Fremde Federn 
18. Juli 2018
Presseerklärung

Fremde Federn 

Beschriftung:

Am kommenden Mittwoch geht ein historisches Kapitel zu Ende: Mit dem Urteil im NSU-Prozess ist die juristische Aufarbeitung der ersten rechtsextremistischen Terroristenvereinigung, die es in Deutschland gab, abgeschlossen.

Ein zufriedenes Aufatmen dürfte es – egal, wie das Urteil ausfällt – weder bei den Beteiligten noch bei den Prozessbeobachtern geben. Und ob dieses Urteil in der Gesellschaft überhaupt nachhaltige Wirkung entfacht, ist völlig offen.

Der Prozess, der sich über fünf Jahre hingezogen hat, hat auch verdeutlicht, wo der Rechtsstaat an seine Grenzen stößt: Wenn die Angeklagten mauern und wie Beate Zschäpe die Aussage fast komplett verweigern, wenn dazu auch noch die beteiligten Behörden offenbar mehr unter den Teppich kehren, um das eigene Versagen zu kaschieren, als aufzuklären, dann bleiben viele Fragen offen.

Daher wird das Urteil für die Angehörigen der zehn Opfer der NSU-Mordserie nur bedingt Erleichterung bringen. Abgesehen von dem Verlust, den sie erlitten haben, haben sie durch den Prozess ein fünfjähriges Martyrium hinter sich. Fünf Jahre, in denen sie sich das Geschehen immer wieder ins Bewusstsein holen mussten, in denen sie sich die nationalsozialistische Gesinnung mancher Angeklagter und Anwälte anhören mussten, vor allem aber fünf Jahre, in denen ihre drängendste Frage nicht beantwortet wurde: Warum wählte der NSU ausgerechnet jene zehn Menschen für seine Anschläge aus?

Die juristische Aufarbeitung wird morgen abgeschlossen, die gesellschaftliche muss weitergehen. Es formieren sich bereits Gruppen, die am Mittwoch unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ demonstrieren wollen.

Die Schlussstrich-Debatte kennen wir bislang nur in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf die Schoa. Es ging dabei sowohl um die Strafverfolgung der Täter – und es ist gut und richtig, dass sie bis heute fortgesetzt wird – und die Würdigung und Entschädigung der Opfer als auch um die intellektuelle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen.

Stets rühmte sich Deutschland für seine zwar ziemlich verspätete, aber gründliche Aufarbeitung der dunklen Kapitel der eigenen Geschichte. Heute, rund 80 Jahre danach, haben wir allen Anlass zu fragen: Ist die Aufarbeitung wirklich geglückt? Ist sie so gelungen, dass auch die nachwachsenden Generationen ausreichende Kenntnisse über die NS-Zeit haben, um das Geschehen einordnen zu können und Empathie mit den Opfern entwickeln zu können?

Angesichts der Verbrechen des NSU und der wachsenden rechtsextremistischen Szene in Deutschland plus der Wahlerfolge der AfD kann die Gesellschaft diese Fragen nicht mehr mit einem selbstgefälligen Ja beantworten.

Daher darf unter das Kapitel NSU ebenso wenig ein Schlussstrich gezogen werden wie unter die NS-Verbrechen. Kenner der rechtsextremistischen Szene sprechen mittlerweile von einer Parallelwelt, die sich gebildet hat. Sie sehen deutliche Schnittmengen zwischen der NPD und der AfD. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich zwar gegen ein Verbot der NPD ausgesprochen, der Partei aber eindeutig eine nationalsozialistische Weltanschauung attestiert. Das Ideal eines „reinrassigen“ Deutschlands ohne Ausländer, ohne Muslime und ohne Juden ist noch immer in vielen Köpfen vorhanden. Und nicht nur bei jenen Neonazi-Typen, die in Springerstiefeln auf Demos dumpfe Parolen brüllen. Die Ideologie findet sich auch bei rechtsextremistischen Thinktanks. Von dort nimmt sie ihren Weg über die AfD in unsere Parlamente und über die sozialen Medien in viele Schichten der Gesellschaft, die früher für Rechtsextremisten kaum erreichbar waren.

Die Verbrechen des NSU blieben unter anderem deshalb so lange unentdeckt und völlig falsch eingeordnet, weil die Verfassungsschutzämter seit den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 stark auf islamistischen Terrorismus konzentriert sind.

In der Politik findet das Gleiche statt: Die Debatte fokussiert sich auf radikale Muslime und Flüchtlinge. Andere wichtige Politikfelder sind auf gefährliche Weise aus dem Blickfeld geraten. Der Rechtsextremismus gehört definitiv dazu. Ihn und seine parlamentarischen Ausläufer zu bekämpfen, gelingt nur durch eine klare Distanzierung, nicht durch Nachahmung. Es ist eine große Aufgabe, die vor Politik und Gesellschaft liegt. Das juristische Kapitel NSU wird morgen geschlossen. Das nächste Kapitel ist bereits geöffnet. Die Geschichte ist nicht zu Ende.

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

FAZ 10.07.18 

 

 

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