25 Jahre LV Mecklenburg-Vorpommern



Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der Feierstunde anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern, am 29. April 2019 in Schwerin

Anrede,

heute ist wirklich ein freudiger Tag! Und zwar in doppelter Hinsicht: unser Landesverband Mecklenburg-Vorpommern besteht seit einem Vierteljahrhundert und hier in Schwerin können wir heute dieses wunderbare ehemalige Rabbinerhaus als Gemeindezentrum einweihen.

Ich gratuliere dem Landesverband und der Jüdischen Gemeinde Schwerin zu diesem Kleinod!

Weder die Bauzeit noch die Kosten sind trotz der umfassenden Sanierung aus dem Ruder gelaufen – wenn ich das in Berlin erzähle, dann würde mancher Ihren Architekten und Ihre Finanzplaner am liebsten sofort zum BER-Flughafen schicken!

Zwischen dem Rabbiner-Haus hier in Schwerin und dem Zentralrat der Juden in Berlin gibt es übrigens eine direkte Verbindung!

Denn einst lebte hier Rabbiner Samuel Holdheim. Der renommierte Gelehrte wurde nach seiner Station in Schwerin Rabbiner der jüdischen Reformgemeinde in Berlin. Dort war er maßgeblich an der Erbauung der Reformsynagoge in der Johannisstraße in Berlin-Mitte beteiligt.

Die Johannisstraße ist beim Zentralrat um die Ecke. Wir haben dort Büroräume und einen großen Tagungsraum, den einige von Ihnen sicherlich kennen. Auch die Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ ist dort untergebracht.

Und dort, wo einst die Reformsynagoge stand, war bis vor kurzem ein Parkplatz. Jetzt ist dort eine riesige Baugrube. Als die Bagger für den geplanten Hotel- und Bürokomplex anrückten, stießen sie auf Fundamente und Fußböden, die die Archäologen auf den Plan riefen. Sie hatten die Überreste der Reformsynagoge entdeckt.

Die Jüdische Allgemeine wiederum, die vom 5. Stock beste Aussicht auf die Baugrube hat, bemerkte sofort den Baustopp und recherchierte. Kurzum: Die Bauherren hätten keine Chance gehabt, ihren Fund zu verschweigen, um ungestört weiterbauen zu können. Denn ruckzuck war der Bericht über diesen kostbaren Fund schon in der Zeitung.

Als sich der Zentralrat der Juden entschied, die Sanierung des Rabbinerhauses hier zu unterstützen, war mir diese Verbindung durch Rabbiner Holdheim allerdings noch nicht klar.

Nein, es war keine Frage: Wenn es eine so einmalige Gelegenheit gibt, mitten im Stadtzentrum, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Synagoge ein Haus mit einer solchen Geschichte für die jüdische Gemeinde nutzbar zu machen und für die Stadt zu erhalten, dann ist das jede Mühe wert.

Im Namen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland möchte ich mich daher ganz herzlich für die großzügige Unterstützung bedanken bei der Hermann-Reemtsma-Stiftung, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Förderverein der Gemeinde.

Ich bin überzeugt, dass die neuen räumlichen Möglichkeiten dazu führen werden, dass Gemeindeleben noch aktiver zu gestalten und den Austausch mit den Bürgern der Stadt zu vertiefen.

Mir ist bekannt, dass es gerade von Ihnen, lieber Herr Rosov, als Gemeindevorsitzenden von Rostock, ein Anliegen ist, die jüdische Gemeinde als integralen Teil der Gesellschaft zu etablieren und gegenseitige Berührungsängste abzubauen.

Dieses Ziel kann ich nur unterstützen. Denn wenn ich generell auf die Entwicklungen in unserer Gesellschaft blicke, dann verstärkt sich der Eindruck, dass sich viele Menschen in die eigene Gruppe oder, wie es so schön heißt, in die eigene Blase zurückziehen.

Rechtspopulistische Parteien wie die AfD propagieren Abschottung und setzen sich damit auf diesen Trend, was ihn wiederum verstärkt.

Doch dieser Trend zum Abgrenzen und Ausgrenzen ist gefährlich!

Gerade wir Juden, die einst zu den Ausgegrenzten gehörten, haben für solche Tendenzen feine Antennen!

Ganz besonders gilt dies auch für die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die den weitaus größten Teil der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland stellen. Viele von ihnen hatten Diskriminierung in der Sowjetunion erfahren. Und als sie nach Deutschland kamen, stießen sie zum Teil auch auf Ablehnung und mussten sich ihr Standing erst erarbeiten.

Dass Menschen wie Herr Bunimov und Herr Rosov sowie unsere Gemeindemitglieder mit ausgestreckter Hand auf die nicht-jüdischen Bürger zugehen, ist also nicht selbstverständlich.

Mich freut es sehr, dass sich unsere Gemeinden seit 1990 so positiv entwickelt haben und heute in den Städten dazugehören. Der zentrale Standort der Jüdischen Gemeinde Schwerin steht geradezu symbolisch für diese Entwicklung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, ein respektvolles Miteinander, das von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung geprägt ist – das müssen wir uns immer wieder und in allen Generationen neu erarbeiten.

Allein ein Blick in die Schweriner Stadtgeschichte zeigt erschreckend klar, was durch Ausgrenzung in letzter Konsequenz passieren kann.

Im 18. Jahrhundert kamen die Schweriner Juden durch Silberhandel zu Wohlstand. Davon zeugt auch der Bau der Synagoge, die sehr kostbar ausgestattet gewesen sein muss. Bis in die 1920er Jahre hinein waren die Juden gut integriert. Mehrere große Geschäfte in Schwerin waren in jüdischem Besitz.

Doch so wie überall in Deutschland wendete sich das Blatt unter den Nazis. In der Pogromnacht 1938 wurde das Innere der Synagoge verwüstet. Jüdische Männer wurden verhaftet und nur mit der Auflage freigelassen, Deutschland sofort zu verlassen.

1942 mussten die noch in Schwerin verbliebenen Juden ihre Wohnungen räumen und wurden in Gebäuden der jüdischen Gemeinde am Schlachtermarkt untergebracht. Mitte Juli 1942 wurden sie deportiert, einige direkt aus Schwerin, die übrigen über Ludwigslust nach Hamburg. Von dort erfolgte ihr Abtransport nach Auschwitz. Zu den Deportationsopfern gehörte auch der letzte Kantor und Lehrer Leo Mann mit seiner Ehefrau.

Im November 1942 wurden die letzten Bewohner der sogenannten Judenhäuser am Schlachtermarkt - ausschließlich alte Menschen - nach Theresienstadt deportiert. Keiner dieser Deportierten hat überlebt. Mindestens 47 Juden Schwerins wurden Opfer der Schoa.

Es ist den Nazis zwar nicht gelungen, das jüdische Leben vollkommen auszuradieren. Doch der tiefe Einschnitt durch die Schoa ist auch gut 70 Jahre danach noch nicht überwunden und er wird es niemals sein.

Noch immer können wir nicht an die Vielfalt und Breite des jüdischen Lebens anknüpfen, wie es vor dem Krieg in Deutschland bestand. Ohne die Einwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gäbe es heute in vielen deutschen Städten gar keine jüdische Gemeinde mehr. Nur dank der Einwanderer konnten wir eine Infrastruktur aufbauen mit jüdischen Kindergärten, Schulen, Jugendzentren und Elternheimen. In Rostock wurde im vergangenen Jahr ein neuer jüdischer Friedhof eröffnet – auch dies ist ein wichtiger Bestandteil für eine Gemeinde.

Die Erinnerung an die Schoa begleitet jüdische Familien bis heute sehr stark. Auch wenn die Zahl der Menschen, die selbst in der Schoa gelitten haben, naturgemäß kleiner wird, so ist das Thema in der zweiten und dritten Generation weiter präsent. Die Kinder und Enkel der Überlebenden sehen sich in der Pflicht, die Erinnerung weiterzutragen, an die Stelle der Zeitzeugen zu treten. „Sachor“ – erinnere dich – dieses biblische Gebot wird in der jüdischen Gemeinschaft sehr ernst genommen.

Diese Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten, ist für die nicht-jüdische Gesellschaft ebenso wichtig. Auch hier ist der Einschnitt durch die Schoa nicht überwunden.

Wir müssen achtgeben, dass junge Leute die Schoa nicht mit der gleichen emotionslosen Distanz wahrnehmen wie etwa die Napoleonischen Kriege.

Für unsere Demokratie und den Zusammenhalt in unserer zunehmend heterogenen Gesellschaft ist es von entscheidender Bedeutung, dass junge Menschen ein solides Wissen über den Nationalsozialismus erhalten und Empathie für die Opfer entwickeln. Das eine geht nicht ohne das andere.

Daher halte ich Gedenkstättenbesuche während der Schulzeit für ungeheuer wichtig. An diesen authentischen Orten wird das historische Geschehen ganz anders greifbar als über ein Geschichtsbuch. Empathie mit den Opfern und Verantwortungsbewusstsein entstehen nicht anhand nackter Zahlen. Eine individuelle Auseinandersetzung mit der Nazizeit gelingt besser an den Orten, an denen die Verbrechen geschahen.

Auch für Schüler mit Migrationshintergrund finde ich solche Besuche in Gedenkstätten sinnvoll. Ich bin gar nicht pessimistisch, dass sich die Erinnerung an die Schoa nicht auch in einer Migrationsgesellschaft vermitteln lässt.

Unter den Migranten sind viele Menschen, die selbst Diskriminierung und Rassismus erlebt haben oder immer noch erleben. Es sind Menschen darunter, deren Familien aus ihrer Heimat fliehen mussten, Menschen, die in Diktaturen, in Flüchtlingslagern oder Armut gelebt haben. Warum sollten diese Menschen weniger in der Lage sein, Empathie für die Opfer der Schoa aufzubringen? Oder warum sollten sie weniger interessiert sein an der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Daher begrüße ich es sehr, dass die Bundesregierung das neue Programm „Jugend erinnert“ gestartet hat. Mit der finanziellen Förderung über das Programm werden Gedenkstättenbesuche von vielen 1.000 Jugendlichen ermöglicht.

Mindestens genauso wichtig ist in meinen Augen das zweite Standbein des Programms: die Lehrerausbildung. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat sich dafür ausgesprochen, KZ-Gedenkstättenbesuche verpflichtend in das Lehramtsstudium aufzunehmen. Das fordert der Zentralrat der Juden bereits seit längerem.

Denn wir brauchen bei Lehrern sowohl das Knowhow für Gedenkstättenbesuche mit Schulklassen als auch eine hohe Sensibilität für Antisemitismus. Denn leider finden wir Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen schon in den Schulen.

Wenn Schüler sich intensiv mit der Schoa auseinandergesetzt haben, können sie auf dieser Basis Respekt und Wertschätzung für andere entwickeln. Dann lernen sie, wie gefährlich es ist, sich ausschließlich in der eigenen Blase die Vorurteile über andere bestätigen zu lassen. Sie erkennen die Notwendigkeit, auf andere Gruppen zuzugehen und deren Bedürfnisse zu verstehen und zu akzeptieren.

Rostock und andere Orte in Mecklenburg-Vorpommern sind schlimme Beispiele für Ausländerhass und Ausschreitungen von Neo-Nazis geworden. Doch es gibt auch ein anderes Mecklenburg-Vorpommern – sonst säßen wir heute nicht hier.

Die Jüdischen Gemeinden in diesem schönen, norddeutschen Bundesland sind bereit, ihren Beitrag zu leisten, um die sympathische und weltoffene Seite von Mecklenburg-Vorpommern sichtbar zu machen. Denn wir sollten uns klar machen: Wenn wir Demokraten uns zusammentun gegen Abschottung und Ausgrenzung – dann sind wir in der deutlichen Mehrheit!

Vor rund zwei Wochen hat der hiesige Landtag mit großer Mehrheit beschlossen, einen Beauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus zu ernennen. Das begrüße ich sehr! Auf Bundesebene haben wir mit Dr. Felix Klein einen sehr kompetenten und engagierten Beauftragten. Und seine Kollegen in den Bundesländern stehen ihm in Nichts nach. Gerade auf regionaler Ebene bewegen sie viel. Ich hoffe, dass in nicht allzu ferner Zukunft das Amt des Antisemitismus-Beauftragten hinfällig wird, weil Judenhass keinen Platz mehr hat in diesem Land und weil jüdisches Leben als selbstverständlich erachtet wird. 

In diesem Bewusstsein wünsche ich viele schöne Begegnungen in diesem neuen Gemeindezentrum sowie dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern stets einen guten Rückhalt, einen fruchtbaren Austausch mit den Nachbarn und eine glückliche Zukunft in einem Jahrhundert, das hoffentlich von Toleranz und Respekt gekennzeichnet sein wird!

Ich danke Ihnen!

 

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