60. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes



Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, Jüdisches Gemeindehaus, Fasanenstraße 79/80, Berlin

Auch sechzig Jahre danach halten wir noch den Atem an, wenn wir an den Warschauer Ghettoaufstand denken. Auch sechzig Jahre danach löst der verzweifelte Kampf der Juden in Warschau in uns Trauer aus - aber auch Bewunderung, Respekt, Stolz und ein leises, staunendes Kopfschütteln. Kopfschütteln, weil wir heute kaum noch begreifen können, wie verzweifelt die Situation der Juden im Warschauer Ghetto war und welch menschliche Größe die jüdischen Kämpfer in dieser dunklen, schwarzen Situation aufbrachten, indem sie sich nicht aufgaben. Ja, selbst meine Generation, die wir durch die Shoah gehen mussten, wir, die wir durch Zufall überlebten, ohne dass wir so recht wissen, warum uns dieses Glück zuteil wurde, selbst wir können heute kaum noch nachvollziehen, welcher inneren Kraft es bedurfte, sich in einen aussichtslosen Kampf gegen einen übermächtigen Feind zu stürzen.

Jeder der Ghettokämpfer wusste, dass es nichts zu gewinnen gab außer den Tod. Doch diese Juden wollten sich ihren Tod erkämpfen. Sie wollten sich zumindest eine Art letztes menschliches Recht vorbehalten: zu bestimmen, wie sie sterben müssten: als freie Menschen.

Insofern – und ich will das gleich an dieser Stelle betonen – insofern ist der Warschauer Ghettoaufstand mit keinem noch so verzweifelten Freiheitskampf unserer Tage zu vergleichen.

Wir leben in Zeiten, in denen Geschichtskenntnisse und differenzierte Analyse politischer Geschehnisse nicht sehr hoch in Kurs stehen. Die Welt ist so unendlich kompliziert geworden, doch die Informationsquellen, derer wir uns tagtäglich bedienen, begegnen dieser Tatsache häufig mit geradezu haarsträubenden Vereinfachungen: Kürzel, Slogans und von Unkenntnis zeugende Vergleiche werden herangezogen und als Wahrheiten verkauft. Da wird der amerikanische Präsident mit Adolf Hitler gleichgesetzt, da wird die israelische Armee mit der deutschen Wehrmacht und der SS verglichen, oder gar der sogenannte Mut palästinensischer Selbstmordattentäter mit dem Mut der jüdischen Kämpfer im Warschauer Ghetto auf eine Stufe gestellt.

Um solchen Missverständnissen ein für alle Mal zu begegnen: Es gibt nichts, aber auch rein gar nichts, was ein palästinensischer Selbstmordattentäter mit einem kämpfenden Juden im Ghetto gemein hat. Ich will mich hier nicht einmal über den Unterschied des Tötens von Zivilisten und dem Kampf gegen eine schwer bewaffnete deutsche Armee auslassen. Ich will auch nicht über die gänzlich andere Lebensethik sprechen, die einen Selbstmordattentäter so gravierend von einem kämpfenden Ghettobewohner unterscheidet: Der eine wirft sein Leben weg, der andere kämpft um sein Leben, um sein Recht als freier Mensch.

Und selbst jene Palästinenser, die sich nicht in die Luft jagen, sondern sozusagen „konventionell“ kämpfen, haben nichts mit den aufständischen Juden von Warschau gemein. Denn so trostlos die Situation des palästinensischen Volkes sein mag, die Palästinenser haben immer noch etwas, was die Juden in der polnischen Hauptstadt schon längst nicht mehr hatten: Hoffnung. Hoffnung auf ein einstmals besseres Leben, selbst wenn dieses Leben erst irgendwann, eines Tages, in ferner Zukunft sein mag. Immerhin: Es besteht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für die nächste Generation. All das hatten die Juden im Warschauer Ghetto schon längst nicht mehr. Es gab 1943 nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Gar nichts.

„Ja, wenn das so ist, dann ist doch sowieso schon alles egal, dann kann man doch auch kämpfen.“ - Solche Äußerungen hört man gelegentlich. Und natürlich können sie nur aus dem Munde einer Generation kommen, die – zum Glück – nichts weiß vom Krieg. Die nichts weiß über Demütigung, über Hunger und Durst, die nichts weiß über die Kälte im Winter und die Hitze im Sommer, wenn man beidem ungeschützt ausgeliefert ist. Und die noch nicht einmal weiß, was es bedeutet, kein richtiges Bett zu haben, keine Badewanne, keinen Ort der Privatheit, der Intimität, wohin man sich zurückziehen kann, einen Ort, der Sicherheit vermittelt.

Erst wer all diese Mühsal des Krieges einmal erlebt hat, eines Krieges, der nicht nur drei Wochen, sondern zwei, drei, ja vier Jahre und länger dauert, weiß, was es heißt, sich gegen die Lähmung, Erstarrung und Verzweiflung aufzubäumen, die Körper und Seele längst erfasst hat.

Es gibt eine Reihe von Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto. Ein polnischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 1993, der in diesen Tagen auf einigen Fernsehkanälen noch einmal zu sehen ist, hat sich all dieser kleinen Schnipsel, die noch erhalten sind, in beeindruckender Weise angenommen. Die Sequenzen sind zum Teil nur wenige Sekunden lang, doch dem Regisseur ist aus der Not, die normale Länge eines Filmes füllen zu müssen, eine Lösung eingefallen, die die Erschütterung über das, was da zu sehen ist, noch steigert: Er zerlegt die kurzen Sequenzen in eine brutale, unendlich langsame, geradezu nicht enden wollende Zeitlupe.

Die Bewegungen der Menschen auf diesen Bildern sind immer kurz davor zu erstarren, und doch bleiben sie nicht stehen. So wird jeder Schritt, jede Kopf- oder Handbewegung zur Qual. Für den Betrachter aber auch für die Juden im Ghetto, die wir da wie seltsame Schatten aus einer anderen Welt erleben. Die Zeitlupe als modernes Mittel der Kunst vermittelt uns überraschenderweise eine Ahnung, wie qualvoll das banale Leben im Ghetto gewesen sein muss. Aber es erzählt uns noch mehr: Es erzählt uns von der bleiernen Schwere, die sich über diese Menschen gelegt hat und die sogar eine ganz banale Bewegung des menschlichen Körpers zu einem mühsamen, physischen wie psychischen Kraftakt werden lässt.

Wer diese Aufnahmen gesehen hat, wird neben dem Horror, den sie sowieso schon vermitteln, erahnen, gegen welche „Schwer-Kräfte“ sich die jüdischen Kämpfer zunächst einmal auflehnen mussten, ehe sie den Kampf gegen Hitlers Truppen aufnehmen konnten.

Nein, meine Damen und Herren, der Warschauer Ghettoaufstand ist mit nichts zu vergleichen. Kein Freiheitskampf eines noch so gequälten oder unterdrückten Volkes erreicht die metaphysische Dimension desjenigen Aufstandes, der uns am heutigen Abend zum gemeinsamen Gedenken veranlasst.

Denn ist der Tod der jüdischen Kämpfer großartiger oder heroischer als der jener Millionen, die in den Gaskammern vergeblich um Luft rangen? Ist es wichtiger, sich an das Sterben dieser Juden mit der Waffe in der Hand zu erinnern - als an jene Abertausende, die sich zunächst ihr eigenes Grab schaufeln mussten, ehe sie von deutschen Soldaten erschossen wurden und sie hintenüber in diese Gruben fielen? Der Tod der jüdischen Ghetto-Soldaten ist wahrlich nicht größer, wichtiger oder besser als jeder andere in der Shoah.

Ist es nicht so, dass in den Jahren des Jischuws und in den Anfangsjahren des Staates Israel viele die Überlebenden verachteten, weil sie sich angeblich nicht gewehrt hatten? Die Überlebenden der Shoah mussten nach ihrer Ankunft in Israel verstummen. Neben der persönlichen Scham, überlebt zu haben, kam nun noch die Scham vor einem durchaus auch öffentlich geäußerten Vorwurf dazu, sie hätten sich wie „Lämmer zu Schlachtbank“ führen lassen. Wehrlos. Willenlos. In ihr Schicksal gefügt.

Der junge israelische Pionier, der mit braungebrannter muskulöser und stolzgeschwellter Brust sein Land bestellt und dieses mit der Waffe verteidigt – das war ja einst das Ideal, das der Zionismus schuf, um eine Gegenwelt aufzubauen zu der des bleichen Ghettojuden, der sich über die heiligen Schriften beugt und jeden Schicksalsschlag geduldig hinnimmt.

Dieses Weltbild ließ es anfänglich nicht zu, sich mit den Millionen von Juden zu identifizieren, die in Auschwitz und anderswo massenweise und industriell abgeschlachtet wurden. Da war es schon leichter, sich die Ghetto-Kämpfer zum Vorbild zu nehmen, ja, sie gewissermaßen als unmittelbare Vorläufer der Hagana und später von Zahal zu sehen. Denn war die Situation nicht dieselbe? Jeweils eine kleine jüdische Gemeinschaft, die mutig gegen eine feindliche Übermacht ankämpft? Machen wir uns bitte nichts vor – auch in den gefährlichsten und bedrohlichsten Zeiten des Staates Israel hatte das Lebensgefühl des israelischen Soldaten rein gar nichts mit dem des Ghetto-Kämpfers gemeinsam.

Nicht wenige wollten uns anderen Überlebenden das Gefühl vermitteln, wir seien wirklich nur „Lämmer“ gewesen, die sich brav zur Schlachtbank haben führen lassen. Ein Umdenken trat erst 1960 ein. Mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem. Die Augenzeugenberichte der Opfer öffneten vielen - auch Israelis - endlich die Augen für die Realitäten der Shoah.

Primo Levi hat von der Scham der Überlebenden oft gesprochen und geschrieben. Er, der wie kein anderer das Leben in Auschwitz beschrieben und dabei gezeigt hat, dass selbst ein KZ-Häftling „kämpfte“, auf seine Weise „Widerstand“ leistete, um jeden einzelnen Tag zu überleben. Ausgerechnet er wusste allerdings auch, was es bedeutete, von den nachkommenden Generationen den Vorwurf über sich ergehen lassen zu müssen, sich nicht gewehrt zu haben. Wodurch sich die Scham noch vergrößerte. Und das Schweigen der Überlebenden noch länger und schmerzhafter wurde.

Auch wenn heute in Israel kein Mensch mehr auf die Idee kommt, den Überlebenden, aber auch den Millionen Opfern der Shoah den Vorwurf zu machen, sie hätten sich allzu willig ermorden lassen, irgendetwas von diesem Vorwurf ist in uns allen stecken geblieben. Zahllose wissenschaftliche Studien haben in den vergangenen Jahren die Geschichte des Holocaust in vielen aber nicht allen Details aufgedeckt. Sie haben die Umstände der Verfolgung verdeutlicht und gezeigt, warum Widerstand – bewaffneter Widerstand – nur in den seltensten Fällen möglich war. Wir haben in den vergangenen Jahren allerdings auch erfahren, wie viel aktiven Widerstand es tatsächlich überall gegeben hat. Hier in Deutschland war es vor allem Arno Lustiger, der diesen unbekannten Aspekt der Shoah in seinen Publikationen öffentlich gemacht hat. Auch dadurch wissen wir heute, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto kein Einzelfall war, was seiner historischen Bedeutung jedoch keinen Abbruch tut.

Und trotz alledem – ein Stückchen Scham angesichts des Heldentums der Männer um Mordechai Anielewicz ist vielen Überlebenden geblieben. Denn – und das muss hier auch gesagt sein – es sind inzwischen die Täter und viele ihrer Nachkommen, die uns Juden den indirekten Vorwurf machen, wir hätten mit unserer Passivität die Shoah erst möglich gemacht! Die Umkehrung der Verantwortung bewirkt, dass die Opfer plötzlich selbst schuld sein sollen an ihrer Verfolgung, dass die Täter auf einmal gar nichts dafür können, dass sie geradezu gezwungen gewesen seien, ihr grausames Werk zu vollbringen, da sich die Juden ihnen nicht mit der angeblich nötigen Konsequenz entgegengestellt hätten. Es ist dieser Irrsinn, dieser Zynismus, der Menschen wie Primo Levi in den Selbstmord getrieben hat - und somit die Shoah noch in Einzelfällen bis heute fortsetzt.

Nein, meine Damen und Herren, unser Gedenken an den Warschauer Ghettoaufstand muss frei sein von jeglicher falschen Scham. Nicht zuletzt deshalb, weil sie uns den Blick nicht freigibt für das, was uns der Aufstand lehrt und weshalb wir seiner alljährlich gedenken.

Am 28.Juli 1942 gründete Mordechai Anielewicz die „Jüdische Kampforganisation“ ZOB, Zydowska Organizacja Bojowa. Daneben gab es noch den „Jüdischen Militärverband“ ZZW, Zydowski Zwiazek Wojskowy der revisionistischen Zionisten. Anielewicz war mit der ZOB etwas ganz besonderes gelungen: Er hatte alle existierenden Kräfte des jüdischen Lebens unter einen Hut bringen können, eine Leistung im Vorfeld, die gar nicht hoch genug einzuschätzen ist angesichts der Fliehkräfte, die es im politischen und religiösen Leben der Juden seit biblischen Zeiten gibt und wie wir das auch heute noch im israelischen Parlament – und in so mancher Gemeindevertretung - erleben können.

Unter der Fahne der ZOB vereinte Anielewicz jüdische Kommunisten, Bundisten und Zionisten wie etwa die Gruppen Dror, Haschomer Hazair, Poale Zion, Gordonia, Hanoar Hazioni und Akiba.

Ehe der Aufstand am 19. April 1943 begann, bedurfte es einer umfassenden logistischen Vorbereitung: Waffen mussten in das Ghetto hineingeschmuggelt werden, unterirdische Gänge und Tunnels geschaffen, Verstecke ausgebaut werden. Als dann der Kampf begann, war es zunächst der Überraschungseffekt, der den Deutschen schwere Verluste bescherte. Man hatte nie und nimmer mit Widerstand gerechnet. Doch die folgenden Wochen zeigten, dass die Aufständischen nicht nur den Mut der Verzweiflung auf ihrer Seite hatten. Sie besaßen vielmehr auch strategische und militärische Intelligenz, die ihnen zwar keinen Sieg bescherte, doch die menschliche Selbstachtung zurückgab und mit Sicherheit auch den Stolz, den ihnen die Nazis in so sadistischer Weise auszutreiben versucht hatten.

Hier beginnt die Lektion, die uns die gestorbenen Kämpfer als ihr Vermächtnis hinterließen: Der Warschauer Ghettoaufstand ist vielleicht die Geburtsstunde des modernen Juden des späten 20. Jahrhunderts. Denn die angebliche Passivität der Juden während der Shoah hatte in vielen Teilen auch einen jüdisch-ideologischen Hintergrund, der sich bis zum Zweiten Weltkrieg stets als richtige Überlebensstrategie erwiesen hatte.

Bis zum Beginn der zionistischen Bewegung im späten 19. Jahrhundert in Osteuropa, die zeitgleich mit der Entwicklung einer Wissenschaft des Judentums in Berlin einherging, bedeutete jüdische Geschichtsinterpretation zunächst religiöse Geschichtsinterpretation. Ob der Churban, also die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, oder die Vertreibung in Spanien, ob die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Deutschland durch die Kreuzritter oder die Pogrome in Russland – stets war es Gottes strafende Hand gewesen, die dem jüdischen Volk solch ein Schicksal bescherte, weil es gefehlt hatte und Seinem Worte nicht gefolgt war, die heiligen nicht Gesetze gehalten, die ethischen Grundlagen der eigenen Tradition nicht geachtet hatte.

Erst mit dem Beginn der Emanzipation konnte sich allmählich eine säkulare, wissenschaftliche jüdische Geschichtsbetrachtung entwickeln, die das Göttliche endgültig in den spirituellen Bereich jüdischen Glaubens verbannte.

Damit wurde zugleich der Zionismus als Idee erst möglich: Nicht nur die Sehnsucht, eine jüdische Identität jenseits des Glaubens leben und entwickeln zu können, sondern den jüdischen Menschen als Handelnden, als Schöpfer seines eigenen Geschickes in den Mittelpunkt zu stellen. Wir wissen alle, welche ideologischen Verrenkungen die Orthodoxie seit Beginn der zionistischen Bewegung vollbringen musste, um sich den Erfolg dieser „ungläubigen“ Juden irgendwie zu erklären. Denn einen jüdischen Staat – den durfte es nach der Tradition und dem Glauben erst dann geben, wenn der Meschiach kommt. Er würde erst diesen jüdischen Staat, den endgültigen jüdischen Staat schaffen, den Dritten Tempel erbauen und somit die Erlösung der Welt herbeiführen.

Die Zionisten brachen also mit einer Jahrtausende alten Tradition des Wartens. S i e handelten und verwarfen damit eine lange erprobte Überlebensstrategie, die sich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges als richtig bewiesen hatte: Angesichts der politischen Ohnmacht der jüdischen Gemeinden durch alle Jahrhunderte hindurch hatten sie keine andere Wahl, als sich immer nur zu biegen und zu beugen, um zu überleben. Politischer Widerstand konnte nicht geleistet werden – er hätte den kollektiven Selbstmord, das kollektive Todesurteil bedeutet. Indem man wie eine Weide im Wind flexibel blieb, überlebte man. Widerstand existierte immer nur im religiösen Bereich. Wenn es darum ging, den Glauben, die Tradition aufzugeben, dann ließ man sich lieber verbrennen, als den jüdischen Gott zu verleugnen. Und dort, wo eine jüdische Mehrheit sich doch den religiösen Repressalien – scheinbar - beugte, setzte sich der religiöse Widerstand im Untergrund fort. Das war so in Spanien bei den Marranen, das war so bei den Juden von Mesched in Persien, die gezwungen wurden, zum Islam überzutreten. Dies taten sie zwar, doch heimlich lebte man den jüdischen Glauben weiter und heiratete ausschließlich untereinander, damit man sich nicht mit der islamischen Welt vermischte. Nach der Gründung des Staates Israel wanderten die Juden von Mesched gemeinsam aus Persien aus.

Politischer jüdischer Widerstand regte sich also erst im späten 19. Jahrhundert. Jüdischer Widerstand mit der Waffe schließlich während der Shoah. Insofern sind die Kämpfer von Warschau moderne Juden gewesen. Juden, die sich nicht mehr vorschreiben lassen wollten, wie ihr Schicksal auszusehen hat, die ihr Schicksal selbst gestalten wollten, und das konnte in ihrem Fall nur bedeuten: ihren Tod. Sie wollten, nein, bestanden darauf, die freie Wahl zu haben, die Art und Weise ihres Sterbens selbst zu bestimmen. Und wir dürfen nicht vergessen: Das Ghetto hat in der überwiegenden Mehrheit diese Entscheidung mitgetragen.

Natürlich hatten Mordechai Anielewicz, Marek Edelman und all die anderen Anführer des Aufstandes die Sehnsucht, dass ihr Kampf die Aufmerksamkeit der Welt auf das Schicksal der Juden lenkte. Dass die Welt sich endlich besinnen und gegen das sinnlose Morden entschiedener vorgehen würde. Die Welt sollte wissen, was Deutsche und ihre Helfershelfer mit dem jüdischen Volk taten. Die Welt sollte wissen, dass Deutsche den Genozid an den Juden vollbringen wollten. Heute wissen wir, dass diese Sehnsucht noch lange vergeblich blieb: Die freie, westliche Welt reagierte nicht auf die Informationen, die aus dem Warschauer Ghetto drangen. Sie reagierte auch nicht auf die Augenzeugenberichte des unvergesslichen Jan Karski, des Kuriers des polnischen Widerstandes, der sich mehrfach ins jüdische Ghetto hatte einschmuggeln lassen, um mit eigenen Augen zu sehen, welche Verbrechen die Deutschen an dem jüdischen Volk begingen.

Für uns Juden in der Diaspora, die wir durch Glück überlebt haben oder erst nach dem Krieg geboren wurden, sollte der Aufstand im Ghetto Warschau stets ein leuchtendes Vorbild sein. So wie Israel sich die kämpfenden Juden in den brennenden Häusern von Warschau zum Vorbild erkoren hat, so sollten auch wir dies tun, wenngleich wir keine Armee haben und wir - hoffentlich – nie mehr der Waffengewalt bedürfen.

Zumindest auf dem ersten Blick leben wir Juden heute in Europa unter geradezu paradiesischen Umständen: Wir sind überall freie Bürger. Wir sind per Gesetz allen anderen Bürgern gleichgestellt. Wir haben Religionsfreiheit. In den meisten Ländern Europas unterstützt der Staat jüdische Einrichtungen und Organisationen finanziell, und wir haben inzwischen überall in Europa Bewegungsfreiheit, d.h. um in der Sprache eines Überlebenden zu reden: Wir haben jederzeit die Möglichkeit, ein Land zu verlassen, wenn dies denn nötig wäre. So banal diese Tatsache den meisten von heute erscheint, in Zeiten der Shoah war dies unmöglich. Und vor noch nicht einmal zwei Jahrzehnten hatten die Juden im Osten Europas nicht so ohne weiteres die Möglichkeit zu fliehen, wenn ihnen der Antisemitismus in ihren Heimatländern kalt um die Ohren wehte.

Ja, wir leben in glücklichen Umständen und wir sollten uns nicht versündigen, in dem wir unsere Lebensumstände schlecht reden und uns einem Leidensdruck hingeben, der so nicht existiert. Allerdings – und das ist die Kehrseite der Medaille: Die Gegenwart ist für uns Juden in Europa nicht nur in Goldfarben zu sehen. Wir müssen leider auch ein Anwachsen antisemitischer Überfälle und Tätlichkeiten verzeichnen, wir müssen erleben, wie alte Vorurteile wieder die Runde machen, wir müssen zusehen, wie sich immer mehr antijüdisches Gedankengut in der Mitte der Gesellschaften breit machen darf und kann.

In Osteuropa geht der Antisemitismus einher mit einem neu aufkommenden Nationalismus in den endlich von der Unterdrückung durch die Sowjetunion befreiten Staaten. In Westeuropa erleben wir einen Antisemitismus, der sich gerne als Antizionismus tarnt und nicht selten mit dem arabischen Hass auf Israel und die Juden gemeinsame Sache macht.

Und wir erleben – das ist vielleicht das Schlimmste – Politiker, die immer wieder abwiegeln, die die Gefahr schönreden wollen, die den Mund halten. Wie in Frankreich etwa – weil sie Angst haben vor den muslimischen Gemeinden im eigenen Land, oder – wie in Ungarn zum Beispiel – weil sie ebenso antisemitisch denken wie diejenigen, gegen die sie eigentlich vorgehen müssten, weil sie die neue Demokratie gefährden.

Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges fühlen sich Juden in Europa so verunsichert. Und viele fragen sich, wie lange das noch gut gehen kann, wann denn die symbolische oder reale „Vertreibung aus dem Paradies“ beginnen könnte. Wir können diese Frage nicht beantworten und wir wollen sie auch nicht beantworten müssen. Darum geht es nicht. Darum kann es nie gehen, wie uns Mordechai Anielewicz und seine Gefährten gelehrt haben. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir Juden uns in Zeiten der Bedrohung verhalten.

Darin ist der Grund zu suchen, warum wir uns heute hier versammelt haben, um des jüdischen Aufstandes in Warschau vor 60 Jahren zu gedenken: Wie verhalten wir uns in Zeiten der Bedrohung?

Jede Zeit, jede Bedrohung verlangt ihre Form der Bekämpfung. Dieser ist eines stets gemeinsam: Der Widerstand, der Widerspruch. Lautstark und deutlich, ohne Kompromisse, ein In-Kauf-Nehmen aller Konsequenzen. Sich als Jude wehrhaft zeigen, mit Selbstachtung und Stolz, mit Mut und Ausdauer selbst dann, wenn von vorneherein klar ist, dass der Widerstand kein Happy End erfahren wird.

Immer noch gibt es Juden, die in einem alten Reflex verharren wollen: Nur nicht auffallen, nur nicht anecken - dann geschieht uns schon nichts. Die Shoah hat uns leider gelehrt, dass dieses Verhalten keinen Sinn mehr hat. Dass die Bedingungen des Judenhasses aber auch die modernen, technologischen Möglichkeiten der Vernichtung sich über das Beugen und Bücken hinwegsetzen. Und dass der menschliche Ethos in ein tiefes schwarzes Loch gefallen ist, aus dem er nie mehr hervorkriechen wird. Wer morden will, wird nie mehr Rücksicht nehmen. Das ist das Erbe von Auschwitz. Das Erbe des Warschauer Ghetto-Aufstandes ist jedoch, ein Zeichen dagegen zu setzen. Als Opfer, nein, als Jude das menschliche Antlitz bewahren, den menschlichen Ethos hochzuhalten, an den kaum jemand mehr glauben mag, an den sich kaum jemand mehr hält.

Hier schließt sich der Kreis: Sind die Juden durch die Emanzipation auch säkular geworden, haben damit begonnen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und sich über alle Regeln des jüdischen Lebens seit Jahrtausenden hinwegzusetzen, so wird hier im Ghetto-Aufstand trotz allem - oder gar erst Recht - ein altes, uraltes jüdisches Motiv sichtbar. Um in religiösen Begriffen zu sprechen: In dem versinkenden Chaos des Judenghettos von Warschau wird der Auftrag vom Berg Sinai auf moderne Weise wieder sichtbar: Wir Juden sind es, die das Wort Gottes und die Würde des Menschen auch in dunkelsten Zeiten bewahren müssen. Mordechai Anielewicz und seine Truppen haben bewusst oder unbewusst Gottes moralisches Gebot vom Berg Sinai auf ihre Weise neu interpretiert und in eine neue Form gegossen, die für die nichtjüdische Umwelt, in der wir seither leben, wohl die einzig verständliche Antwort auf ein uraltes Problem ist: Indem wir uns mit aller Kraft wehren, notfalls selbst mit Waffengewalt, halten wir an unseren göttlichen Auftrag, an unserer Bestimmung fest. Indem wir uns nie wieder freiwillig belästigen, benachteiligen, beleidigen, angreifen, prügeln, schlagen, vertreiben, töten, ermorden, vergasen lassen, beweisen wir der Welt, dass wir Juden sind und das Erbe unserer Vorfahren weiterhin wie eine leuchtende Fackel vor uns her tragen.

Es ist diese Verpflichtung, die wir als eine Art säkularen Auftrag von Warschau zu verstehen haben. Wir müssen uns immer wieder bewusst sein, dass jedes Schweigen, jedes Zurückweichen vor Angriffen gegen Juden ein Verrat an den Aufständischen des Warschauer Ghettos bedeutet. Keine Frage, eine solche Haltung fordert jedem einzelnen von uns viel Mut ab – doch wann war es jemals leicht, als Jude durchs Leben zu gehen? Und wir, die wir auch heute noch an unserem Glauben, unseren Riten, unseren Traditionen und unserer Kultur freiwillig festhalten, tun dies doch, weil wir an diese Werte glauben, weil sie uns lieb und teuer sind - nach der Shoah vielleicht noch mehr als zuvor. Indem wir uns zu ihnen bekennen, leisten wir bereits eine kleine Form des Widerstands. Nicht einmal Auschwitz hat uns davon abhalten können, weiterhin als Juden zu leben. Wir wissen spätestens seit 1945 für immer und ewig, welches Schicksal uns im schlimmsten Falle blühen kann – und doch entschieden wir uns gegen alle Vernunft, oftmals auch gegen den eigenen, verlorenen Glauben an Gott, unsere Identität nicht zu verleugnen.

Die Geschichte des Warschauer Ghettoaufstandes lehrt die nachfolgenden Generationen, den uralten Auftrag von Sinai neu zu deuten. Nur wenn wir das tun, bewahren wir Mordechai Anielewicz und seinen Kämpfern ein ehrendes Andenken. Am 23. April 1943 schrieb Anielewicz: „Mein Traum hat sich erfüllt. Es war mir vergönnt, den jüdischen Widerstand im Ghetto in seiner ganzen Größe und seinem Glanz zu sehen.“ Mögen wir alle gemeinsam daran arbeiten, diese Größe, diesen Glanz für alle Zeit zu bewahren.

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