„DER SCHMERZ IST NICHT IN WORTE ZU FASSEN“
07. September 2017
Rede

„DER SCHMERZ IST NICHT IN WORTE ZU FASSEN“

Beschriftung: Foto: Christian Rudnik
„Ich erzähle von Auschwitz, Warschau, Dachau, ohne mich von dem Ungeist von Auschwitz beherrschen zu lassen, indem ich versuche Brücken zu bauen zwischen Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern, mit je unterschiedlichem Hintergrund, über alle politischen und religiösen Hindernisse hinweg.“

Diese Worte stammen von Max Mannheimer sel. A. Er sprach sie am Holocaust-Gedenktag 2015, vor dem Bayerischen Landtag. Max Mannheimer überlebte die Konzentrationslager Dachau und Auschwitz. Er setzte sich zeit seines Lebens dafür ein, die Erinnerung wachzuhalten und Brücken zu bauen. Im vergangenen Jahr ist er für immer von uns gegangen.

Heute stehen wir hier, vor den Überresten des Konzentrationslagers Dachau. Nur Stunden, nachdem wir den Erinnerungsort für die israelischen Sportler eingeweiht haben, die 1972 von palästinensischen Terroristen ermordet wurden. Die israelischen Sportler nahmen an den Olympischen Sommerspielen in München teil. Ein Turnier, bei dem es nicht nur ums Kräftemessen und Gewinnen ging, sondern auch darum, Brücken zu bauen. Brücken der Freundschaft, des Respekts und des gegenseitigen Verständnisses.

Hier, in der Jüdischen Gedenkstätte des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, kamen vor 45 Jahren einige dieser israelischen Athleten zusammen. Sie standen hier und gedachten der sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden. Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass diese Sportler – nur wenige Tage später – selbst ihr Leben lassen würden. Ermordet von Terroristen.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident Rivlin, ich möchte Ihnen für Ihren Besuch von Herzen danken. Mir ist bewusst, dass Ihr Aufenthalt in Deutschland nur von kurzer Dauer ist. Es bedeutet der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sehr viel, dass Sie der Opfer der Schoa hier in Dachau gedenken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich stehe hier als Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Bayern und in Deutschland, aber auch als Sohn und Enkel jener, die hier inhaftiert waren. Denn unter den 200 000 Inhaftierten waren mein Vater David und mein Großvater Julius sel. A. Beide wurden 1938 verhaftet und ins KZ Dachau deportiert.

Ich erinnere mich sehr deutlich an meinen ersten Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Es war im Jahr 1962. Ich war acht Jahre alt. Mein Vater nahm mich mit und erklärte mir sehr behutsam, was hier geschehen war. Er zeigte mir auch die Baracke Nummer Vier. Es war seine Baracke gewesen. Meine Reaktion war deutlich. Ich sagte: „Ich will hier wieder weg.“ Immer und immer wieder. So erzählten es mir meine Eltern Jahre später. Aber ich kehrte zurück. Immer und immer wieder.

Mein Vater und mein Großvater wurden damals ins KZ Buchenwald deportiert. Glücklicherweise kamen sie 1939 frei und konnten nach Palästina emigrieren. Die Nazis interessierten sich für ein Hotel, das meiner Familie gehörte und sich in einem kleinen Ort in Unterfranken befand. Mein Großvater überschrieb das Hotel an die Nazis unter der Bedingung, dass meine Familie Deutschland verlassen konnte. Nur so konnten sie sich retten.

Doch nur wenigen gelang es, der Mordmaschinerie zu entfliehen. Der Schmerz, den der Verlust unserer sechs Millionen Brüder und Schwestern bedeutet, ist nicht in Worte zu fassen. Sie alle haben einen festen Platz in unseren Herzen. Wir werden sie nie vergessen.

Hier im jüdischen Mahnmal führt die Rampe in die schwarze Tiefe. Doch am tiefsten Punkt des Mahnmals brennt das Ner Tamid – das ewige Licht. Möge es uns stets an die sechs Millionen Brüder und Schwestern erinnern, die wir verloren haben. Möge die Flamme erstrahlen für Max Mannheimer und all die Überlebenden, die ihre Geschichte mit uns geteilt und Brücken der Versöhnung gebaut haben. Möge ihr Licht uns Kraft spenden, die Arbeit der Überlebenden fortzuführen und die gebauten Brücken nicht einreißen zu lassen.

Ich möchte hier noch einmal Max Mannheimer zitieren, der sagte: „Persönlich bin ich von dem Erlebten in Auschwitz geprägt. Von Verfolgung, Ausgrenzung, Lebensverachtung, Vernichtung und Verlust ist mein Leben gezeichnet, aber nicht bestimmt worden. Es gab und gibt immer ein Davor und ein Danach.“

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