DIE „VORBEHALTSFILME“ – ÜBER DEN UMGANG MIT DEM „BRAUNEN“ ERBE
06. Dezember 2017
Rede

DIE „VORBEHALTSFILME“ – ÜBER DEN UMGANG MIT DEM „BRAUNEN“ ERBE

Beschriftung:
Anrede,

 

herzlich willkommen bei der Tagung „Die Machtergreifung der Bilder – Der Nationalsozialismus im Film“.

In den kommenden Stunden und Tagen werden Sie sich Filme zu Gemüte führen, die wahrlich nicht „vergnügungssteuerpflichtig“ sind.

Mit der heute beginnenden Tagung des Zentralrats der Juden in Deutschland widmen wir uns einem Thema, das in der Öffentlichkeit immer wieder hochumstritten und heiß umkämpft ist, nämlich der grundsätzlichen Frage: Wie gehen wir mit dem „braunen“ Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus‘ heute um?

Wie wir wissen, spielte der Film für die Propaganda im Nationalsozialismus eine ganz zentrale Rolle. Aber die Diskussion über den Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe betrifft nicht nur das Thema Film, es betrifft generell all jene Hinterlassenschaften des sogenannten „Dritten Reiches“, die in der einen oder anderen Weise die Zeit überdauert haben.

Die Debatten darüber, wie mit diesem Erbe zu verfahren ist, führen nicht selten zu heftigen öffentlichen Streitgesprächen, die außerordentlich kontrovers geführt werden. Dies gilt sowohl für die Debatten innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft – als auch für die Diskussionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.

Ich erinnere hier nur an die zurückliegenden Debatten um die Publikation von Hitlers „Mein Kampf“, bei der man sich nach langen Diskussionen und harten Kämpfen auf die Herausgabe einer wissenschaftlich kommentierten Ausgabe geeinigt hat.

Ich erinnere auch an die mehr als lebhafte Debatte um das Projekt „Zeitungszeugen“. Hierbei handelte es sich um thematisch gebündelte Nachdrucke von Zeitungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, darunter das NSDAP-Blatt „Völkischer Beobachter“, die vom Londoner Verlagshaus Albertas Limited produziert wurden und in der Folge an jedem Bahnhofskiosk zu finden waren.

Nicht selten, meine Damen und Herren, wird der Zentralrat der Juden in Deutschland entweder in den Abstimmungsprozess zu derartigen Vorhaben einbezogen, mindestens aber um eine entsprechende Stellungnahme gebeten.

So positiv dies grundsätzlich ist, kann man sich ab und zu allerdings nicht des Eindrucks erwehren – und das gestehe ich hier ganz offen –, dass der Zentralrat lediglich dazu instrumentalisiert werden soll, dem jeweiligen Projekt den notwendigen „Kosher-Stempel“ zu verleihen.

Wirklich spannend wird es dann, wenn diese Absicht scheitert. Scheitert, weil die jüdische Perspektive auf den Nationalsozialismus verständlicherweise eine völlig eigene ist.

Mag es auch „die“ jüdische Perspektive ebenso wenig wie „die“ nichtjüdische Perspektive auf den Umgang mit dem braunen Erbe geben, so blicken Juden auf das für sie mörderische NS-System auch in den nachfolgenden Generationen aus einer Perspektive der Betroffenheit und dem Wissen darum, wie schnell sicher geglaubte Räume plötzlich zu existentiell bedrohlichen Räumen werden und ganze Gesellschaften plötzlich kippen und zu Diktaturen werden können.

Im Zusammenhang mit der Diskussion um den künftigen Umgang mit den sogenannten „Vorbehaltsfilmen“ hat mich immer wieder die Selbstgewissheit manch eines Kulturschaffenden erstaunt, mit der ein nahezu unkommentierter Zugang zu nationalsozialistischer Propaganda für eine breite Öffentlichkeit gefordert wird.

Eine Selbstgewissheit, die die Fundamente unserer Demokratie für ebenso unumstößlich hält wie den tiefen Glauben an eine von der überwiegenden Mehrheit in Deutschland geteilten Wertegemeinschaft.

Ich teile diesen Glauben, meine Damen und Herren, nicht. Nicht in Form einer a priori gesetzten unumstößlichen Gewissheit.

Wir haben heute mehr Indizien denn je, daran zu zweifeln, dass die Fundamente dieser demokratischen und in ein geeintes Europa eingebetteten deutschen Demokratie unumstößlich sind. Dafür sind die zunehmenden Aggressionen an den politischen Rändern (und übrigens nicht nur dort) unserer Gesellschaft ein mehr als deutliches Indiz.

Ebenso wie die Tatsache, dass wir nunmehr eine Partei wie die AfD in 14 von 16 Länderparlamenten sowie mit über 90 Abgeordneten im Deutschen Bundestag zu sitzen haben. Eine Partei, die ganz offen eine erinnerungspolitische Wende zu ihrem Programm erhoben hat. Und das, meine Damen und Herren, ist kein „tagespolitischer Aufreger“, sondern fester strategischer Bestandteil der Programmatik dieser Partei und ihrer Anhänger.

In meiner Funktion als Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland erhalte ich wöchentlich besorgte Anrufe von Mitgliedern in Beiräten von Gedenkstätten, von Repräsentanten von Demokratieprogrammen oder von Menschen, die in den Gremien der Landeszentrale für politische Bildung aktiv sind, die mich fragen, wie sollen wir denn jetzt mit dem aggressiven Wind umgehen, der uns dort entgegenwehen wird? Wie können wir verhindern, dass der erinnerungspolitische Konsens, den wir in dieser Republik erreicht haben, nicht wieder zurückgedreht wird?

Das, meine Damen und Herren, sind die Fragen, die mich beschäftigen. Wie können wir noch innovativer über den Nationalsozialismus in den Schulen aufklären? Wie können wir dem Unwissen über die jüdische Gemeinschaft begegnen? Wie können wir dem grassierenden Hass gegen Juden und Israel bekämpfen? Wie können wir sicher sein, dass jene, die aus Not zu uns kommen, nicht das antisemitische Erbe ihrer jeweiligen Heimat mit sich tragen?

Der Antisemitismus, meine Damen und Herren, war nie weg. Es gab keine Stunde Null nach 1945!

Darum heißt es, wachsam bleiben, die Mechanismen begreifen lernen, die zu dem größten Menschheitsverbrechen geführt haben, und das „Nie wieder“ zur Maxime unseres Handelns zu machen. Dafür gibt es andere Wege, als den Markt mit Nazipropaganda-Filmen aus der Mottenkiste der Geschichte zu fluten.

Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, ist es sinnvoll und richtig, dass die sogenannten „Vorbehaltsfilme“ das bleiben, was sie sind. Dass sie auch künftig im „politischen Giftschrank“ bleiben und lediglich im pädagogisch begleiteten Rahmen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Der Zentralrat der Juden hat diese Haltung in seinen Gremien einstimmig beschlossen, und ich bin sicher, wenn Sie die Filme aus der NS-Zeit und ihre demagogisch-perfide Inszenierung auf sich haben wirken lassen, werden Sie zu einem ähnlichen Ergebnis kommen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine spannende Tagung!

 

Weitere Reden

20.03.2025
Rede
Feierliche Enthüllung der Gedenktafel am Standort des ehemaligen Logenhauses von B’nai B’rith in Berlin
20.01.2025
Rede
„Jüdisches Leben in Deutschland – Was tut die Politik?“
Grußwort Dr. Josef Schuster, Veranstaltung „80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, 19.1.2025
13.11.2024
Rede
Begrüßung Verleihung Leo-Baeck-Preis 2024
Dr. Josef Schuster, 13.11.2024 in Berlin
09.10.2024
Rede
Gedenkveranstaltung der Stadt Halle 9. Oktober
Rede Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
06.10.2024
Rede
Ansprache Dr. Josef Schuster „Run for their lives“ am 06.10.2024, München
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
27.09.2024
Rede
Grußwort Dr. Josef Schuster, Neue Dimensionen des Judenhasses
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
04.07.2024
Rede
EINWEIHUNG MILITÄRRABBINAT UND ÜBERGABE DER TORA
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster
04.07.2024
Rede
FEIERLICHE ERÖFFNUNG DES NEUEN SYNAGOGENZENTRUMS POTSDAM
Ansprache des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster anlässlich der Eröffnung des neuen Synagogenzentrums in Potsdam.
05.06.2024
Rede
VIZEPRÄSIDENT ABRAHAM LEHRER AUF DER FACHTAGUNG „NICE TO MEET JEW“
„Die Begegnung war wirklich toll, aber beim nächsten Mal hätten wir lieber einen orthodoxen Juden da.“
06.05.2024
Rede
REDE ZUR GEDENKFEIER DER BEFREIUNG DES KZ DACHAU
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der Gedenkfeier des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern anlässlich des 79. Jahrestags der Befreiung des KZ Dachau, Dachau, 5.5.2024
12.04.2024
Rede
GRUSSWORT DR. JOSEF SCHUSTER, PRÄSIDENT ZENTRALRAT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND, BR-ERINNERUNGSPROJEKT „DIE RÜCKKEHR DER NAMEN“, 11. APRIL 2024 IN MÜNCHEN
Grußwort Dr. Schuster, in München
21.02.2024
Rede
STELLUNGNAHME DANIEL BOTMANN IM FACHGESPRÄCH
Stellungnahme Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Fachgespräch „Aktivitäten der Bundesregierung zur Förderung jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus im Kulturbereich“ des Ausschusses für Kultur und Medien des Bundestags am 21.02.2024
16.12.2023
Rede
GALA-ABEND AUF DEM GEMEINDETAG 2023
Ansprache Dr. Josef Schuster, 16.12. in Berlin
19.11.2023
Rede
VOLKSTRAUERTAG AUF DEM JÜDISCHEN FRIEDHOF IN WÜRZBURG
Ansprache Dr. Josef Schuster zum Volkstrauertag auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg, 19.11.2023
10.11.2023
Rede
ZENTRALE GEDENKVERANSTALTUNG 85. JAHRESTAG DER REICHSPOGROMNACHT
Ansprache Dr. Josef Schuster - Zentrale Gedenkveranstaltung 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Beth Zion Synagoge in Berlin
15.09.2023
Rede
GRUSSWORT ZUR VERANSTALTUNG ZUM 20-JÄHRIGEN BESTEHEN DER BERATENDEN KOMMISSION NS-RAUBGUT
Grußwort zur Veranstaltung zum 20-jährigen Bestehen der Beratenden Kommission NS-Raubgut vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, am 14. September 2023, Jüdisches Museum Berlin
09.06.2023
Rede
EVANGELISCHER KIRCHENTAG
Impulsvortrag Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf dem Evangelischen Kirchentag zum Thema „Antisemitismus- geht mich das was an?“, 9. Juni 2023 in Nürnberg
11.05.2023
Rede
ERÖFFNUNG MIQUA WANDERAUSSTELLUNG
Rede von Abraham Lehrer, Eröffnung MiQua Wanderausstellung in Vogelsang, 11. Mai 2023.
Nach oben scrollen