Grußwort von Außenminister Heiko Maas
19. Juni 2018
Presseerklärung

Grußwort von Außenminister Heiko Maas

 

 

 

Grußwort von Außenminister Heiko Maas

anlässlich der Rabbinerordination
in Berlin am 08.10.2018

 

— ACHTUNG: SPERRFRIST 09.10. UM 11 UHR!!! —

 

 

– es gilt das gesprochene Wort –

 

 

Sehr geehrter Herr Dr. Schuster,

lieber Michael [Müller],

Ambassador Lauder,

Rabbi Ehrentreu,

Rabbi Spinner,

sehr geehrter Herr Dr. Rubin,

sehr geehrte Rabbiner Kahanovsky, Ponomarow und Sajatz, liebe Kantoren Adler, Chauskin und Burstein,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

vielleicht erinnern Sie sich noch: Als vor fast 30 Jahren die ersten Computer in die Büros einzogen – mit ein bisschen Verzögerung auch in jene von Ämtern und Behörden – wie groß war da der Aufschrei!

Menschen, die sich nicht an die neue Entwicklung gewöhnen wollten, sperrten sich mit Händen und Füßen dagegen.

 

Spätestens als dann das Internet dazu kam und die E-Mail das Fax ablöste und Suchmaschinen aufwendige, analoge Recherchen ersetzten, mussten sich selbst beharrlichste Technik-Verweigerer der digitalen Revolution beugen.

 

Die Schreibtischarbeit, wie die Menschen sie bis dahin kannten, es gab sie nicht mehr. Es war für alle, für den 18-jährigen Auszubildenden genauso wie für die 55-jährige Abteilungsleiterin, an der Zeit etwas Neues zu lernen. Und sie alle haben gelernt.

Man stelle sich nur mal vor, was in den Büros los wäre, würde man die Computer wieder wegnehmen.

 

Wenn ich das so erzähle, renne ich damit hier wahrscheinlich offene Türen ein. In kaum einer anderen Religion hat das Lernen einen so hohen Stellenwert wie im Judentum. Jüdinnen und Juden hatten das Konzept des „lifelong-learning“ bereits verinnerlicht, lange bevor es beim Rest der Welt ankam.

Lernen fängt für sie nicht erst in der Schule an. Und es hört auch nicht mit dem Studienabschluss auf. Wie wichtig es im Judentum ist zeigt schon die Tradition, dass gerade das jüngste Kind bei einem Seder die zentralen vier Fragen zu den Ritualen stellen darf.

In einem deutschen Sprichwort heißt es: „Lernen hat bittere Wurzel, aber trägt süße Frucht“. Wahrscheinlich würden Sie widersprechen, was die Bitterkeit der Wurzel angeht. Die süßen Früchte des Lernens, wollen wir heute aber gemeinsam ernten.

 

Als künftige Rabbiner kommt Ihnen als Lehrende eine besondere Verantwortung zu. Sie sind gefordert, in Ihren Gemeinden die Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen und so anzuleiten, dass sie durch kritisches Hinterfragen etwas erfahren.

 

Ich bin sicher, dass Sie das Rabbinerseminar Berlin in exzellenter Weise auf diese Aufgabe vorbereitet hat!

 

Alle drei Rabbiner, die wir heute in ihr Amt entlassen dürfen, haben zwei Gemeinsamkeiten in ihren Lebensläufen: sie wurden alle drei in der Ukraine geboren und haben sich zu längeren Lehraufenthalten in Israel aufgehalten.

 

International denken, unterschiedliche Kulturen verstehen, immer wieder neue Perspektiven einnehmen – das bringen Sie für Ihre Arbeit mit. Würden Sie nicht an künftigen Wirkungsstätten so dringend gebraucht, ich wäre glatt versucht, Sie für das Auswärtige Amt abzuwerben.

 

Aber natürlich werden Sie auch in Ihren Gemeinden diese Fähigkeiten gut einbringen können – schließlich geht es dort ebenfalls um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung.

Über welchen Erfahrungsschatz wir im Bereich Migration und Integration bereits verfügen, ist vielen gar nicht bewusst – er ist mitten in unseren jüdischen Gemeinden!

 

Meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, dass wir heute die sechste Ordination von Rabbinern des Rabbinerseminars Berlin nach dessen Wiedergründung feiern und zum ersten Mal auch in Berlin.

 

Gleichzeitig dürfen wir auch drei Absolventen des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie Leipzig in ihre Tätigkeit entlassen. Ihre Stimmen werden ganz sicher über die Grenzen ihrer künftigen Gemeinden hinaus klingen.

Heute dürfen wir Ihnen hier, in einer der letzten noch erhaltenen privaten Hofsynagogen Berlins lauschen.

 

Das ist wirklich etwas Besonderes. Dass die Beth Zion Synagoge in der Nacht vom 9. November 1938 zwar geplündert, aber nicht in Brand gesetzt wurde, verdankt sie wahrscheinlich ihrer versteckten Hinterhoflage.

 

Die Novemberpogrome von 1938 bildeten den Übergang von Ausgrenzung und Entrechtung der Juden zu ihrer systematischen Verfolgung und Vernichtung. Sie waren der Auftakt zur Shoah, dem unfassbarsten Menschheitsverbrechen der Geschichte.

 

Dass in Berlin, dem Ort, an dem Deportationen und Vernichtung geplant und beschlossen wurden, heute wieder die größte jüdische Gemeinde Deutschlands lebt, ist ein Geschenk für uns – ein unverdientes Geschenk. Es ist aber auch ein Vertrauensvorschuss für  unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie.

 

Mit allen Kräften müssen wir dieses Geschenk bewahren. Mit allen Kräften müssen wir dieses Vertrauen verteidigen.

 

80 Jahre nach der Pogromnacht ist das leider wieder so nötig wie schon lange nicht. Es erschaudert mich, wenn ich sehe, dass Hitlergruß und Hassparolen sich wieder auf unseren Straßen breit machen. Und geistige Brandstifter Menschen anderer Herkunft oder anderen Glaubens ihre Menschenwürde absprechen. Ich finde das unerträglich!

 

Das können und dürfen wir nicht hinnehmen. Gemeinsam müssen wir unsere Freiheit und unsere offene Gesellschaft verteidigen. Politik und Zivilgesellschaft sind gefordert, sich Antisemitismus, Hass und jeder Form von Rassismus entschieden entgegenzustellen und für Menschenrechte, Toleranz und Verständigung einzutreten.

 

Unsere Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen, sie endet nie.

 

Die heute ordinierten Rabbiner und Kantoren werden keine leichte Aufgabe haben. Sie werden in ihren Gemeinden mit dazu beitragen, dass Deutschland nach wie vor ein lebenswerter Ort für Jüdinnen und Juden ist. Lassen wir sie nicht allein und unterstützen sie nach Kräften!

 

Für Ihre künftigen Aufgaben wünsche ich Ihnen von Herzen Glück und Segen!

 

 

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