Die heutige Konferenz ist mit dem Titel überschrieben: „Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nie abgeschlossen“. Ich möchte Ihnen gerne aus jüdischer Perspektive ein paar Gedankenanstöße für den Tag mit auf den Weg geben – und bedanke mich für die Gelegenheit, zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Zu Beginn möchte ich einen Schoa-Überlebenden selbst zu Wort kommen lassen: Elie Wiesel. Der 2016 verstorbene Friedensnobelpreisträger sagte im Jahr 2000 in seiner Rede bei der Holocaust-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag:
„Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so wie es Teil der meinigen sein wird.“
In der Tat haben Juden und Nicht-Juden dies gemeinsam: Die Schoa ist Teil ihrer Geschichte.
Für uns Juden ist das Geschehen noch immer nah. In jeder Familie ist die Schoa präsent. Nicht immer aus der gleichen Perspektive. Es gibt Familien, bei denen etwa die Großeltern in Auschwitz ermordet wurden. Und es gibt Familien, deren Großvater mit der Roten Armee Auschwitz befreite. Doch auch diese jüdischen Familien haben in der Regel Opfer zu beklagen. Darauf komme ich später noch zu sprechen.
Es ist häufig die dritte Generation, die erlebt, wie die Überlebenden sich öffnen und endlich in der Lage sind zu sprechen. Gegenüber ihren Kindern hatten sie eisern geschwiegen, um sie nicht zu belasten und weil die Erinnerungen zu grausam waren, um sie in Worte zu fassen. Erst gegenüber ihren Enkeln waren und sind sie häufig fähig, von „dort“ zu berichten.
Sowohl das Schweigen als auch das Erzählen ist für die nachfolgenden Generationen belastend. Denn auch im Schweigen war die Schoa immer präsent und warf ihre Schatten auf das Familienleben. Und für die Enkel ist es viel härter, wenn die geliebte Oma plötzlich erzählt, als wenn sie Daten in einem Geschichtsbuch in der Schule lesen.
Ich will das nicht weiter ausführen. Über dieses Thema ist ja inzwischen zum Glück intensiv geforscht worden. Den meisten unter Ihnen ist dies geläufig.
Es ist mir aber wichtig, es in Erinnerung zu rufen: Die Auseinandersetzung mit der Schoa und der heutige Umgang mit diesem Teil der deutschen Geschichte – das ist für manche Menschen eine wissenschaftliche Frage, für andere ein entferntes historisches Geschehen. Doch für uns, für die jüdische Gemeinschaft, ist es die Geschichte unserer Familien. Die Erinnerung an die Schoa berührt unsere Seelen.
Und wenn heute diese Verbrechen relativiert werden oder das Gedenken in Frage gestellt wird, dann berührt dies auch unsere Seelen.
Die wissenschaftliche Erforschung der Schoa und ihrer Folgen in den verschiedenen Disziplinen ist natürlich immens wichtig. Denn es gilt, was die Initiative kulturelle Integration, der der Zentralrat der Juden angehört, in These 13 formuliert hat: „Die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten und weiterzugeben, ist eine dauernde Verpflichtung für in Deutschland geborene Menschen ebenso wie für Zugewanderte“.
Ich möchte an dieser Stelle wiederholen, was der Präsident des Zentralrats, Dr. Schuster, am Wochenende zum Internationalen Holocaust-Gedenktag gesagt hat:
„Über Jahrzehnte war es Konsens in der Bundesrepublik, dass die Erinnerung an die Schoa zur deutschen Staatsräson gehört. Doch dieser Konsens bröckelt. Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, könnte unsere Demokratie ernsthaft gefährdet sein. In diesem Gedenkjahr müssen wir alle Kräfte bündeln, um die Lehren aus der Schoa wieder in den Köpfen zu verankern.“
Hier sehen wir vor allem die Schulen in der Pflicht. Es sollte so etwas wie Demokratieerziehung und auch Holocaust Education etabliert werden.
Doch wie steht es in unserem Land um die Lehreraus- und -fortbildung? Gibt es hier Schwerpunkte, um neue Erkenntnisse der Holocaust-Forschung oder neue Entwicklungen in der Erinnerungskultur weiterzugeben?
Wenn wir einen Blick in unsere Hochschulen werfen, sieht es leider ganz düster aus. Erst 2017, also 72 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde in Deutschland die erste Professur für Holocaust-Forschung eingerichtet. Eine Studie der Freien Universität Berlin und der Jewish Claims Conference hat gezeigt, dass an vielen Universitäten keine Vermittlung von Grundlagenwissen über die Geschichte des Holocaust stattfindet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
jüdisches Leben in Deutschland ist definitiv nicht auf den Zeitraum von 1933 bis 1945 beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine 1.700-jährige Geschichte, die in ihrer ganzen Breite in der Schule Raum finden sollte. Und sicherlich muss auch ein Überdruss verhindert werden, den Schüler entwickeln können, wenn sie zu oft und pädagogisch schlecht vermittelt mit der Schoa konfrontiert werden.
Wenn Schulen jedoch die Auseinandersetzung mit der Schoa vernachlässigen, machen sie quasi Platz für Politiker, die den Schlussstrich ziehen und lieber die „ruhmreichen“ Kapitel der deutschen Geschichte ins Rampenlicht stellen wollen.
Es sind Politiker, die gewählt werden, obwohl sie gegen Minderheiten hetzen, die Religionsfreiheit in Frage stellen und völkisches Denken verbreiten. Sie nutzen sowohl skrupellos die Lücke, die durch das nicht vorhandene Wissen da ist, als auch den Überdruss, der entsteht, wenn junge Menschen den Eindruck bekommen, sie müssten sich schuldig fühlen für die deutsche Vergangenheit. Von den Rändern her fangen die Rechtspopulisten an, unsere demokratischen Errungenschaften zu untergraben. Dieses Einfallstor müssen wir wieder schließen.
Es gilt daher, durch eine gute Ausbildung unsere Lehrerinnen und Lehrer zu stärken.
Und es braucht eine stärkere Förderung der Gedenkstätten. Die KZ-Gedenkstätten sind heutzutage mit jungen Menschen konfrontiert, für die das damalige Geschehen sehr weit weg liegt. In ihren Familien ist die Schoa kein Thema mehr – entweder, weil nicht mehr darüber gesprochen wird, was die Großeltern oder Urgroßeltern getan haben, oder weil ihre Vorfahren aus anderen Ländern stammen, in denen sie mit der Schoa keine Berührung hatten.
Daneben haben es die Gedenkstätten zunehmend mit erwachsenen Besuchern zu tun, die die Verbrechen der Schoa in Frage stellen oder leugnen.
Längst haben sich die Gedenkstätten darauf eingestellt. Sie schulen ihr Personal, sie arbeiten mit den sozialen Medien und modernen pädagogischen Methoden. Sehr viele Gedenkstätten leisten hier vorbildliche Arbeit, für die wir, die jüdische Gemeinschaft, sehr dankbar sind.
Dafür benötigen sie allerdings auch ausreichende finanzielle Mittel. Ich appelliere an Bund und Länder, an dieser Stelle nicht zu sparen. Gerade die authentischen Orte, an denen die Opfer im Zentrum stehen, erfüllen eine unersetzbare Rolle, um bei jungen Menschen Empathie zu erzeugen. Gerade diese Orte sind es, die das Geschehen wieder näher heranrücken.
Und ich habe es oft erlebt: Wenn junge Menschen auch emotional erreicht werden, wenn sie berührt sind von den Erinnerungen eines Zeitzeugen, von einem authentischen Ort – dann entsteht auch ein Verantwortungsgefühl.
Ein Verantwortungsgefühl für das „Nie wieder“.
Nie wieder dürfen Menschen verfolgt werden, nur weil sie bestimmte Merkmale erfüllen. Nie wieder darf die Menschenwürde so mit Füßen getreten werden.
Meine verehrten Damen und Herren,
gestatten Sie mir am Schluss noch eine persönliche Bemerkung.
Meine Familie stammt aus Weißrussland. Über das Schicksal vieler Familienangehöriger im Zweiten Weltkrieg wusste ich über eine lange Zeit nichts. Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal in Yad Vashem. Dort konnte ich aus zeitlichen Gründen nur nach den Namen meiner Familie väterlicherseits forschen und erfuhr, dass 58 Mitglieder der Familie Dainow in der Schoa ermordet wurden.
Das geschah nicht in Auschwitz und auch nicht in Lagern. Denn die Vernichtung des europäischen Judentums fand auch an vielen anderen Orten statt. Einige sind im kollektiven Gedächtnis verankert, wie etwa Babij Jar. Andere sind vergessen.
Auschwitz wurde zur Chiffre für die Schoa. Dennoch wissen heute viele Schüler nicht einmal, was Auschwitz war. Das ist schlimm genug.
Mir aber ist wichtig: Es reicht nicht, Auschwitz zu kennen. Die Verbrechen der Nazis ereigneten sich in vielen Formen und an vielen Orten. Auch in den Städten und Wäldern Weißrusslands.
Vergessen Sie das nicht!
Denn, um noch einmal Elie Wiesel zu zitieren:
„Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung der Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“