Grußwort zu Rosch Haschana
06. September 2018
Presseerklärung

Grußwort zu Rosch Haschana

Beschriftung:

An den Feiertagen im Herbst geht es mir in der Synagoge häufig so, dass ich an vergangene Jahre denken muss. An Feiertage, an denen ich selbst als Kind mit meinen Eltern in genau dieser Synagoge saß. An Feiertage, als unsere Kinder noch klein waren. Und jetzt kommen Jahre, in denen meine Enkel mehr und mehr bewusst diese Feiertage erleben werden.

Und bei diesen Gedanken stellt sich ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit ein. Würzburg ist mein Zuhause, nicht nur die Stadt, sondern vor allem die Gemeinde. Ich könnte mir vorstellen, dass es vielen von uns so geht. Gerade an Rosch Haschana, wenn man beim Besuch der Eltern wieder den G’ttesdienst in der alten Heimat-Gemeinde erlebt.

In jüngster Zeit hat sich jedoch beim ein oder anderen ein weiteres Gefühl eingeschlichen. Es ist ein Gefühl, das wir versuchen, schnell wegzudrängen. Doch es schleicht sich immer wieder an: Es ist eine leise, nagende Unsicherheit. Eine Beunruhigung, die in uns die Frage auslöst: Ist Deutschland wirklich noch ein sicheres Zuhause?

Dieses nagende Gefühl sorgt dafür, die Halskette mit dem Davidstern unterm Pullover verschwinden zu lassen. Es sorgt dafür, unseren Kindern einzuschärfen, die Basecap über der Kippa zu tragen oder das Israel-T-Shirt nicht in der Schule anzuziehen.

Nun sind Vorsichtsmaßnahmen dieser Art nicht neu. Auch den Polizeischutz an unseren Einrichtungen gibt es seit Jahrzehnten. Das Gefühl der Bedrohung ist dennoch ein anderes geworden. Es ist stärker als früher. Und beängstigender.

Das ist nicht verwunderlich. Das ganze Jahr 5778 über haben uns Nachrichten begleitet, die dieses Gefühl genährt haben: Mobbing und körperliche Übergriffe gegen jüdische Schüler, Angriffe gegen Juden auf der Straße und auf Gemeinden wie jüngst wieder in Gelsenkirchen,  eine Bundestagswahl, die eine radikale Partei ins Parlament gebracht hat mit Politikern, die den Nationalsozialismus relativieren und Opfer der Schoa verhöhnen, ein massiver Antisemitismus in den sozialen Medien.

Als Zentralratspräsident haben mich diese Themen dauernd beschäftigt. Sie erfüllen auch mich mit großer Sorge. Aber: Sie beherrschen nicht den Alltag! Es wäre wenig hilfreich, die Lage schönzureden. Ich plädiere jedoch für einen nüchternen und umfassenden Blick auf die Realität.

Zu dieser Realität gehören auch folgende Nachrichten: Zwar erhielt die AfD bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent der Stimmen. Doch etwas mehr als 82 Prozent wählten die anderen im Bundestag vertretenen Parteien.

Oder: Bei Neonazi-Aufmärschen in Berlin und Göttingen versammelten sich im August rund 700 Teilnehmer. Zu den Gegendemonstrationen kamen etwa 4.000 Menschen.

Die KZ-Gedenkstätten und jüdischen Museen vermelden seit Jahren und auch für 2017 steigende Besucherzahlen.

Tausende nicht-jüdische Bürger setzten sich aus Solidarität eine Kippa auf.

Nach dem Scheibeneinwurf in der Gelsenkirchener Synagoge erhielt die Gemeinde zahlreiche Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung.

Solche Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Sie gelangen meistens nicht in die Schlagzeilen. Doch erst mit ihnen ergibt sich das vollständige Bild.

Und ich könnte zahlreiche Beispiele aus der jüdischen Welt hinzufügen: eine Jewrovision im Februar in Dresden mit Teilnehmerrekord, den Spatenstich für einen Jewish Campus in Berlin, ein erweitertes Jüdisches Museum in Fürth oder eine neue jüdische Grundschule in Berlin.

Sehen wir das vielleicht viel zu wenig? Das jüdische Leben entwickelt sich weiter, und die deutliche Mehrheit unserer Gesellschaft ist demokratisch und lebt die Werte des Grundgesetzes. Es ist nur eine Minderheit, die an diesen Grundfesten rüttelt.

Es liegt auch in unserer Hand, diesen Minderheiten den Boden zu entziehen. Toleranz darf es weder für Rechtspopulisten geben, die bewusst Unsicherheit schüren, um ihre Politik der Ausgrenzung und Spaltung umsetzen zu können. Noch für Muslime, die unsere Werte ablehnen und Spielregeln nicht einhalten.

Daher werden wir uns weiterhin aktiv für die Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen einsetzen, sei es in den Schulen oder in den Integrationskursen.

Daher gibt es für uns keine Kompromisse mit der AfD. Das alle Demokraten einigende Ziel muss es bleiben, dass die AfD wieder von der Bildfläche verschwindet.

Komfortabel ist die Lage derzeit wahrlich nicht. Sie ist aber auch nicht so schlecht, wie manche es uns einreden wollen oder sie auf den ersten Blick scheint.

Traditionell ziehen wir an den Feiertagen Bilanz. Wir hinterfragen selbstkritisch unser Handeln. Ganz unterschiedliche Gefühle werden dabei wach. Angst sollte nicht das beherrschende Gefühl sein. Sondern Vertrauen in ein Land mit einer gefestigten demokratischen Gesellschaft.

Ich wünsche Ihnen allen, dass sich an den Feiertagen im Kreis Ihrer Familien, Ihrer Freunde und Ihrer Gemeinde ein Gefühl der Zufriedenheit und Zuversicht einstellt, so dass Sie gestärkt ins neue Jahr 5779 aufbrechen können!

Schana Towa umetuka,

Ihr Dr. Josef Schuster

Weitere Presseartikel

21.05.2025
Presseerklärung
Kampagne gegen Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen
Zentralrat steht zu 100 Prozent hinter Philipp Peyman Engel.
20.05.2025
Presseerklärung
Politisch motivierte Kriminalität 2024
Statement von Dr. Josef Schuster zur BMI Statistik
14.05.2025
Presseerklärung
Verbot von "Königreich Deutschland"
Dr. Josef Schuster, zum Verbot Reichsbürger-Gruppierung „Königreich Deutschland“: „Das Verbot des sogenannten "Königreichs Deutschland" ist ein starkes Signal ...
12.05.2025
Presseerklärung
Gründung JE3-Allianz
Große jüdische Gemeinschaften in Westeuropa gründen neue JE3-Allianz
12.05.2025
Presseerklärung
60 Jahre Deutsch-Israelische Beziehungen
Statement Dr. Josef Schuster zum Doppelbesuch von Israels Präsident Herzog und Bundespräsident Steinmeier
11.05.2025
Presseerklärung
Linkspartei gegen die IHRA-Definition
Die Linke zeigt, wo sie steht - und das ist nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die IHRA-Definition ist die geeignetste Form, antisemitische Handlungen und Äußerungen zu identifizieren
09.05.2025
Presseerklärung
Margot Friedländer
Statement Dr. Josef Schuster zum Tod von Margot Friedländer
07.05.2025
Presseerklärung
Press Release J7 Report
The rate of antisemitic incidents per Jewish capita has reached alarming levels, underscoring the increased vulnerability of Jewish communities globally. In Germany, there were more than 38 antisemitic incidents for every 1,000 Jewish residents in 2023. The U.K. followed with 13 incidents per 1,0...
02.05.2025
Presseerklärung
Verfassungsschutz stuft gesamte AfD als gesichert rechtsextremistisch ein
„Wir warnen seit Langem vor der AfD als parlamentarischem Arm der erstarkenden extremen Rechten in Deutschland. Sie bietet Antisemiten, Nationalisten und Demokratiefeinden eine politische Heimat.
02.04.2025
Presseerklärung
75 Jahre im Einsatz für Demokratie
Alt-Bundespräsidenten Gauck und Wulff würdigen die Arbeit des Zentralrats
28.03.2025
Presseerklärung
Statement zum Al-Quds-Tag
Ich rufe alle muslimischen Verbände auch im Sinne ihrer eigenen Glaubwürdigkeit dazu auf, sich aktiv gegen diesen Missbrauch ihres Glaubens zu positionieren. Jeder weiß, was von Al-Quds-Märschen zu erwarten ist, sie sollten verboten werden.
26.03.2025
Presseerklärung
Tiefpunkt deutscher Außenpolitik
Dr. Josef Schuster im Tagesspiegel:  „Die Bundesrepublik Deutschland hat mich enttäuscht, was ihr öffentliches Eintreten bezüglich des Schicksals der Hamas-Geiseln angeht.
22.02.2025
Presseerklärung
Statement Dr. Schuster zur Bundestagswahl 2025
Der heutige Wahlabend lässt eine schwierige Regierungsbildung erahnen. Ich appelliere an alle handelnden Personen, sich ihrer Verantwortung für eine stabile Regierung bewusst zu sein.
13.02.2025
Presseerklärung
Statement zum Start der 61. Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2025
Dr. Josef Schuster: „Als wohl wichtigste internationale Konferenz über globale Sicherheitspolitik, müssen die MSC 2025 und die dort versammelten Entscheider eine klare Haltung ...
09.02.2025
Presseerklärung
Tachles Pur
Pünktlich zur Bundestagswahl 2025 haben wir alle Interviews unserer Reihe „Tacheles Pur“ abgeschlossen – und jetzt sind sie online! In unseren exklusiven Video-Interviews beantworten die Spitzenkandidaten Friedrich Merz (CDU/CSU), Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Olaf Scholz (SPD) und Chris...
03.02.2025
Presseerklärung
Statement zur Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz
Dr. Josef Schuster: „Der Verlust des Willens zum Konsens der politischen und parlamentarischen Mitte in diesem Land beunruhigt mich zutiefst.
27.01.2025
Presseerklärung
80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz
Es ist nie Routine, wenn wir am 27. Januar der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedenken. Doch gerade in diesem Jahr, 80 Jahre nach der Befreiung, muss uns die Erinnerung an diesen so schwer fassbaren Ort, der für das Unbegreifliche der Schoa steht, noch nachdenklicher machen als ohne...
22.01.2025
Presseerklärung
"Tachles Pur" – Junge politische Perspektiven zur Bundestagswahl 2025
Am 11. Februar um 19:00 Uhr diskutieren wir in Kooperation mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) über junge politische Perspektiven zur Bundestagswahl 2025.
Nach oben scrollen