Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen
28. April 2025
Rede

Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Foto: IMAGO / epd
Foto: IMAGO / epd

Ansprache des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, 27. April 2025.

 

[Anreden],

und ganz besonders: Sehr geehrte Schoa-Überlebende; Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, dessen Befreiung durch die britische Armee wir heute gedenken – 80 Jahre danach.

 

Was bleibt von diesem Tag? Einem Tag, der weniger eine Befreiung im wörtlichen Sinne war, sondern mehr ein Moment der absoluten Leere angesichts schrecklichen Bilder, die wir mit ihm verbinden. 80 Jahre nach dem Grauen der Schoa droht der Blick auf die Geschichte zu verblassen.

 

Wir erleben tagtäglich Relativierungen dieses unvorstellbaren Verbrechens; auch in deutschen Parlamenten. Der Gedanke ist für mich kaum erträglich, sollten diese Träger revisionistischen Gedankenguts einmal in politische Verantwortung kommen.

 

Von einer anderen Seite wird indes versucht, Geschichte umzudeuten. In einem fehlgeleiteten Universalismus verhaftet werden gerade Jüdinnen und Juden immer mehr ausgeblendet. Die Vernichtung der Juden, die im Wahn der Täter zentral war, zerfasert in der Erinnerung unserer Gesellschaften zunehmend. Das gilt auch für das Land der Täter, für Deutschland.

 

Dabei stehen wir 80 Jahre nach der Schoa an einer Wegmarke unserer Erinnerungskultur. Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland? Was bedeutet es in einer Zeit, in der wir immer weniger Zeitzeugen der Schoa erleben? Was bedeutet es in einer Zeit, in der immer mehr Menschen in Deutschland keinen familiären Bezug zur NS-Zeit haben?

 

Für mich persönlich, als Mitglied der zweiten Generation von Schoa-Überlebenden und Opfern, sind das auch schmerzliche Fragen. Wir sind aufgewachsen in dem Glauben an eine Gesellschaft und eine Bundesrepublik Deutschland, die sich dem Schrecken und der unmenschlichen Grausamkeit der Schoa immer bewusst sein wird; und daraus Konsequenzen zieht.

 

Doch eine steigende Indifferenz hat Folgen: 10 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat noch nie von der Schoa gehört – sie kennen auch den Begriff Auschwitz nicht –, 40 Prozent wissen nicht, dass etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden in der Schoa ermordet wurden, 15 Prozent sind der Meinung, dass es weniger als zwei Millionen waren. Das bedeutet, dass ein großer Teil der jungen Generation in Deutschland völlig unwissend auf diese Zeit blickt.

 

Solche Entwicklungen machen deutlich: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte wird politisch umkämpft. Und sie wird umso angreifbarer, je weniger Menschen noch selbst bezeugen können, was geschehen ist.

 

Nutzen wir also auch die Möglichkeiten der digitalen Entwicklung und erreichen auch damit mehr junge Leute. Zeitzeugengespräche können digitalisiert werden, wir können an den authentischen Orten – den KZ-Gedenkstätten – mit digitalen Modellierungen die Dimension dieses Menschheitsverbrechens sichtbar machen. Dabei muss immer gelten: Der Respekt vor den Opfern der Schoa ist handlungsleitend bei der Nutzung und Entwicklung jeder neuen Technologie und KI generierter Inhalte zur Darstellung der Schoa.

 

Doch eine Resignation kommt nicht in Frage: Erinnern heißt nicht nur bewahren – erinnern heißt auch widersprechen und handeln, wenn Geschichte verzerrt wird. Erinnern bedeutet sich der Frage zu stellen, wie der Mensch dem Menschen so etwas antun konnte. Und ganz einfach immer und immer wieder zu erzählen was passierte. Die Schoa ist ein Bruch. Der Zivilisationsbruch.

 

Das geht uns alle an. Der Akt des Erinnerns war über lange Zeit sehr einsam: Bis 1978 wurde der Jahrestag des Pogroms am 9. November nur von Juden gedacht. Der Kampf gegen die vorherrschende Schlussstrich-Mentalität der Nachkriegsjahre wurde in erster Linie von Überlebenden und ihren Nachkommen ausgetragen. Ich möchte nicht wahrhaben, dass wir wieder auf dem Weg in diese Zustände sind.

 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

 

Weitere Reden

20.03.2025
Rede
Feierliche Enthüllung der Gedenktafel am Standort des ehemaligen Logenhauses von B’nai B’rith in Berlin
Rede von Dr. Josef Schuster
20.01.2025
Rede
„Jüdisches Leben in Deutschland – Was tut die Politik?“
Grußwort Dr. Josef Schuster, Veranstaltung „80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, 19.1.2025
13.11.2024
Rede
Begrüßung Verleihung Leo-Baeck-Preis 2024
Dr. Josef Schuster, 13.11.2024 in Berlin
09.10.2024
Rede
Gedenkveranstaltung der Stadt Halle 9. Oktober
Rede Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
06.10.2024
Rede
Ansprache Dr. Josef Schuster „Run for their lives“ am 06.10.2024, München
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
27.09.2024
Rede
Grußwort Dr. Josef Schuster, Neue Dimensionen des Judenhasses
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
04.07.2024
Rede
EINWEIHUNG MILITÄRRABBINAT UND ÜBERGABE DER TORA
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
04.07.2024
Rede
FEIERLICHE ERÖFFNUNG DES NEUEN SYNAGOGENZENTRUMS POTSDAM
Ansprache des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster anlässlich der Eröffnung des neuen Synagogenzentrums in Potsdam.
05.06.2024
Rede
VIZEPRÄSIDENT ABRAHAM LEHRER AUF DER FACHTAGUNG „NICE TO MEET JEW“
„Die Begegnung war wirklich toll, aber beim nächsten Mal hätten wir lieber einen orthodoxen Juden da.“
06.05.2024
Rede
REDE ZUR GEDENKFEIER DER BEFREIUNG DES KZ DACHAU
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der Gedenkfeier des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern anlässlich des 79. Jahrestags der Befreiung des KZ Dachau, Dachau, 5.5.2024
12.04.2024
Rede
GRUSSWORT DR. JOSEF SCHUSTER, PRÄSIDENT ZENTRALRAT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND, BR-ERINNERUNGSPROJEKT „DIE RÜCKKEHR DER NAMEN“, 11. APRIL 2024 IN MÜNCHEN
Grußwort Dr. Schuster, in München
21.02.2024
Rede
STELLUNGNAHME DANIEL BOTMANN IM FACHGESPRÄCH
Stellungnahme Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Fachgespräch „Aktivitäten der Bundesregierung zur Förderung jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus im Kulturbereich“ des Ausschusses für Kultur und Medien des Bundestags am 21.02.2024
16.12.2023
Rede
GALA-ABEND AUF DEM GEMEINDETAG 2023
Ansprache Dr. Josef Schuster, 16.12. in Berlin
19.11.2023
Rede
VOLKSTRAUERTAG AUF DEM JÜDISCHEN FRIEDHOF IN WÜRZBURG
Ansprache Dr. Josef Schuster zum Volkstrauertag auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg, 19.11.2023
10.11.2023
Rede
ZENTRALE GEDENKVERANSTALTUNG 85. JAHRESTAG DER REICHSPOGROMNACHT
Ansprache Dr. Josef Schuster - Zentrale Gedenkveranstaltung 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Beth Zion Synagoge in Berlin
15.09.2023
Rede
GRUSSWORT ZUR VERANSTALTUNG ZUM 20-JÄHRIGEN BESTEHEN DER BERATENDEN KOMMISSION NS-RAUBGUT
Grußwort zur Veranstaltung zum 20-jährigen Bestehen der Beratenden Kommission NS-Raubgut vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, am 14. September 2023, Jüdisches Museum Berlin
09.06.2023
Rede
EVANGELISCHER KIRCHENTAG
Impulsvortrag Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf dem Evangelischen Kirchentag zum Thema „Antisemitismus- geht mich das was an?“, 9. Juni 2023 in Nürnberg
11.05.2023
Rede
ERÖFFNUNG MIQUA WANDERAUSSTELLUNG
Rede von Abraham Lehrer, Eröffnung MiQua Wanderausstellung in Vogelsang, 11. Mai 2023.
Nach oben scrollen