wird.
Deshalb ist es absolut unerlässlich, dass die medizinische Ethik einen wichtigen Bestandteil der Ausbildung ausmacht. Auch in Medizingeschichte sollten wir unseren Studenten nicht nur vermitteln, wer wann das Penicillin entdeckte. Der medizinische Nachwuchs muss das NS-Euthanasieprogramm kennen. Die Zwillings-Versuche von Josef Mengele. Die Menschenexperimente in den KZs.
Nur wer weiß, zu welchen Taten ein Mensch imstande ist, nur wer weiß, wie ethische Standards völlig entgleiten, ja pervertiert werden können, entwickelt eine ausreichende Sensibilität für die Bedeutung medizinischer Ethik.
Ein Fall aus der jüngsten Zeit hat leider wieder vor Augen geführt, dass das Wissen über die NS-Vergangenheit der deutschen Medizin zu gering ist. Auf dem Gelände der FU in Berlin wurden 2014 menschliche Knochen gefunden. Obwohl sich in unmittelbarer Nähe das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Eugenik und menschliche Erblehre befunden hatte, das mit anatomischen Proben von Menschenversuchen aus Auschwitz arbeitete, wurden die Knochen nicht untersucht, sondern eingeäschert.
Angesprochen auf dieses Versäumnis sagte der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité, Professor Michael Tsokos, laut Berliner „Tagesspiegel“:
Die FU habe bei der Übergabe des Knochenfundes nicht Begriffe wie Auschwitz, Mengele oder NS verwendet, sondern habe lediglich das Kaiser-Wilhelm-Institut erwähnt. Und wörtlich: „Ich wusste bis vor kurzem gar nicht, was das ist.“ Er habe das Institut in der Kaiserzeit verortet.
Die Max-Planck-Gesellschaft, die Rechtsnachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Institute, hat umfangreich ihre Vergangenheit erforschen lassen. Vielleicht sollten solche Institutionen, und auch Fachgesellschaften wie die DGIM, darauf achten, dass diese Forschungsergebnisse nicht in Archiven verschwinden, sondern aktiv in der Lehre eingesetzt werden.
Denn es ist ja nicht so, dass sich heute keine ethischen Fragen mehr stellen. Die Fortschritte in der Medizin werfen neue ethische Fragen auf, wie sich in aktuellen Debatten etwa über die PID oder über Sterbehilfe zeigt. In unserer emotionalisierten Medienwelt wird dann schnell von „Selektion von lebensunwertem Leben“ gesprochen.
Unreflektiert solche Vergleiche zu ziehen, bringt jedoch weder eine Debatte weiter, noch helfen sie in der ethischen Abwägung. Es geht darum, genau hinzuschauen: Was ist damals geschehen? Worum geht es heute?
Dafür ist solides Wissen um das historische Geschehen notwendig.
Die wissenschaftliche Rückschau auf die Geschichte einer medizinischen Fachgesellschaft ist aber auch in einer Zeit bedeutsam, in der das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen neu in Frage gestellt ist.
Wer sich damit beschäftigt, wie 1933 jüdische Ärzte diskriminiert und verdrängt wurden, wird sich fragen: Wie gehe ich heute mit jüdischen oder muslimischen Kollegen um? Interessiert mich ihre Kultur überhaupt? Wenn einem der andere gleichgültig ist, lässt es sich bei Diskriminierung viel leichter wegschauen.
Gerade in diesen Zeiten - angesichts einer wachsenden Bedrohung durch islamistische Terroristen – sollten wir aktiv aufeinander zugehen. Ich übernehme häufig an Weihnachten oder Ostern Notarztdienste. Damit will ich mich jetzt nicht selber rühmen. Aber welcher Arzt weiß, wann der Ramadan ist und ob er in dieser Zeit seinem muslimischen Kollegen vielleicht ein paar anstrengende Dienste abnehmen kann? Wer springt im Herbst an Jom Kippur für den jüdischen Kollegen ein? Oft genügen kleine Gesten, damit sich jeder willkommen fühlt. Es braucht nicht viel, um den Zusammenhalt zu stärken.
Das Leid, das tausenden Menschen damals angetan wurde, können wir nicht wiedergutmachen.
Wir können aber in Zukunft vieles besser machen.
Das wünsche ich mir.
Ich danke Ihnen!
"Ärztliches Handeln muss immer die Menschenwürde achten"
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