DIE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN KÖNNEN WERTE WIE RESPEKT NEU MIT LEBEN FÜLLEN
31. Mai 2016
Rede

DIE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN KÖNNEN WERTE WIE RESPEKT NEU MIT LEBEN FÜLLEN

Beschriftung:
Grußwort des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, beim Auftakt zum Projekt „Weißt du, wer ich bin?“, 31.5.2016, Berlin

„Wer fragt, ist unwissend für einen Augenblick. Wer nicht fragt, bleibt unwissend für immer.“ Dieser Ausspruch stammt von Raschi, Rabbiner Schlomo ben Jitzchak, einem der wichtigsten und anerkanntesten Rabbiner aus dem 11. Jahrhundert.

Wir setzen heute – rund 900 Jahre später – ein erfolgreiches Projekt fort, das diesen Gedanken aufgreift: „Weißt du, wer ich bin?“ fragen wir, wir, die drei großen Weltreligionen. Es gibt derzeit viel Anlass, diese Frage wieder in den Raum zu stellen. Denn wieder gibt es politische Debatten, in denen vor einer angeblichen Überfremdung Deutschlands gewarnt wird. Der Islam wird als Ganzes zum Fremden erklärt.

Dieser Ausgrenzung setzen wir ganz bewusst unsere interreligiöse Kooperation entgegen. Bei uns, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, gab es daher kein Zögern, erneut bei diesem Projekt mitzuwirken.

Ich danke der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen sehr, dass sie die Initiative für diese Neuauflage ergriffen hat. Und ich danke ebenso den Vertretern der anderen Religionsgemeinschaften und dem Bundesinnenministerium für ihr Mitwirken und ihre Unterstützung!

Die zahlreichen Initiativen, die sich im Foyer präsentieren und sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Kommen heute Abend in so großer Zahl signalisieren uns: Es war richtig und notwendig, das interreligiöse Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ wieder aufleben zu lassen!

So drängend wie lange nicht stellt sich derzeit die Frage neu, wie wir in dieser pluralistischen und multi-religiösen Gesellschaft friedlich zusammenleben können. So drängend wie lange nicht steht unsere Gesellschaft vor einer Selbstvergewisserung: Welche Werte sind uns wichtig? Wovon lassen wir uns leiten?

Gerade die Religionsgemeinschaften in diesem Land sind gefordert, bei der Suche nach Antworten vorauszugehen. Wenn wir an einem Strang ziehen, können Christen, Juden und Muslime mäßigend auf die Gesellschaft wirken und Werte wie Respekt und Solidarität – oder nennen wir es ruhig Nächstenliebe – neu mit Leben erfüllen.

In einem Land, das viele, viele neue Bürger aus anderen Kulturkreisen integrieren muss, in einem Land, in dem eine Partei sich aufschwingt, bestimmen zu wollen, welche Religion dazugehört und welche nicht, in einem Land, in dem nicht nur Asylbewerberheime, sondern auch Gotteshäuser angegriffen werden – in einem solchen Land sind gemeinsame Projekte wie „Weißt du, wer ich bin?“ bitternötig.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

unsere Initiative wäre aber nur eine leere Hülle, wenn es nicht die vielen Menschen gäbe, die vor Ort unsere Idee in die Tat umsetzen. Auch die kleine jüdische Gemeinschaft ist seit dem vergangenen Jahr verstärkt in der Flüchtlingshilfe aktiv. Sie treffen auf dem „Markt der Möglichkeiten“ im Foyer auf Projekte der Synagogengemeinde Köln, der Jüdischen Gemeinde Bremen und der Freunde der Synagoge Fraenkelufer hier in Berlin. Daneben können Sie auch die Ehrenamts-Initiative des Zentralrats der Juden, den Mitzvah Day, kennenlernen, der 2015 ganz im Zeichen der Flüchtlingshilfe stand.

Ich nenne hier die jüdischen Initiativen. Damit will ich aber die christlichen und muslimischen Projekte nicht weniger würdigen. Es sind Tausende von ehrenamtlichen Helfern, von Freiwilligen, von engagierten Bürgern, die jeden Tag Brücken bauen. Dafür gebührt Ihnen allen ganz ausdrücklich unsere Anerkennung und unser Dank!

Sie überschreiten Grenzen und manchmal Gräben. Sie müssen auch die eigenen Vorurteile beiseite schieben und oft genug sich sogar für ihr Tun rechtfertigen. Sie begegnen Skepsis und Ängsten.

Es geht uns bei der Neuauflage des Projekts „Weißt du, wer ich bin?“ vor allem um die Flüchtlingshilfe. Es geht aber darüber hinaus auch um interreligiöse Begegnung.Und Projektmitarbeiter der vergangenen Jahre berichten immer wieder, dass sie es vor allem mit Unwissenheit zu tun haben. Unwissenheit auf allen Seiten übrigens. Jeder hier im Raum, mich eingeschlossen, kann sich selbstkritisch fragen: Was weiß ich über Gebete in der jeweils anderen Religion? Welche Feste feiern die anderen eigentlich? Und was bedeuten diese Feste?

Wenn sich heutzutage bei Umfragen herausstellt, dass selbst in Deutschland, einem durch und durch christlich geprägten Land, die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr weiß, was der Karfreitag bedeutet, dann zeigt das, wie schlecht es um das religiöse Wissen hierzulande bestellt ist.

In einer solch unwissenden Bevölkerung haben es rechtspopulistische Parteien viel leichter, Ressentiments zu schüren. Es wird auch leichter, Menschen auszugrenzen. Wenn wir jedoch einander kennen, wenn – um unser Motto aufzugreifen – aus Fremden Freunde werden, dann fallen Vorurteile wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Oft wird uns auch erst in der Begegnung mit dem Anderen bewusst, wie sehr wir in Klischees gedacht haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe mein Grußwort mit dem Zitat eines jüdischen Gelehrten begonnen. Ich will mit Worten eines muslimischen Intellektuellen schließen, nämlich mit Nagib Mahfuz:

„Ob ein Mensch klug ist, erkennt man an seinen Antworten. Ob ein Mensch weise ist, erkennt man an seinen Fragen.“

In diesem Sinne wünsche ich unserem Projekt eine erfolgreichen Verlauf und allen Teilnehmern bereichernde Erfahrungen – sowie viele neue Fragen!

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